Homer: Die Odyssee

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2 Ein Schiff für Telemach

Am Horizont schimmerten die ersten zarten Strahlen der Morgenröte, als Telemach die Augen öffnete. Er stand auf, kleidete sich an und gurtete sein scharfes Schwert um die Schulter. So für den Tag gerüstet, trat er unter seine Bediensteten und befahl den Ausrufern, alle Männer für eine Ratsversammlung auf dem Markt zusammenzurufen.

Als er sich dann auf den Platz seines Vaters setzte, meldete sich gerade der alte Aigyptios zu Wort. Einer seiner Söhne war Antiphos und mit Odysseus gegen Troja ausgefahren. Ein anderer war Eurynomos, der sich zum Kumpanen der Freier gemacht hatte.

„Leute von Ithaka! Seit Odysseus fort ist, hat es keine Versammlung mehr gegeben. Weiß jemand, wer uns heute geladen hat und worum es eigentlich geht? Auf jeden Fall ist es gut, dass sich wieder jemand um unser Gemeinwohl kümmert. Zeus segne diesen Mann, ganz gleich, was ihn dazu bewogen haben mag!“

Eine bessere Einleitung konnte sich Telemach gar nicht wünschen. Darum erhob er sich sogleich wieder und bat ums Wort: „Edler Greis, du sollst nicht länger im Ungewissen bleiben: Ich war es, der euch hier zur Versammlung geladen hat. Aber es handelt sich nicht um ein Anliegen des Gemeinwohls, sondern ich will hier und jetzt die Interessen meines eigenen Hauses vertreten.

Mein Haus wird verwüstet und ausgeraubt. Nicht etwa von unbekannten Strauchdieben, sondern von den Söhnen und Erben der vornehmen Familien unseres Landes. Darüber hinaus bedrängen diese Helden meine Mutter, einen von ihnen zum Mann zu nehmen, obwohl sie es nicht will. Nach alter Sitte müssten sie dazu außerdem zu Ikarios, dem Vater meiner Mutter, gehen, der dann einen Mann seiner Wahl bestimmen würde. Aber das wagen sie nicht, denn sonst hätten sie keine Ausrede mehr, sich weiterhin an meinen Gütern zu vergreifen.

Hätte euch“, sprach er dann die Freier an, „mein Vater seinerzeit etwas Rachewürdiges angetan, wäre ich vielleicht etwas weniger aufgebracht. So aber kann ich nur hoffen, dass ihr alsbald der Rache der Götter zum Opfer fallen werdet.“

Tränen der Wut waren Telemach bei seinen letzten Worten in die Augen geschossen, so dass er am Ende den Rednerstab weit von sich schleuderte. Antinoos jedoch zeigte sich davon nicht sonderlich beeindruckt: „Telemach, du scheinst ja wirklich noch als Volksredner enden zu wollen!

Was fällt dir eigentlich ein, uns vornehme Achaier derart zu beleidigen? Deine Mutter ist es doch, die uns an der Nase herumführt! Und das schon seit fast vier Jahren!

Es begann damit, dass sie uns allen Botschaften schickte. Nach und nach erweckte sie in jedem von uns falsche Hoffnungen und hat uns dadurch gegenseitig im Zaum gehalten. Als das keine Wirkung mehr zeigte, griff sie zu einer neuen Hinterlist: Sie wolle sich angeblich nicht von den Frauen Vorhaltungen anhören müssen, wenn der alte Laërtes einst standesgemäß zu begraben wäre. Solange sein Leichentuch noch nicht gewebt sei, sollten wir uns zurückhalten – was blieb uns anderes übrig, als ihren Willen zu achten?

Doch dann stellte sich heraus, dass sie alles bei hellem Tageslicht Gewebte im Schein der Fackeln wieder aufgetrennt hatte. Über drei Jahre lang trieb sie dieses Spiel mit uns. Wir wären noch immer die Betrogenen, hätte uns nicht erst vor kurzem eines der Mädchen von dem trügerischem Handwerk deiner Mutter erzählt.

Ich will dir etwas sagen, und auch die andern sollen gut zuhören:

Deine Mutter muss sich jetzt endgültig entscheiden, wen von uns sie sich zum Manne nehmen will! Soll sie sich meinetwegen mit ihrem Vater beraten – solange sie nicht meint, uns länger für dumm verkaufen zu können.

Wenn dir also etwas an deinem Erbe liegt, solltest du ihr endlich die Leidensmiene ausreden, mit der sie unserem berechtigten Verlangen entgegentritt. Wir jedenfalls werden nicht nachgeben!“

Wenn Antinoos nun aber glaubte, den jungen Telemach zum Schweigen gebracht zu haben, so hatte er sich geirrt: „Antinoos! Ich soll deiner Meinung nach also die Frau vor die Tür setzen, die mich geboren und aufgezogen hat?

Weder Ikarios, ihr Vater, noch die Götter könnten so ein Verhalten billigen, und meine Mutter würde mich völlig zu Recht verfluchen. Alle würden mit Fingern auf mich zeigen und mich künftig zum Abschaum zählen.

Nein, nein, ihr habt euch gefälligst andere Freitische zu suchen, und ich bete zu den Göttern, dass ihr endlich an euren Schandtaten umkommt!“

Und Zeus schickte zum Zeichen zwei Bergadler in den Himmel von Ithaka. Sie begannen über der Versammlung zu kreisen und bald dicht über die Köpfe hinwegzustreichen. Dann fielen die riesigen Vögel plötzlich übereinander her und behackten sich mit Schnäbeln und Klauen, dass die Federn flogen. Schließlich ließen sie voneinander ab und glitten unvermittelt rechts über die Häuser der Stadt hinweg.

Noch wie gelähmt lauschten alle der Deutung eines alten Ausrufers: „Was ihr eben zu sehen bekommen habt, gilt vor allem den Freiern! Odysseus kommt bald zurück, und dann ist euch der Tod gewiss. Ich verkündete dem Odysseus schon vor seiner Ausfahrt nach Troja, dass er erst nach vielen Jahren einsam und unerkannt heimkehren würde. Es ist nun so weit! Meine Weissagung wird sich bald erfüllt haben!“

Aber Eurymachos wollte davon nichts wissen: „Mach lieber, dass du nach Hause kommst, mein Alterchen! Du hoffst mit deinem Zukunftsgefasel ja nur auf eine Belohnung von Telemach. Vögel fliegen her und fliegen weg, so ist das nun einmal. Odysseus jedoch ist sicher schon lange tot, und es ist schade, dass du sein Schicksal nicht teilst. Pass also lieber auf, was deiner Zunge entfliegt, es könnte, eher als du denkst, dein Letztes sein.

Und du, Telemach, solltest dich besser an das halten, was dir Antinoos gesagt hat. Wir alle warten, bis Penelope einem von uns gegeben wird.

Wir gönnen den anderen Frauen noch nicht einmal einen Blick, obwohl wir durchaus das Recht hätten, auf ihren Lagern Trost zu finden. Daran kannst du erkennen, welch hohe Meinung wir von deiner Mutter haben.“

Telemach winkte ab, war doch von ihm dazu bereits alles gesagt worden. Wie von Athene geraten, forderte er nun von der Versammlung ein Schiff, um bei Nestor und Menelaos nach Lebenszeichen von Odysseus Ausschau halten zu können. Stelle sich dabei heraus, dass für das Leben seines Vaters noch Hoffnung bestehe, würde er noch ein Jahr abwarten, ansonsten müsse sich Penelope einen neuen Mann erwählen.

Nach diesen Erklärungen Telemachs ging das Wort an die Versammlung zurück, und es erhob sich Mentor. Er war ein alter Freund des Odysseus. Trotz seiner aufgestauten Wut achtete Mentor sorgsam auf die Wahl seiner Worte: „Es scheint, dass es keinen Sinn hat, wenn sich ein Herrscher um Gerechtigkeit bemüht. Habt ihr alle vergessen, wie gütig Odysseus uns gegenüber war? Schlimm genug, dass die Freier unbedingt glauben wollen, Odysseus sei tot – aber dass ihr andern nicht einmal in Erwägung zieht, den Freiern entgegenzutreten, ist schändlich. Dabei seid ihr sogar in der Überzahl!“

Als Mentor sich wieder gesetzt hatte, meldete sich als letzter Leiokritos aus der Partei der Freier zu Wort: „Du scheinst nicht ganz bei Trost zu sein, Mentor! Was hetzt du die Leute hier gegen uns auf? Selbst Odysseus hätte in einem Kampf gegen uns alle kaum Aussicht auf einen Sieg!

Aber hier wurde lange genug dummes Zeug geschwätzt! Geht jetzt besser wieder an eure Arbeit. Mentor und der alte Himmelsdeuter können ja dem Telemach bei seiner geplanten Fahrt zur Hand gehen. Wahrscheinlich ist diese Schiffsreise sowieso nur leeres Gerede, und Telemach weint sich vorzugsweise weiterhin am Strand die Augen nach seinem Vater aus.“

Die Versammlung wartete auch wirklich keine Antwort mehr auf die höhnische Rede des Freiers ab. Im Nu war sie seiner Aufforderung nachgekommen. Da lachten sich die Freier ins Fäustchen und nahmen alsbald ihre gewohnten Plätze im Haus des Odysseus ein.

Telemach hingegen hatte sich auf den Weg zum Strand gemacht, allerdings nicht um dort zu weinen, sondern um zu jener Gottheit zu beten, mit der er am letzten Abend zu Tisch gesessen hatte und deren Namen er nicht mit letzter Sicherheit wusste. Er flehte um ihren weiteren Beistand, denn er fürchtete, dass ihn die Freier zuletzt doch noch an seiner Suche hindern könnten. Athene erhörte sein Gebet und erschien ihm in der Gestalt Mentors: „Als Sohn des Odysseus musst du keine Angst haben. So viel von seinem Unternehmungsgeist sollte in dir stecken, als dass dich jetzt noch jemand aufhalten könnte. Oder kommst du nicht nach deinen Eltern? Dann allerdings hätte ich wenig Hoffnung für dich.

Aber du wirst das schon meistern, da bin ich ganz sicher! Lass dich nicht von den Freiern einschüchtern. Sie sind nicht gerade sehr weitblickend und werden ihrem Schicksal nicht entgehen. Ich will dir helfen, ein Schiff und Ruderer für deine Fahrt zu besorgen. Du aber stelle unauffällig die nötigen Vorräte zusammen. Am wichtigsten sind Wein und Mehl, damit unsere Mannschaft bei Kräften bleibt. Wir treffen uns dann am Strand bei den Schiffen.“

So ganz gewiss war sich Telemach seiner Sache zwar immer noch nicht, aber er ging nun doch mit festerem Schritt ins Haus zurück.

Als Telemach über die Hofschwelle trat, kam ihm Antinoos lachend entgegen. Er tat so, als sei nichts weiter gewesen: „Ach Telemach, sei doch nicht länger aufgebracht! Wenn du willst, kümmern wir uns auch um dieses Schiff für dich. Aber bis dahin setze dich zu uns, und halte bei unserem kleinen Gelage mit.“

„So weit kommt es noch“, riss sich Telemach von ihm los, „dass ich mit euch meinen Untergang feiere! Ich bin alt genug, dein Angebot zu durchschauen. Wenn ich kein eigenes Schiff ausrüsten kann, dann schiffe ich mich eben in einem fremdem ein. Dass ich nach Pylos fahre, ist jedenfalls sicher – so sicher, wie es euch bald an den Kragen gehen wird!“

 

Da wollten sich die Freier schier kugeln vor Lachen.

„Ja, jetzt wird es wirklich ernst! Der Telemach holt jetzt Verbündete aus Pylos und dann noch welche aus Sparta! Er strengt sich wirklich an, das muss man sagen.“

„Nein, nein, er geht insgeheim nach Ephyra und kauft sich dort Gift, das er uns dann in den Wein mischen will.“

„Oder es geht ihm wie seinem Vater, und er bezahlt seinen Ausflug mit dem Leben. Dann hätten wir hier eine noch größere Plackerei, sein Hab und Gut aufzuteilen. Und schließlich vermählt sich Penelope, und wir müssten ohne Lohn für diese schwere Arbeit abrücken.“

Sollten sie ruhig spotten, Telemach hörte gar nicht mehr hin. Er stieg unbemerkt zu den Kellergewölben hinunter, in denen die Vorräte und Schätze des Odysseus unter der Obhut Eurykleias gelagert waren. Hinter schweren, fest verschlossenen Flügeltüren stapelten sich Gold und andere edle Erze, Truhen, voll mit prächtigen Gewändern, Fässer mit wohlriechendem Öl und solche, die mit schwerem, alten Wein auf den Tag der Rückkehr des Hausherrn warteten.

Telemach rief Eurykleia herbei und verlangte zwölf Krüge mit Wein und zwanzig Maß Mehl in gut genähten Lederbeuteln. Zugleich hielt er sie zum Schweigen an. Die Freier dürften nichts davon erfahren! Er werde die Sachen dann in der Nacht abholen.

Eurykleia konnte es nicht fassen, dass sich nun auch ihr junger Herr den Gefahren einer Fahrt auf dem Meere aussetzen wollte. Aber schließlich versprach sie ihm bei allen Göttern im hohen Olymp, selbst seiner Mutter erst nach dem elften oder zwölften Tag der Abfahrt Bescheid zu sagen.

Damit fürs Erste zufrieden, mischte sich Telemach wieder unter die Freier.

Athene warb unterdessen in der Gestalt ihres Schützlings Ruderer an und bat den Schiffshalter Noemon um ein schnelles Schiff. Der sagte dies dem vermeintlichen Telemach auch ohne Wenn und Aber bereitwillig zu.

Die Sonne ging schon unter, als die Göttin das Schiff zu Wasser brachte, es mit den notwendigen Gerätschaften belud und anschließend am Ausgang der Bucht vertäute. Die inzwischen angelangte Mannschaft wurde von ihr in alles eingewiesen und leistete den Treueschwur.

Kaum war dies geschehen, ließ Athene den Freiern große Müdigkeit in die Glieder fahren, so dass ihnen die Becher aus den Händen fielen und sie alle alsbald nach Hause wollten.

Jetzt erst rief die Göttin, nun wieder in der Gestalt Mentors, Telemach zu sich: „Komm, alles ist bereit und wartet nur noch auf uns. Wir müssen uns beeilen!“

„Der Alte ist wirklich gut zu Fuß“, dachte sich Telemach, der der davonstürmenden Athene kaum folgen konnte. Am Liegeplatz begrüßte er die langhaarigen Seeleute und befahl ihnen, den Proviant abzuholen und einzuladen. Schließlich setzten sich Telemach und der angebliche Mentor hinten an das Steuer. Nachdem der Mast aus Fichtenholz aufgerichtet und befestigt war, spannten sich alsbald die weißen Segel vor einem von Athene gerufenen, günstigen Wind. Das Schiff war auf Kurs. Die Becher wurden mit Wein gefüllt, und die ganze Mannschaft trank auf das Wohl der unsterblichen Götter. Besonders hochleben ließen sie aber die Tochter des Zeus, Athene, die die ganze Zeit unerkannt bei ihnen saß.

3 Bei Nestor in Pylos

Es war schon heller Tag, als die Seefahrer den Strand von Pylos ausmachten. Dort brachte man gerade dem Poseidon heilige Opfer dar. In neun Reihen saßen je fünfhundert Männer, und in jeder Reihe wurden neun Stiere geopfert, deren Lenden dem Gott vorbehalten waren.

Nachdem das Schiff gelandet war, ging Telemach hinter der Gestalt Mentors von Bord.

„Nun mach dich geradewegs zum alten Nestor auf und bitte ihn um Auskunft. Er wird dir sagen, was er weiß“, ermunterte Athene den jungen Mann.

„Aber wie soll ich diesen ehrwürdigen Greis anreden? Soll ich als jüngerer etwa einfach den älteren ansprechen?“

„Vertraue auf dein Gespür und darauf, dass du auch bisher nicht ohne den Schutz der Götter aufgewachsen bist.“

Die Gestalt Mentors schritt nun kräftig aus und Telemach musste ihr ohne eine weiteres Wort hinterhereilen.

Als die Söhne Nestors die Fremden kommen sahen, standen sie auf und gingen ihnen zum Willkommensgruß entgegen. Peisistratos bot den beiden einen Platz in den weichen Schaffellen neben seinem Bruder Thrasymedes und seinem Vater an. Dann legte er ihnen einige Stücke von den Innereien vor und füllte Wein in einen goldenen Becher. Den reichte er zuerst Athene und sprach dazu: „Bete auch du zum Gott der Meere, denn seinetwegen sind wir hier zusammengekommen. Nach deinem Trunk zu Ehren Poseidons reiche den Becher an deinen Gefährten weiter, der wohl in meinem Alter sein dürfte und sicher auch ein Trankopfer darbringen will. Wir alle sind ja dem Willen der Götter ausgesetzt und bedürfen ihrer Unterstützung. Doch dir als dem Älteren gebührt der Vortritt.“

Mit Wohlgefallen hörte Athene die ehrerbietigen Worte des Peisistratos und bat Poseidon dann auch laut um Erfüllung der Bitten aller Pylier, und auch darum, dass sie und Telemach erlangten, worum sie ausgezogen waren. Insgeheim gedachte sie jedoch, dieses Gebet selbst auf den Weg der Erfüllung zu bringen.

Telemach fand ähnliche Worte wie seine göttliche Vorrednerin, und nachdem sich alle an der köstlichen Mahlzeit gesättigt hatten, erkundigte sich Nestor freundlich nach dem Woher und Wohin. Erst jetzt wagte Telemach Nestor zu bitten, ihm ohne Umschweife zu sagen, was er über das Schicksal seines Vaters wisse – und wenn es nur die Kunde von dessen Tod wäre.

Es stellte sich jedoch heraus, dass der altehrwürdige Nestor zwar noch tagelang über die Zeit des trojanischen Krieges und über das Schicksal mancher Helden hätte erzählen können, er aber über den Verbleib des Odysseus genauso wenig wusste, wie Telemach selbst.

Telemach nahm es jedoch ziemlich gelassen hin, erfuhr er nun doch aus erster Hand etwas über die Heimfahrt der anderen Helden. Von vielen lebten ja nur noch die klangvollen Namen: Achilleus und sein weiser Freund Patrokolos waren tot, ebenso der gewaltige Aias, und auch ein Sohn Nestors, der tapfere Antilochos und viele, viele andere waren vor Troja gefallen.

Als nach dem blutigen Sieg endlich die Heimfahrt angetreten werden sollte, hatte Athene aus Rache die beiden Söhne des Atreus, Agamemnon und Menelaos entzweit: Menelaos wollte sofort nach Hause, der Heerführer Agamemnon erst noch die gekränkte Göttin mit einem großen Opfer milde stimmen. Athene aber war zur Versöhnung nicht bereit.

Schließlich hatte sich die eine Hälfte der Flotte eingeschifft, während die andere unter der Führung Agamemnons am Strand zurückgeblieben war.

Nestor hatte sich dem Menelaos zugesellt, und sie durcheilten das Meer unter vollen Segeln. Dann aber brandete ein neuerlicher Streit auf, und auch diese Flotte fiel auseinander: Odysseus hatte mit Kurs auf Troja gewendet, Nestor aber war noch eine Weile mit Menelaos unterwegs, um zuletzt auch ihn aus den Augen zu verlieren.

Menelaos musste eine zeitraubende Irrfahrt überstehen. Aber schließlich gelangte auch er in seine Heimat, wie schon lange vor ihm Philoktetes und Idomeneus, Nestor selbst und Diomedes. Der rechtschaffene Sohn des Achilleus, der gewaltige Kämpfer Neoptolemos war ebenfalls glücklich mit seinen Myrmidonen nach Phtia zurückgekehrt. Ob Telemach schon genaueres von der feigen Ermordung des Agamemnon gehört habe?

„Tja, wären Agamemnon und Menelaos zusammengeblieben, hätte Aighistos keine Chance gehabt.

Das muss man sich mal vorstellen, während wir blutige Kämpfe zu bestehen hatten, saß dieser Aighistos im friedlichen Argos und umschmeichelte Agamemnons Gemahlin, die, im Grunde genommen, kluge und sittsame Klytaimnestra.

Agamemnon hatte ihr einen weisen Sänger zur Seite gestellt, damit er sie während seiner Abwesenheit beschütze. Doch die Schicksalsgöttinnen wollten es anders. Aighistos entführte den Sänger auf eine einsame Insel und ließ ihn dort zum Fraß für die Raubvögel zurück. Danach wusste er geschickt, die allein gelassene Klytaimnestra an sich zu binden. Zum Dank für diese gelungene Schandtat opferte er den Göttern große und kostbare Gaben.

Als nun Agamemnon glücklich zu Hause ankam, ermordete ihn Aighistos mit Hilfe der Klytaimnestra und zwang die Bewohner Mykenes, ihn für sieben Jahre als ihren Herrscher anzuerkennen.

Dann aber kehrte Orestes, der Sohn Agamemnons, aus Athen zurück und rächte den Tod seines Vaters an Aighistos und an seiner Mutter. Und erst als Orestes beim anschließenden Totenmahl den Göttern ein Versöhnungsopfer darbringen wollte, lief Menelaos mit seinen schwer beladenen Schiffen im Hafen ein.“

An dieser Stelle musste das Opfermahl wegen des nahenden Sonnenuntergangs beendet werden.

Nestor riet Telemach nun, was ihm vorher schon der vermeintliche Mentes geraten hatte, nämlich nach Sparta zum König Menelaos zu fahren. Nestor würde ihm für die Landreise seine Söhne zu Begleitern geben und die nötigen Wagen und Pferde zur Verfügung stellen. Und es sei doch wohl selbstverständlich, dass der Sohn des Odysseus nicht auf der harten Ruderbank schlafen würde, wenn er es ihm in seinem Hause doch weitaus bequemer machen könnte.

Da meldete sich die Gestalt Mentors noch einmal kurz zu Wort: „Wir haben deinen Erzählungen mit Freude zugehört, und Telemach tut gut daran, deinem Rate zu folgen. Ich aber werde lieber zum Schiff gehen und auf die Mannschaft Acht geben. Es sind ja noch alles junge Männer und auf den Zuspruch eines erfahrenen Alten angewiesen. Außerdem will ich am Morgen mit dem Schiff zu den Kaukonen fahren, um bei ihnen eine größere Schuld einzutreiben. Wenn du Telemach in dein Haus nehmen und, wie du vorhin gesagt hast, ihm für die Reise zu Menelaos mit guter Begleitung und schnellen Pferden aushelfen willst, kann ich meine Angelegenheiten regeln, ohne mir größere Sorgen um ihn machen zu müssen.“

Anstatt sich aber zum Schiff zu begeben, erhob sich die Gestalt Mentors wie ein Seeadler in die Lüfte und entschwand den Blicken der erstaunten Männer. Nestor nahm Telemach bei der Hand und sagte anerkennend: „Das war niemand anderes als Athene! Sie hatte schon vor Troja deinen Vater mit ihrer Gunst ausgezeichnet, und jetzt wird auch dir so leicht niemand etwas anhaben können, obwohl du noch so jung bist.“

Dann streckte Nestor die Hände gegen den Himmel und betete für sich und die Seinen um ihr Wohlwollen. Er werde auch ein einjähriges Rind opfern und dessen Hörner zuvor vergolden lassen, gelobte er, und Athene erhörte sein Gebet.

Nachdem sich alle in Nestors Palast erfrischt hatten, mischte ihnen der ehrwürdige Alte einen elfjährigen Wein zurecht. Gar mancher Tropfen davon wurde wiederum Pallas Athene gewidmet. Zuletzt bereitete Nestor dem Telemach ein weiches Lager, und sein einziger noch unvermählte Sohn, Peisistratos, bettete sich daneben. Die anderen aber gingen in ihre Häuser, und Nestor begab sich alsbald zu seiner Königin.

Am frühen Morgen war Nestor als Erster wieder auf den Beinen. Er erwartete seine Söhne vor dem Eingangstor des Palastes. Als sie ihn aufsuchten, saß er auf einem der geglätteten, weißen Steine, wie schon früher sein längst verstorbener Vater Neleus.

Nestor bat seine Söhne um Hilfe bei der Erfüllung des Gelübdes. Da war keiner, der ihm die Bitte ausgeschlagen hätte. Auch die Gefährten Telemachs eilten vom Schiff herbei, um bei diesem Opfer mit Hand anzulegen.

Eine gut gewachsene Kuh wurde von der Weide geholt, und Laerkes, der Goldschmied, vergoldete ihre Hörner so kunstvoll, dass Athene ihre helle Freude daran hatte.

Als die Kuh schließlich den Streich mit der Axt erhielt und das Blut in der Opferschale aufgefangen war, wurde ein regelrechtes Festmahl ausgerichtet. Die besten Stücke waren feierlich für die Göttin verbrannt und mit dunklem Wein übergossen worden, während das Übrige an Spieße gesteckt und zum eigenen Verzehr gebraten wurde.

Telemach durfte sich währenddessen von der Schiffsreise erholen und wurde von Polykaste, der jüngsten Tochter Nestors, gepflegt. Diese badete ihn und rieb ihn danach mit wohlriechendem Öl ein. In frische Gewändern gehüllt, fühlte er sich wie neugeboren, als er zu der Festgesellschaft stieß. Die hatte nur noch auf ihn gewartet, um endlich mit dem Essen beginnen zu können.

Schließlich ließ Nestor vor einen prächtigen Wagen zwei schnelle Pferde anspannen und ihn mit reichlich Proviant bepacken. Bald hatten Telemach und Peisistratos Pylos weit hinter sich gelassen, und sie erreichten am Abend die gastfreundliche Burg des Diokles zu Pherai. Schon bei der ersten Morgenröte machten sich die beiden von dort wieder auf und trieben die Pferde zwischen den Weizenfeldern des flachen Landes zu großer Eile an.

 

Noch vor dem nächsten Sonnenuntergang erreichten sie Sparta.