Einstürzende Gedankengänge

Text
Aus der Reihe: Mord und Nachschlag
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

4

Black-out. Sturz.

Muss wohl, wird wohl. Das begreifst du erst jetzt, wo das Licht zurückkehrt, punktweise, Lichtflocken durch deinen Kopf tanzen lässt. Lichtspieltheater isländisch. Fast wie die Sonne, die in den Frühlingstagen deiner Kindheit durch die Baumkronen des Mattheiser Walds gegenüber sickerte und ein Lichtschattenlichtspiel auf den Boden der Küche zauberte.

Scheiße, das Kinn, ein einziger brennender Schmerz. Aber als du’s vorsichtig am Ärmel vorbeistreichen lässt, siehst du, dass es kaum blutet. Und die Zähne, jetzt merkst du erst, dass der ganze Kiefer schmerzt, die Schneidezähne, als hätte dir einer mit dem Hammer unter’n Unterkiefer gezimmert. Du hast keine Ahnung, aber allzu viele Zähne können nicht mehr fest in ihrer Verankerung sitzen. Du tastest sie vorsichtig mit der Zunge ab und jaulst bei jeder Berührung auf. Eins ist klar: Es hat dich richtig übel erwischt. Dein ganzer Kopf rumort. Und dann wird dir übel, dir wird speiübel, so was von ...

- . -

5

»Die Fingerabdrücke am Trinknapf des Jungen, das stimmt alles. Und die Umrisse des blauen Flecks auf seinem Rücken decken sich genau mit der Hand der Mutter.«

Deine Assistentin redet und redet. Textet sämtliche Löcher in deinem Kopf zu. Der Redeschwall genau deckungsgleich mit den Löchern in diesem Schweizer Käse, der sich Hirn nennt. Da redet eine auf dich ein, quasselt, als wenn sie’s bezahlt be... Redet, redet, und du hast alle Mühe, deinen Gedanken von grade festzuhalten. Dass der dir nicht zerfleddert, wo du dabei bist. Und je mehr du deinen Gedankenfaden festhalten willst, je dichter du dich für das Gequatsche deines Gegenübers machst, desto mehr öffnet sich deine Faust und lässt den roten Faden rauskauen. – Erst sind sie festgefroren, die Gedanken, durchstochen von glasscharfen Kristallen, kleben unter der Schädeldecke wie Eiszapfen und knirschen eiskalt. Und wenn du sie anpacken willst, zu fassen versuchst, gehen sie dir durch die Lappen, schmelzen weg, lösen sich auf, sind plötzlich Luft, heiße Luft. War da nicht was, worüber du dich tierisch aufgeregt hast? Zwei Tage her vielleicht. Irgendwas, wo dir die Mahnemann in die Parade gefahren ist, dich irgendwie vollstoff ausgebremst hat. Und dir ist, als hättest du mal wieder recht gehabt, so was von recht gehabt, aber ... aber du weißt verdammt nicht mehr, worum es ...

»In welchem Film sind Sie grade, Sheriff? Wissen Sie, wovon ich rede? Ich meine das tote Kellerkind von vorgestern. Sie hatten mir doch aufgetragen, ich soll noch mal hin zu der Mutter. Fingerabdrücke, Speichelprobe, das ganze Programm. Gesagt, getan. Und die im Labor sind jetzt durch damit. Die Indizienlage ist ziemlich eindeutig. Und die Todesurache ist jetzt auch klar: Lungenentzündung.«

»Hab ich’s doch gewusst«, antwortest du und kommst zurück ins Hier und Jetzt gestolpert, »hab ich die ganze Zeit gesagt, dass es diese so genannte Mutter war. Dass die ihr Kind auf dem Gewissen hat. Mord durch unterlassene Hilfeleistung. Aber wollten Sie ja nichts von wissen, Sie mit Ihrer braven Beamtenvorsicht.«

»Aber ...«

»Sei’s drum; Ei drüber. Also – dann müssen wir die ja jetzt bloß noch bisschen in die Enge treiben und zugucken, wie das Geständnis aus ihr raussprudelt.«

»Gehe ich verschärft von aus«, nickt Kollegin Mahnemann eifrig, offenbar froh, dass der ermittelnde Hauptkommissar Dollinger doch nicht so ganz neben der Kapp’ steht und außerdem nicht sonderlich nachtragend ist, »die endgültige Überführung dürfte für Sie bloß ’n Kinderspiel sein.«

»Was für Kinder?«

»Kinder?«

»Mir war, als hätten Sie grade was von Kindern gesagt.«

Die hat doch was von Kindern gesagt. Scheiße, dir war tatsächlich, als habe die Mahnemann grade irgendwas von Kindern erzählt.

»Sheriff, Sie kommen mir irgendwie so durch ’n Wind vor.«

Und da ist er wieder. Plötzlich ist der Gedanke wieder da und das Pack-Ende. Jetzt bloß nicht wieder aus den Fingern gleiten lassen!

»Ach, bloß Kopfschmerzen, Barbara. Rasende Kopfschmerzen, die werd ich nicht mehr los. Seit, was weiß ich, zwei vollen Tagen mindestens.«

»Seit wir an dem neuen Fall dran sind, kann das sein?«

»Kann hinkommen. Verflucht, ja, da können Sie wahrhaftig recht haben. Seit diesem jämmerlich umgekommenen Knirps. – Mahnemannsche, hab ich schon gesagt, wie wir jetzt hier weitermachen?«

»Nee.«

»Aha.«

- . -

6

»Kopfschmerzen, als wenn mir einer mit der Brechstange die Schädeldecke aufhebeln wollte, ganz langsam. Und der gibt immer mehr Druck drauf. Das lähmt einen; ein Irrsinn ist das.«

»Wie war noch mal Ihr Name?«

»Dollinger. Tom Dollinger.«

»Eine Namensamnesie also noch nicht.«

»Eine was?«

»Wenn Sie also mal ganz tief in sich hineinhorchen, was richtet das alles in Ihnen an?«

»Sag ich ja, ich kriege überhaupt keine Entscheidung mehr hin, von der ich auch nach drei Minuten noch überzeugt bin. Was das für meinen Job bedeutet, brauch ich Ihnen ja wohl nicht auseinanderzuklamüsern.«

Und du brauchst ja wohl noch weniger auseinanderzuklamüsern, was das für eine Überwindung kostet, überhaupt auf die Idee zu kommen, dich an einen Seelenklempner ... das erste Mal in deinem Leben, dass du zu diesem Strohhalm greifst. Muss es dir schon verflucht scheiße gehn, wenn du dich zu so was ... Gut nur, dass es hier so ’ne Trulla vor Ort gibt. Seit ein paar Jahren hier im Präsidium. Und trotzdem kennt die dich kaum. Gut so.

Aber jetzt weiter im Text. Wenn du dich schon mal drauf eingelassen hast, dann musst du da auch durch. Also gib ihr Text: »Außerdem tauchen im Tagesablauf immer wieder so total merkwürdige Zeitlöcher auf.«

Sofort regnet ein warmer Regen auf dich herab. Zephirleise gesäuselte Sätze flattern mit Schmetterlingsflügeln von der Kanzel herab, lassen sich bassbaritonweich irgendwo in deinen Gehörgängen nieder. – Achtung, alter Knabe, aufgepasst, dass die dich nicht um ’n Finger wickelt, dich nicht bei Hammelbeinen kriegt, von deren Existenz du gar nichts weißt, nichts wusstest, woran du aber auf jeden Fall nicht gepackt werden willst. Entscheidend ist, dass DU derjenige bist und bleibst, der die eigenen Marionettenfäden in der Hand hält. DU und kein anderer. Und keine andere schon gar nicht.

»Zeitlöcher, als würden einzelne Minuten, manchmal auch Stunden oder sogar halbe Tage von einem kosmischen Black-Hole verschluckt«, rieselt es verständnisvoll auf dich herab.

»Halbe Tage nicht, so weit ist es noch nicht.«

»›So weit ist es noch nicht‹, Sie glauben also, Herr Dollinger, es könnte durchaus so weit kommen!«

»Außerdem ist da ewig diese Angst, ich könnte irgendwie nicht mehr funktionieren können. Das ist Terror!« Genauso Terror wie diese beknackte Couch, auf der du’s dir hast »gemütlich« machen sollen. Gemütlich, das ist ja wohl ’n Witz. Du hast schon lang nicht mehr auf so’m ungemütlichen Ding gelegen. Erinnert dich verdammt an deinen Urologen. Der hat auch so ’n knochenhartes Teil, da aber dann noch strafverschärfend mit Kunstleder überzogen. Dass man’s anschließend, wenn einer bei der Untersuchungsprozedur nicht ganz dicht gehalten hat, problemlos abwischen kann. Da lob ich mir doch hier den Baumwollstoff, oder was das ist. Aber von der gemütlich einfühlsamen Sorte jedenfalls ist das Ding nun wahrlich nicht. Meilenweit entfernt von einer Knautsch-Couch. Vielleicht ist das Gerät auch aus gutem Grund nicht so ganz der Gipfel der Bequemlichkeit. Damit nicht einer auf die Idee kommt, sich wirklich gemütlich darauf einzurichten. Damit man’s flugs hinter sich bringen will und nicht vergisst: Das hier ist Arbeit. Das Verfertigen der Gedanken beim Reden erleben und erleiden, ist alles andre als ein Kinkerlitzchen. Das ist ernst hier, so richtig ernst, Dollinger, hier geht’s um deinen verdammten verqueren Schädel, Mann! Hier geht’s um deinen Arsch.

Wie dem auch immer sei, es hilft alles nichts, du musst was vorlegen, musst dem Tiger was anbieten zum Zerfleischen. »Diese Angst, ich weiß nicht, dass man die Abläufe nicht mehr hinkriegt, den Tagesablauf, die Ermittlungsabläufe, egal was, also das ist wie eine Prügelstrafe, ohne dass ich wüsste, was ich ausgefressen hab.«

»Aber dass Sie was ausgefressen haben, das scheint Ihnen plausibel. Dass die Strafe also nicht ganz unberechtigt ist, auch wenn Sie nicht wissen weshalb.«

»Ganz die Psychologin!«, konterst du und bist total überrascht, dass du doch noch fähig bist, einen senkrechten Gedanken zu fassen. Und dein aufmüpfiges Maul ist auch noch nicht ganz verstummt. Grund zum Jubeln, findest du.

»Was lachen Sie?«, ist die Wernigge gleich wieder zur Stelle.

»Sorry. Dabei ist mir nicht im Entferntesten nach Lachen zu Mute. Ein einziger Horror, mein Leben zur Zeit, alles enorm anstrengend, jeder Tag, jede Stunde. Und keine halbe Woche her, da war alles noch ganz klipp und ganz klar strukturiert, alles hatte hieb- und stichfeste Konturen. Ich war ein verflucht guter Polizist, wissen Sie.«

»Und jetzt gerät alles ins Schwimmen. Nicht wahr?«

Das gerät jetzt alles … Dir gerät jetzt alles irgendwie ins Schwimmen.

- . -

7

Wie ihr – du warst sechs, vielleicht auch erst fünf, wahrscheinlich fünf, in der Schule jedenfalls warst du noch nicht, definitiv nicht – wie deine Eltern und du also mit diesem beigefarbenen Käfer ... du erinnerst dich noch genau an den Geruch, wirst du dein Leben lang in der Nase haben, hast nie wieder in einem Auto gesessen, dessen rostbraun feuchtigkeitsfleckiger Himmel einen derart warmen, derart heimeligen Geruch verströmte ... wie ihr im Käfer durch die Nacht gefahren seid. Dir wollten die Augen ständig zufallen. Der aufs Blech prasselnde Regen und der monoton vor sich hin jaulende Scheibenwischer taten ein Übriges. Das Einzige, was dich wach hielt, war das permanente Gezeter deiner Eltern. Aber auch wieder nicht permanent genug, um dich in den Schlaf zu singen. Mal flüsterten sie fast, und im nächsten Moment schlugen die Wellen hoch, brandeten mit wüstem Getöse gegen die Windschutzscheibe, wurden von dort zurückgeworfen und erwischten dich volle Breitseite, während du mutterseelenallein auf der Rückbank kauertest.

 

»Kannst du vielleicht mal ’n bisschen mehr auf die Tube drücken? Ist ja zum Kotzen, die Kriecherei«, mokierte sich deine Mutter.

»Kannst du vielleicht mal nicht wegen jedem Scheiß sofort diesen Ätzton anschlagen!«, rumpelte dein Vater zurück. Aber da war das Maß schon voll. Du spürtest dieses irgendwie rote Britzeln unter den Augenlidern, das dich unweigerlich zwang zu zwinkern, diesen salzigen Geschmack, der langsam aus irgendeiner Mundhöhle oder was oder wo angekrochen kam, den ganzen Mundraum ausfüllte und sich pelzig auf der Zunge niederließ, bevor dich endlich die Tränen überrollten, die dann schon wie eine Erlösung wirkten und sich mit den immer neu rüberschwappenden pechschwarzen Elternstreitwellen mischten. Um das Ungemach nicht noch zu vergrößern, versuchtest du, möglichst leise zu wimmern. Am liebsten ganz klein sein, am liebsten gar nicht da sein.

»Und dann noch vor Tom! Musst du mich vor dem Kind so bescheuert runtermachen? Außerdem, falls du’s noch nicht bemerkt haben solltest, es regnet! Und hier ist Tempo 70 bei Nässe«, sagte dein Vater mit beschwörend leiser Stimme.

»Mann Dollinger, du bist einfach ’n Zwangscharakter. Mitten in stockdustrer Nacht und hier oben in der Pampa, am Arsch der Welt, hier ist doch kein Schwein unterwegs um die Zeit. Geschweige denn ein Bullenkommando. Himmel noch mal, protestantisches Beamtensöhnchen! Du bist genau einer von der Sorte, die vor der Revolution dem Straßenbauamt Schadensersatz dafür anbieten, dass der Demonstrationszug beim Vorüberlatschen die Pflastersteine abnutzen wird. Anstatt die Dinger einfach rauszureißen. Spießig bis dorthinaus. Revisionistisch!«

Das reichte. Reichte deinem Vater. Voll und ganz. An deinem eigenen Wimmern vorbei hörtest du, wie mit einem Mal der Motor des guten alten Käfers aufheulte, lauter als du selbst. Und du bekamst mit, natürlich bekamst du mit, wie es auf einmal ganz anders ruckelte, wie deine Sitzbank anfing zu zittern und zu beben, wie’s unter deinen Fußsohlen rumorte. Wie ein Brecher Spritzwasser nach dem andern gegen die Karosserie schlug, wie die Reifen auf der regennassen Fahrbahn schlitterten.

Deine Mutter sagte nichts mehr. Dein Vater sowieso nicht, der bohrte den Blick durch die Windschutzscheibe in die schwarze Nacht, verfolgte mit hin und her wiegendem Kopf den Straßenverlauf. Und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Wie sich plötzlich das Schlittern völlig anders anhörte. Du wusstest nicht wieso, aber irgendwie hörte dein Wimmern auf, die Tränen flossen noch, aber deine Stimme – einfach weg. Vom Erdboden versch... – die Reifen hatten das Jaulen übernommen – jetzt war auch, jetzt war auf einmal auch das Motorgetöse stumm – und das Jaulen fing an zu heulen – und alles, alles, jetzt kam alles durcheinander, alles drehte sich, wirbelte im Kopf. Dann nur noch dieses Krachen! Und der endlose Radau danach. Blechgebrüll um die Ohren, untern Füßen dumpfes Dröhnen, klirrende Glassplitter tanzten durch die Luft. Dann war es genauso plötzlich still. Eine ewige Sekunde lang totenstill. Du hörtest nur deine Stimme, die ohne Kraft und ohne Anstrengung einfach nur vor sich hin brabbelte, irgendwas, sinnlose Wörter wimmerte, die Tränen zählte, die mit den Regentropfen zusammen herabrannen: die einen das Gesicht runter, die andern das Seitenfenster.

Wie sich irgendwann mitten in die irgendwie fremde Jammermusik, die aus dir hervorquoll, die Stimme deines Vaters einblendete. Ganz langsam, ganz leise, von weit weg: »Tom?«

Aber du konntest nicht antworten. Nicht mal ein Ja brachtest du raus. Deine Stimme konnte die Jammermusik einfach nicht abstellen. War der seidene Faden, an dem dein Leben hing. Jede noch so winzige Unterbrechung hätte bedeutet, der Faden ist gekappt. Hast deine Stimme also weitermachen lassen, hast sie tränengurgelnd winseln lassen – ganz automatisch, hast nichts dazu beisteuern müssen.

Und wie du plötzlich wieder so ’n blechernen Radau hörtest. Drehtest den Kopf ein paar Millimeter, bis es anfing wehzutun im Hals; aber’s reichte, um aus den Augenwinkeln zu sehn, wie sich dein Vater ächzend und unter Aufbietung aller ihm zu Gebote stehenden Kräfte gegen die verkeilte Fahrertür warf. Wie er drückte, presste, schob und zog ... und tatsächlich, irgendwann sprang die Tür knarzend auf, und dein Vater schob sich mit seiner blutenden Schulter zuerst aus dem unförmigen Blechknoten, zu dem euer Käfer zusammengeschrumpft war.

Kaum war dein Vater durch den engen Schlitz geschlüpft, den die Tür widerwillig freigab, da hörtest du diese Eulenrufe. Richtig laut, ganz nah. Der eine Scheinwerfer, der noch funktionierte, starrte, starrte wie blöde die Tannen hinter der zersplitterten Windschutzscheibe an. In völlig bizarrem Winkel, von ganz unten nach hoch oben.

Dann klappte die Rückenlehne des Fahrersitzes nach vorne und direkt neben deinem Kopf tauchte das blutige Gesicht des Vaters auf, das im schräg von den regennassen Bäumen reflektierten Scheinwerferlicht glassplitterglitzerte.

»Heh, Tom, alter Bursche.«

Du meintest, ein etwas schwerfälliges, aber immerhin ein Lächeln im Gesicht deines Vaters ausmachen zu können.

»Was ein Indianer ist, der lässt sich so leicht nicht unterkriegen, was? Mann Mann Mann. Aber bei dir scheint ja soweit noch alles einigermaßen im Lot zu sein. Ne? Also, du musst jetzt ganz stark sein. Ich renn mal los und hol Hilfe, und bis die Mama wieder aufwacht, bin ich längst wieder da. Okay?«

»Nein, Papa, nicht weggehn!«, sagtest du leise und wundertest dich, dass sich aus deinem Gejaule doch wieder richtige Worte gelöst hatten. Das gab dir plötzlich wieder Kraft, und du schicktest deinem Vater noch ein verzweifeltes »Nicht weggehn!« hinterher.

»Ich bin ganz schnell wieder da«, sagte er mit bemüht sanfter Stimme. »Und du bleibst hier sitzen und rührst dich nicht vom Fleck!«

Und wie er dann die blechkreischende Tür wieder zudrückte. Von außen.

- . -

8

Das Eis auf Island – du hast wahrhaftig schon schöneres Eis gesehn. Hier ist das immer irgendwie dreckig. Graugrieselige Flecken, Streifen, ausufernde Anthrazitflächen immer wieder zwischen dem glasigen Weiß. Oder wenn du bei einer Spalte, einer Abrisskante tief hineinsiehst in die Eisabgründe: Das sonst so fantastische Eistürkis ist kein Türkis. Auf Island nicht. Das Eis kann sich, wie der Himmel hier, nicht festlegen auf eine Farbe, auf eine dezidierte, auf ein klares Weiß, glitzerndes Silber, tiefes Blaugrün. Ständig ist grad irgendwo ein Vulkan ausgebrochen, schickt seine Aschewolken auf die Reise, lässt den Schnee schwarz werden und das Eis altersgrau. Dabei musst du den Blick gar nicht in die Ferne schweifen lassen, der Hvannadalshnúkur selbst ist schließlich auch nicht von schlechten Eltern. Bewacht hier oben die 5 km breite Caldera, diesen riesigen Vulkankessel, der bis zum Kragen angefüllt ist mit einem uralten Gletscher. Und darüber eben diese sieben Zähne, wovon der Hvannadalshnúkur der höchste ist. Haben die armen Isländer schon reichlich in Angst und Schrecken versetzt, die Vulkane des Öræfajökullmassivs. 14. Jahrhundert oder wann, da hat ein Ausbruch die blühende Landschaft da unten von jetzt auf gleich wegradiert. Kubikkilometerweise Asche runtergeschmissen, so dass die Höfe und Dörfer zu Füßen des Öræfajökulls einen halben Meter hoch im schwarzen Modder standen. Und dann kam das Wasser! Die wahnsinnigen Schmelzwässer, die die heiße Lava aus dem Eis gekocht hatte, Sturzbäche, Fluten, die auf breiter Front vorgerückt sind und plattwalzten, was ihnen vor den Bug kam – alles komplett überschwemmt, weggeschwemmt. Und 400 Jahre später noch mal das gleiche Spiel. Daher ja auch der Name: »Einödsgletscher«. Und irgendwo da mittendrin im Vatnajökull, keine 50, 60 Kilometer von hier, genau Nord-Ost: der Grimsvötn. Heute noch aktiv. Da kann’s jederzeit hoch hergehn. Da drüben, da hinten.

Wegen all des Vulkandrecks im Eis hier gehen die Nunatakkr oft fast unter, stechen nicht wie anderswo felsschwarz aus dem Schneeschneeweißeis. Auf Island sind die vermeintlichen Felszacken im Eis oft genug unwillkommener Anlass für einen fatalen Irrtum. Da oben, wenn du den Fels da oben erreichst, dann ... und wenn du endlich da bist, geklettert bist wie ’n Berserker, dann erweist sich die Chose als alles, bloß nicht als rettendes Festland. Bloß eine Aschenkappe, die in einen vorwitzigen Eishöcker eingeschmolzen ist. Nicht im Entferntesten fester Boden untern Füßen.

Und selbst wenn der nächste Schnee weiß sein sollte, wenn weit und breit grad kein Vulkan in Aktion tritt, selbst wenn’s also schneit, wie sich’s gehört, stößt der Anthrazitzahn paar Minuten später wieder durch. Weil der Wind nicht Ruhe halten kann, keine Sekunde schweigt auf Island und im Handumdrehn den schwarzen Brackmann wieder freigelegt hat, bloß um den nächsten Eisläufer an der kalten Nase rumzuführen.

- . -

9

Du stehst immer noch neben dir. Hast die Mahnemannsche das alles hier organisieren lassen; und so steht ihr jetzt mit dieser Hand voll Kollegen im Treppenhaus. Röntgenstraße Ecke Goethestraße. Zweite Etage. Vor der Wohnungstür von Kerstin Engelsberg – ja, Kerstin heißt sie. Oder? Die Mahnemann hat den Daumen auf der Klingel. Schellt permanentpenetrant, aber nichts tut sich. Vor der Tür nicht – ihr wartet schweigend – und dahinter auch nicht.

Bis du dir ein Herz nimmst und losbrüllst: »Frau Engelsberg! Frau En-gelsbe-erg!!«

Dann schiebst du den Daumen von der Mahnemannschen zur Seite und hämmerst selbst wie wild auf dem unschuldigen Knopf rum. Mal ätzendes Dauerschellen, mal ein kaum weniger erträglicher Rhythmus, der jeden Techno-Rave in Schwung gebracht hätte.

»Frau Engelsberg, wenn Sie jetzt nicht aufmachen, dann machen wir auf!«, brüllst du. Und noch mal Schellen und noch mal Schweigen.

Plötzlich bist du die Ruhe selbst, wie in alten Tagen, als du noch in jedem Moment genau wusstest, was zu tun war: »Rolf, walte deines Amtes!«

Der Kollege geht auf dem Treppenabsatz ein paar Schritte zurück, nimmt Anlauf und – krach, die Tür fliegt auf, wie allwöchentlich im ›Tatort‹ zu bewundern. Während sich der Rolf noch die Schulter reibt, stehst du schon in der Wohnung. Kurz die Lage peilen. Aber: Ruhe im Karton. Die Mahnemann und die drei andern rücken nach. Ihr verteilt euch in alle Himmelsrichtungen und inspiziert die Zimmer.

»Nichts«, ruft Rolf aus dem Badezimmer, »hier ist nichts. Alles in Butter.«

Und dann hörst du eine weitere Tür krachen.

»Hier ist überhaupt gar nichts in Butter«, schreit die Mahnefrau.

Du siehst zu, dass du auf den Flur kommst, aber kannst sie beim besten Willen nicht orten.

»Was wo?«

»Hinter der Küche«, schallt es zurück.

Aus sämtlichen Winkeln der Wohnung kommen die Kollegen angestürmt und gehen in der Küche in Stellung, wo die Mahnemann vor der aufgebrochenen Vorratskammer steht. Die Hände vors Gesicht gepresst. – Deshalb war sie auch nicht zu verstehn; aber als du näher trittst, verstehst du sie sehr gut!

»Scheiße.«

»Kann man wohl sagen«, nuschelt sie durch ihren verkrampften Fingerfächer.

Noch nicht lange her das hier, verdammt noch mal. Wenn du, statt dir das Psychostündchen zu gönnen, direkt losgefahren wärst, um die Frau festzunehmen, würde sie jetzt wahrscheinlich noch ... Mal ganz davon zu schweigen, wie lebendig die Frau jetzt wäre, wenn die Mahnemann dir’s nicht vermasselt hätte, sie stante pede sofort festzunehmen. Würd’ sie die Welt zwar durch schwedische Gardinen betrachten, aber putzmunter wär’ sie ... Stattdessen ... Stattdessen hockt sie da in der Vorratskammer ihrer Küche. Mit einer klaffenden Wunde am Hinterkopf. Die Hände mit Stricken gefesselt, die Füße mit Handschellen.

»Erschlagen, eingesperrt, gefesselt! Da wollte jemand ganz sicher gehn.«

»Na ja«, fährst du der Mahnemannschen übers Maul, »es handelt sich immerhin um eine Kindsmörderin.«

»Und so eine muss man dermaßen festzurren?«

»Brutalität mit Brutalität beantwortet«, sagst du möglichst lakonisch. Aufgeregtheit zeigen in deinem Beruf, das war noch nie sonderlich, wie heißt das: zielführend.

 

Aber die Mahnemann macht’s dir nicht leicht. »Hört sich glatt so an, Sheriff, als hätten Sie Verständnis für den Mörder!«

Und hat dich prompt völlig aus dem Konzept gebracht. Dir bleibt die Luft weg. »Ich weiß nicht«, stammelst du, mit Irrsinnspausen zwischen den Wörtern, als müsstest du nach jedem einzelnen in den abgelegensten Dunkelkammern deines Hirnkastens fahnden. »Ähm, Barbara«, flüsterst du ihr zu, »was, ich meine, was müssen wir denn jetzt als nächstes machen?«

»Die Spurensicherung herbeizitieren.«

»Klar. Die Spurensicherung.«

Und als wär nichts gewesen, gibt die Mahnemann über die Schulter weg Rolf zu verstehn, dass er mal eben bei den Kollegen anrufen soll. Und dann funkelt sie dich wieder an: »Haben Sie gesehn, Sheriff, die Handschellen da?«

»Sicher, hab ich«, sagst du und merkst, wie langsam, ganz allmählich, Gott oder wem sei’s gelobt, das Ganze wieder den Charakter einer Routineübung annimmt und wie du die Knie endlich einigermaßen vernünftig durchdrücken kannst. »Handschellen um die Füße, das haut auch nur bei so dünnen Beinen hin.«

Aber die Mahnemann meint was andres, offenbar. »Da sind genau so Kratzer drauf wie bei Ihren. Wo Sie mit den Dingern im Parkhaus die Treppe runter geflogen sind, als wir hinter diesem Zuhälter her waren.«

»Kratzer – scheint ein weit verbreitetes Leiden bei Handschellen zu sein«, versuchst du den Kopf aus der Schlinge zu ziehn.

Aber wie gesagt, so einfach geht das bei der nicht. »Wo, wo sind eigentlich Ihre? An Ihrem Hosenbund jedenfalls nicht.«

»Die Handschellen?« Du fasst dir instinktiv an die Hüfte – und, und greifst ins Leere! »Stimmt! Sack und Asche, wo sind die Handschellen? Wo sind verflucht noch mal meine Handschellen?«

- . -