Verschollen in Ostfriesland

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Kriminalpolizei Wilhelmshaven, Mozartstraße

Sonntag, eigentlich ein Tag der Erholung und der Beschaulichkeit, ein Tag für die Familie, in der die Arbeit ruhen sollte, doch nicht so, wenn man bei der Polizei arbeitet und noch dazu mitten in einem undurchsichtigen und schwierigen Fall steckt.

Trevisan war gegen 8 Uhr ins Büro gefahren. Dort traf er auf Krog, der mit seinen Leuten mitten in der Auswertung der sichergestellten Akten und Schriftstücke aus dem Hause Ollmert steckte. Es gab durchaus einige interessante Aspekte. Meist enthielten die Ordner Verträge mit Versicherungen, mit Handyprovidern oder mit Internetfirmen, doch einer der Ordner enthielt Kontoauszüge, die sehr aufschlussreich waren.

»Das ist alles aus dem letzten Jahr?«, fragte Trevisan.

»Die Aufstellung ist aktuell«, bestätigte Krog. »Nach dieser Übersicht ist Ollmert pleite. Er hat zwar eine Lebensversicherung über eine halbe Million, die er auch bedient, aber ansonsten sieht es düster aus. Seine Gesamtschulden belaufen sich auf 347.522,21 Euro. Der Porsche ist geleast, dafür zahlt er 420 Euro. Das Boot ist ebenfalls auf Pump gekauft, 200 Euro jeden Monat. Dazu die Versicherungen, die Miete für das Haus, die Abzahlung, ihm bleiben genau 433,12 Euro zum Leben.«

»Aber er hatte doch auch Guthaben?«, sagte Trevisan.

»Ja, auf dem Sparbuch, aber an die Fonds kommt er nicht ran, die laufen über einen Rentenfonds und sind gesperrt, bis er in Rente geht. Die Zahlungen hat er seit ein paar Jahren eingestellt, die Summe steht beitragsfrei, nur der Zinserlös wird gutgeschrieben, aber das ist nicht viel bei 2,75 Prozent.

Trevisan runzelte die Stirn. »Habt ihr tatsächlich an Bord der Jacht keinen Schlüssel und keine Papiere gefunden?«

Krog schüttelte den Kopf. »Wir haben das Boot gründlich durchsucht, keine Schlüssel, keine Geldbörse, keine Papiere. Weshalb fragst du?«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Ich weiß nicht, es ist nur so eine Idee. Wer erhält die Summe, wenn er abtritt?«

Krog suchte den entsprechenden Vertrag heraus. »Als Erbberechtigter steht hier eine Stiftung, ›Armonicas‹, Sitz in Basel, in der Schweiz, früher stand da mal Doreen Pleitgen, aber das wurde vor vier Jahren notariell geändert. Jetzt sag’ schon, welche Idee treibt dich um?«

Trevisan kratzte sich an der Stirn. »Einen Augenblick lang dachte ich …, vielleicht wollte er nicht mehr … diese Stiftung könnte natürlich auch … na ja, wir müssen auf alle Fälle herausfinden, wer dahintersteckt.«

»Du denkst an Selbstmord?«, fragte Krog ungläubig.

Trevisan schüttelte den Kopf. »Eher an Betrug.«

»Ach so, klar, wenn er selbst diese Stiftung betreibt«, dämmerte es Krog.

Trevisan nickte. »Es wäre eine Möglichkeit, seine Schulden mit einem Schlag loszuwerden.«

Krog winkte ab. »Dann hätte er sicherlich die Papiere irgendwo abgelegt, damit man sie findet, du weißt, ohne Totenschein kein Erbe.«

»Da hast du auch wieder recht.«

Krog wandte sich den Kisten zu.

»Macht rechtzeitig Schluss.«

»Wenn wir durch sind«, entgegnete Krog. »Und du?«

»Ich besuche meinen Enkel im Krankenhaus.«

»Ach ja, den Opa müssen wir natürlich begießen, wenn wir den Fall gelöst haben«, antwortete Krog mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. »Noch eins: Ich habe mit dieser Frau Haferkamp gesprochen. Eine komische Nudel ist das, aber sie bestätigt unsere Annahme. Ollmert hatte einen Laptop. Keine Ahnung, wo der abgeblieben ist.«

Trevisan nickte. Bevor er die Dienststelle verließ, schaute er bei Eike im Büro vorbei. Er saß vor dem Computer und durchforstete noch immer die Dateien des Kraftfahrtbundesamtes.

»Hast du was herausgefunden?«, fragte Trevisan ohne Umschweife.

Eike blickte kurz auf, bevor er sich wieder dem Bildschirm widmete. »Zumindest sind es nur noch 164 Fahrzeuge, die in Frage kommen.«

»Wie hast du das geschafft?«

»Ich war gestern bei Jokisch und habe ihm eine Aufstellung mit Cabrios vorgelegt«, antwortete er und hob den zusammengehefteten Katalog in die Höhe. Trevisan griff danach und blätterte ihn durch.

»Woher hast du den?«

»Selbst gebastelt.«

»Gut gemacht, Eike. Und wie kommst du voran?«

»97 Fahrzeuge befinden sich in Privatbesitz«, erklärte Eike, »39 sind auf eine Firma angemeldet. Zwölf gehören zu einem Autohaus und 14 sind auf eine Autovermietung zugelassen.«

Trevisan nickte anerkennend. »Von über 4.000 auf 167, Respekt.«

»Wenn du mitgerechnet hast, fehlen zwei.«

Trevisan lächelte. »Ich gebe zu, ich habe nicht mitgezählt, was ist mit den zwei Übrigen?«

»Eines gehört einer Bank und war offenbar geleast, ein anderes, ein Honda, ist vor einem Monat als gestohlen gemeldet worden.«

Trevisan trat näher und legte Eike die Hand auf die Schulter. »Du hast dir sehr viel Mühe gemacht. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, welcher von diesen 167 Flitzern der Richtige ist.«

»Ich schaue mir die Halter an und vergleiche sie mit den Meldedateien«, entgegnete Eike. »Jokisch ist sich sicher, dass eine Frau am Steuer saß, und die muss ja wohl gemeldet sein. Da fällt bestimmt die Hälfte raus, und den Rest müssen wir vor Ort überprüfen. Ich hoffe nicht, dass es der gestohlene Wagen war.«

»Da werden sich die Bremer Kollegen sicherlich freuen«, antwortete Trevisan. »Ich würde Feierabend machen und Paula besuchen gehen, wenn du sonst nichts mehr für mich hast.«

Eike lächelte. »Gratulation zum Opa und Grüße an die Familie.«

»Danke, ich richte deine Grüße aus.«

»Okay, aber da ist noch was. Die Österreicher leiten eine Handyortung ein, die Italiener lehnen ab, zum einen, weil wir die Region nicht näher bestimmen können und zum anderen, weil der Vermisste erwachsen ist und es wohl so aussieht, als ob er in Deutschland verunglückte. Sie begründen die Entscheidung mit dem Schutz der Privatsphäre.«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Na schön, kann man nichts machen, vielleicht haben die Österreicher ihn auf dem Schirm, dann könnten wir noch einmal in Italien anfragen.«

»Alles klar.«

»Vergiss den Feierabend nicht«, mahnte Trevisan, bevor er Eike im Büro zurückließ und ging.

*

Wilhelmshavener Klinikum, Friedrich-Paffrath-Straße

Trevisan fuhr von der Dienststelle zum Krankenhaus. Er hatte Hunger und fuhr über die Werftstraße, wo er an einer Pizzeria Halt machte. Bevor er Paulas Zimmer betrat, besorgte er einen Blumenstrauß am Kiosk. Lea und Peer waren anwesend, als Trevisan zu ihnen stieß und Paula mit einem Kuss begrüßte. Suchend blickte er sich um.

»Wo ist der kleine Ayk?«, fragte er.

»Der schläft im Gemeinschaftsraum, zu viel Besuch«, sagte sie und zeigte auf das zerwühlte Bett auf der anderen Seite.

»Ich sehe niemanden?«

»Ayse ist mit ihrer Verwandtschaft ins Café gegangen, aber vorhin hättest du hier sein sollen, das Zimmer war voll.«

Er ging zu Lea und küsste sie, bevor er Peer umarmte und ihm kräftig auf die Schulter klopfte. »Gut gemacht, junger Mann.«

Peer lächelte. Bevor er antworten konnte, kam eine Schwester ins Zimmer. Sie ging auf Peer zu. »Es wäre so weit, er muss gewickelt werden.«

Peer bekam einen roten Kopf.

»Sollen wir raus?«, fragte Trevisan.

Paula schüttelte den Kopf. »Nein, ihr könnt hierbleiben, aber Peer muss mit, er wickelt ihn drüben, unter Aufsicht. Es wird Zeit, dass er es lernt.«

Peer nickte. »Ihr entschuldigt mich, die Pflicht ruft.«

Zusammen mit der Krankenschwester verließ er den Raum.

»Und ich besorge uns einen Kaffee, der nicht nach Wasser schmeckt«, sagte Lea und schloss sich Peer und der Krankenschwester an. Nachdem die Tür geschlossen war, setzte sich Trevisan zu Paula auf das Bett. »Wie geht es dir heute, mein Mädchen?«

»Am Dienstag darf ich raus.«

»Oh, toll, soll ich euch abholen?«

Paula schüttelte den Kopf. »Privileg des Vaters.«

»Klar.«

Paula betrachtete ihren Vater. »Du siehst müde aus, Paps.«

»Bin ich auch«, bestätigte Trevisan.

»Du ermittelst wegen dieses verschwundenen Bürgermeisters?«

Trevisan nickte.

»Ich habe davon in der Zeitung gelesen, sogar die ›Bild‹ schreibt schon darüber.«

Trevisan verzog sein Gesicht. »Eine harte Nuss.«

»Weißt du, was passiert ist?«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Ich weiß es nicht, vermutlich ein Unfall, wobei, es könnte auch Mord gewesen sein, oder Versicherungsbetrug, der Kerl hatte Schulden, möglicherweise sogar Selbstmord. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Je mehr wir erfahren, desto größer werden die Zweifel.«

Paula schaute ihren Vater nachdenklich an. »Es beschäftigt dich.«

»Ja, weil ich gerne den Dingen auf den Grund gehe, aber in diesem Fall ist überhaupt nichts logisch. Wir laufen uns die Hacken ab und schlagen uns das Wochenende um die Ohren, aber statt, dass wir Licht ins Dunkle bringen, wird alles nur noch diffuser. Aber reden wir nicht darüber.«

»Doch, reden wir darüber, vielleicht geht es dir dann besser.«

»Ah, die Frau Kriminalpsychologin.«

»Habt ihr mit seiner Verflossenen gesprochen?«

»Wen meinst du?«

»Die Moderatorin von ›NDR-Aktuell‹.«

»Wieso sollten wir?«

Paula wies auf die Zeitung mit den vier Buchstaben. »Weil sie ein herzzerreißendes Interview gegeben hat. Selbstmord ist vielleicht gar keine blöde Idee. Sie sagt nämlich, dass er schon einmal versucht hat, aus dem Leben zu treten, nachdem sie ihn verlassen hatte.«

Trevisan griff zur Zeitung. »Tatsächlich?«

 

»Ja, und außerdem ging es ihm in der letzten Zeit seelisch nicht gut, sagt sie. Sie hatten nämlich noch immer Kontakt.«

Trevisan faltete die Zeitung auseinander. »Wo ist der Bürgermeister von Diekenhörn, Mord, Selbstmord, Entführung, die Polizei tappt im Dunkeln.«

»Entführung, daran habe ich noch gar nicht gedacht«, seufzte Trevisan.

Er überflog die Zeilen auf der ersten Seite und schüttelte den Kopf. Das Einzige, das in diesem Text der Wahrheit entsprach, war der Umstand, dass Ollmert aus seinem Urlaub nicht an den Schreibtisch im Rathaus zurückgekehrt war, der Rest des Textes bestand aus abenteuerlichen Spekulationen und Thesen, mit denen das Blatt beinahe die gesamte Seite füllte.

»Das sagt seine langjährige Partnerin und Freundin, lesen Sie weiter auf Seite 2«, endete der Artikel. Trevisan blätterte die Zeitung auf und las das Interview. Paula hatte recht, schenkte man diesen Zeilen Glauben, so war Doreen Pleitgen trotz der Trennung noch immer die beste Freundin von Enno Ollmert. Mit ihr zu sprechen, war mit Sicherheit kein Fehler. Trevisan faltete die Zeitung zusammen. »Brauchst du die noch?«

»Die gehört dem Krankenhaus, ich kaufe mir diesen Mist nicht.«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Die nehme ich mit. Aber eigentlich wäre es besser, wenn ich mich hier ins Bett lege und du meinen Job übernimmst.«

»Was soll Paula übernehmen?«, fragte Peer, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte. In seinen Armen lag ein Bündel. Und plötzlich drehte sich alles nur noch um den kleinen Ayk, und der Rest des Lebens schien stillzustehen.

10

Norddeutscher Rundfunk, Hamburg, Hugh-Greene-Weg

Trevisan kam an diesem Morgen früh ins Büro, es war kurz nach 7 Uhr, als er die Dienststelle betrat. Er zog sich in sein Büro zurück und telefonierte beinahe eine halbe Stunde, bevor er hinüber zu Monika ging, um ihr eine Notiz zu hinterlassen. Sie war bereits anwesend.

»Ich fahre nach Hamburg«, sagte er. »Ich habe dort einen Termin um 11 Uhr mit seiner Verflossenen.«

»Okay, Lentje und ich kümmern uns um diese Stalkerin, wir haben sie auf 10 Uhr vorgeladen.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Welche Stalkerin?«, fragte er.

»Rose Sielmann, du erinnerst dich, sie steht auf der Liste der Namen, die uns Frau Haferkamp genannt hat«, erklärte Monika Sander. »Ich habe sie überprüft, sie hat zwei Anzeigen wegen Stalking am Laufen, Ollmert hat sie angezeigt. Außerdem haben die Auricher Kollegen eine Gefährderansprache bei ihr durchgeführt, und ein Richter hat ein Annäherungsverbot erlassen. Die Frau scheint hartnäckig zu sein. 100.000 Euro, wenn sie gegen die Auflagen verstößt. Da lohnt es sich, einmal auf den Busch zu klopfen.«

Trevisan nickte. »Dann tut das. Ich bin gegen Abend wieder zurück.«

»Verfahr dich nicht«, rief ihm Monika Sander nach, als er das Büro verließ.

Die zweieinhalbstündige Fahrt im Dienstwagen nach Hamburg zum NDR war für Trevisan nervenaufreibend. Noch schlimmer war die Einlasskontrolle in das Gelände des NDR. Nicht nur, dass ihm ein Parkplatz unmittelbar nach der Zufahrt zugewiesen wurde, so brachte ihn auch noch ein Beamter vom Sicherheitsdienst zu dem mehrstöckigen Bürogebäude, in dem ihn Doreen Pleitgen erwartete. Und dies war nicht alles. Unterwegs nutzte der Sicherheitsbeamte die Zeit, um ihn auf die Sicherheitsbestimmungen auf dem Gelände hinzuweisen. Handy abschalten, keine Ton- und Bildaufnahmen, immer auf den direkten Routen bleiben und nicht in den gesperrten Bereich gehen, belehrte er ihn. Trevisan ermüdete die Prozedur. Doch damit nicht genug, im Bürotrakt musste er über eine halbe Stunde im Foyer warten, bis ihn eine junge Produktionsassistentin abholte und in den dritten Stock führte, wo er in einem gläsernen Besprechungsraum unmittelbar neben dem Fahrstuhl weitere zehn Minuten saß, bis Doreen Pleitgen Zeit für ihn hatte.

»Entschuldigen Sie«, begrüßte ihn die Nachrichtensprecherin, »wir hatten noch eine kurze Redaktionskonferenz. Eine Stunde hätte ich Zeit, dann muss ich in die Maske, wir zeichnen ein Gespräch mit Verkehrsminister Scheuer für die Sendung heute Abend auf. Es geht um die Zulassung der E-Roller, Sie haben sicherlich davon gehört.«

Trevisan nickte und reichte der Frau mit den langen, blonden Haaren und dem roten Kostüm die Hand. Er kannte die Moderatorin aus unzähligen Nachrichtensendungen. Sie bot Trevisan Platz an und fragte, ob er einen Kaffee oder ein Wasser haben wolle, doch Trevisan lehnte ab.

»Ich hörte schon, Enno ist spurlos verschwunden«, sagte die Frau, nachdem sie sich ebenfalls an den Tisch gesetzt hatte.

»Ich habe Ihr Interview in der ›Bild‹ gelesen.«

Sie lächelte. »Die haben mich kalt erwischt«, entgegnete sie, »das war nicht geplant.«

»Sie waren vier Jahre zusammen. Was für ein Mensch ist Enno Ollmert?«

»Sie haben wirklich keine Spur von ihm?«

Trevisan schüttelte den Kopf.

»Okay, das sieht ihm ähnlich. Ja, wir waren eine lange Zeit zusammen. Wir arbeiteten beide beim Sender und, was soll ich sagen? Er war ein attraktiver und lustiger Typ, jemand, der einen zum Lachen bringt, der in den Tag hineinlebt. Deswegen war ich auch sehr verwundert, als ich hörte, dass er Bürgermeister wird. Das passt so gar nicht zu ihm.«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Das verstehe ich nicht. Was meinen Sie mit dem Ausspruch, dass ihm das ähnlich sieht?«

»Tja, wie soll ich es ausdrücken? Verantwortung und überlegtes Handeln sind nicht so sein Ding. Er ist eben ein Bruder Leichtfuß und ein intuitiver Mensch. Es muss nicht immer alles gut gehen, was er anleiert, verstehen Sie? Und wenn ihm die Dinge über den Kopf wachsen, dann taucht er einfach ab, so wie damals.«

»Er hat sich damals von Ihnen getrennt?«

Doreen Pleitgen schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Es ging einfach nicht mehr. Seine ewigen Eskapaden, sein Lebensstil, er warf das Geld mit vollen Händen hinaus, Geld, das er gar nicht hatte. Ich habe damals unser Leben finanziert und ihm sogar aus der Patsche geholfen. Irgendwann war ich sicher, er wird mich mit in die Tiefe reißen, wenn ich bei ihm bleibe. Und dabei wechselte ich gerade intern zur ARD-Nachrichtenredaktion. Wissen Sie, wenn Sie sich den ganzen Tag über abrackern und schuften und etwas erreichen wollen, zwölf, 13 Stunden im Büro verbringen und dann nach Hause kommen und da ist jemand, der ihnen dazu Prügel in den Weg wirft, da müssen Sie irgendwann die Konsequenzen ziehen. Das hab ich dann auch gemacht. Ich sagte ihm, ändere dich oder geh. Dann war er verschwunden. Er wich dem Konflikt aus, tauchte ab. Ein paar dumme Sprüche und weg war er. Ein halbes Jahr später meldete er sich wieder und pumpte mich an.«

»Er hatte Schulden?«

»Wissen Sie, er ist wie ein Känguru, er hat nichts im Beutel und macht große Sprünge. Er spekulierte, Aktien und so, aber meist ging es schief. Wir sind dennoch irgendwie im Guten auseinandergegangen. Selbst als ich erfuhr, dass er eine Affäre mit einer jungen Produktionsassistentin hatte, war ich ihm nicht böse. Man kann ihm nicht wirklich böse sein. Er nimmt das Leben einfach nicht ernst. Es ist ein Spiel für ihn. Blöd war damals nur, dass dieses Mädchen die Tochter des Programmdirektors der Kultursparte war. Lotte Heigel, unserer Programmchefin, blieb gar nichts anderes übrig, als ihm die Kündigung nahezulegen. Aber er spielte den Unschuldigen, war sich keiner Schuld bewusst. Erst als er in die Chefetage zitiert wurde, dämmerte es ihm langsam, dass es für ihn eng werden würde, und er kündigte selbst. Er wäre sicherlich noch vor dem Ende der Woche entlassen worden.«

»Sie hatten Kontakt, habe ich in der Zeitung gelesen?«, fragte Trevisan.

Doreen Pleitgen nickte. »Wir telefonierten hin und wieder.«

»Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu ihm?«

Die Nachrichtenmoderatorin zückte ihr Handy und wischte über das Display. »Moment, das kann ich Ihnen sofort sagen.«

Es dauerte einen kurzen Moment, bis sie fündig wurde. »Das war … Moment … das war am 11. Juni, kurz vor Mitternacht. Er hat mir eine SMS geschickt und gefragt, ob ich noch wach bin. Ich habe ihn dann angerufen.«

»Worüber hat er gesprochen?«

»Zuerst über Belanglosigkeiten, über seinen Job und darüber, dass er wahrscheinlich schlechte Karten bei der nächsten Wahl hätte. Er machte Scherze und sagte mir, dass er ein paar Tage ausspannen muss.«

Trevisan wurde hellhörig. »Hat er gesagt, was er vorhat?«

Die Frau zuckte mit der Schulter. »Nicht direkt, nur, dass er sich Urlaub genommen hat und ein paar Tage ausspannen will. Im Süden, Italien oder Südfrankreich. Surfen, Sonne, Strand, sagte er, mehr nicht. Ich habe auch nicht gefragt.«

»Wollte er alleine fahren?«

»Das weiß ich nicht, darüber haben wir nicht gesprochen.«

Trevisan sah einen Schatten an der Glastür zum Besprechungsraum. Jemand klopfte.

»Ja!«, rief Doreen Pleitgen.

Die junge Produktionsassistentin streckte ihren Kopf herein. »Ich soll ausrichten: in zehn Minuten in der Maske. Scheuer kommt früher und hat im Anschluss einen weiteren Termin.«

Doreen Pleitgen seufzte. »Tja, so geht es hier bei uns zu. Politiker halten sich nie an Absprachen.«

Die Tür wurde geschlossen.

»Hatte er eine feste Beziehung?«, fragte Trevisan.

Die Moderatorin schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen, aber über sein Liebesleben haben wir nie miteinander gesprochen. Das Thema war tabu. Nur am Ende unseres Gesprächs, da wurde er seltsam ruhig. Er sagte, er habe da eine Sache am Laufen, die ihm nicht ganz geheuer ist. Ich spürte, dass er unter Druck stand. Ich sagte ihm, er soll keinen Blödsinn machen.«

Trevisan runzelte die Stirn. »Hat er gesagt, worum es geht?«

Doreen Pleitgen atmete tief ein. »Nein, das nicht, aber er sagte, vielleicht war es ein Fehler, sich mit diesen Leuten einzulassen.«

»Mit Leuten einzulassen?«, wiederholte Trevisan.

»Ja, ich fragte ihn danach, aber er lenkte ab, scherzte und sagte, dass er sich nach seinem Urlaub wieder meldet.«

»Mehr nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hatte er Kontakte nach Bremen, möglicherweise eine Beziehung zu einer Frau?«

Doreen Pleitgen lächelte. »Er hatte schon immer einen großen Einzugsbereich, aber davon weiß ich wirklich nichts. Falls ja, war die Frau bestimmt verheiratet.«

Trevisan schaute die Moderatorin fragend an.

»Er steht auf verheiratete Frauen, die wollen dasselbe wie er, Spaß und nicht mehr. Feste Beziehungen sind nicht sein Ding, und unverheiratete Frauen brachten ihm immer nur Ärger, sagte er einmal«, erklärte Doreen Pleitgen und schaute auf die Uhr. Sie erhob sich.

»Tut mir leid, ich muss in die Maske. Aber eines noch, der Reporter der ›Bild‹ sprach von einem Segelunfall, aber das ist kompletter Blödsinn. Als Kind war er beinahe jedes Wochenende mit seinem Vater auf dem Wasser. Ich glaube, er konnte segeln, bevor er laufen konnte.«

»Falls ich noch Fragen hätte …«

»Dann rufen Sie mein Büro an, ich melde mich dann bei Ihnen.«

»Danke.«

»Warten Sie hier, ich schicke Ramona vorbei, sonst kommen Sie nicht aus dem Gebäude«, verabschiedete sie sich.

»Eine Frage noch«, hielt Trevisan die Frau zurück. »Würden Sie ihm zutrauen, dass er seinem Leben selbst ein Ende setzt?«

Doreen Pleitgen schüttelte vehement den Kopf. »Das, Herr Kommissar, würde er sicherlich nicht tun, er hängt an seinem Leben, und bislang ist er immer irgendwie durchgekommen und auf die Füße gefallen. Auf dieses Glück vertraut er schon sein ganzes Leben.«

»Sie sprachen in dem Artikel von einem Selbstmordversuch«, hakte Trevisan nach.

»Das ist Blödsinn«, entgegnete die Moderatorin. »Glauben Sie den Journalisten nicht.«

»Wie kommt er dann darauf, so etwas zu schreiben?«

»Ich erzählte ihm von einem Streit, damals zu Anfang unserer Beziehung. Er wohnte im achten Stock eines Hochhauses in einer kleinen Wohnung in Hamburg. Er hatte wieder mal Geld ausgegeben, das wir eigentlich für einen Wagen sparen wollten. Ich war wütend und sagte ihm, dass ich ihn verlasse, da stieg er auf seinem kleinen Balkon auf die Brüstung und sagte, wenn er springt, dann habe ich meine Ruhe, mehr war da nicht. Er stand kaum eine Minute dort oben und wäre nie gesprungen, das können Sie mir glauben.«

»Eine allerletzte Frage noch: Was glauben Sie, was hinter seinem Verschwinden steckt?«, fragte Trevisan.

Doreen Pleitgen atmete tief ein. »Wenn Sie mich so fragen, dann glaube ich, ihm steht das Wasser wieder einmal bis zum Hals, und er ist einfach abgetaucht. Früher oder später taucht er irgendwo wieder auf, das ist alles. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss in die Maske.«

 

Trevisan verabschiedete sich von der Frau, die gleich darauf aus dem Raum stürmte. Was ist, wenn Doreen Pleitgen recht behalten sollte. Die Ermittlungen stockten und kamen keinen Schritt voran.

*

Kriminalpolizei Wilhelmshaven, Mozartstraße

Trevisan kam am frühen Abend zurück auf die Dienststelle und fand Monika Sander bei einem Kaffee in der Teeküche vor.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie, als Trevisan den Raum betrat. Sie sah ihm schon an, dass er gestresst war.

»Diese Autobahnen sind ein Graus. Ich frage mich, wie das Fernfahrer machen. Die meiste Zeit steht man im Stau oder fährt Stoßstange an Stoßstange.«

»Und die Moderatorin?«

»Eigentlich eine nette Frau, sie hatte noch Kontakt zu Ollmert, obwohl er sie damals betrogen hat.«

»Hat sie was gesagt, das uns weiterbringt?«

Trevisan zuckte mit der Schulter. »Eigentlich nicht viel. Nur, dass er wohl in einer Sache steckt, die ihm nicht ganz geheuer ist. Leider weiß sie nichts Konkretes, auch über eine Beziehung weiß sie nichts, nur schließt sie einen Segelunfall kategorisch aus. Sie meinte, er konnte schon segeln, bevor er laufen konnte. Sie glaubt, er ist abgetaucht, weil es eng für ihn wird.«

»Komisch, dass sie sich noch immer mit Ollmert abgab, wenn er sie hintergangen hat.«

Trevisan ging zum Kaffeeautomaten und stellte eine Tasse unter den Ausgießer. »Ollmert hat eben irgendwie einen Draht zu Frauen. Und die nehmen es ihm offenbar nicht krumm, wenn er es nicht ganz so genau mit der Treue nimmt.«

»So wie Rose«, entgegnete Monika Sander.

»Rose?«

»Rose Sielmann aus Wiesenstede«, erklärte Monika. »Ein armes Würstchen, das sich unsterblich in Ollmert verknallt hat.«

»Die Stalkerin?«

Monika zuckte mit der Schulter. »Stalkerin trifft es wohl nicht ganz richtig, wenn man ihr glauben darf. Zuerst war es ein One-Night-Stand, dann machte ihr Ollmert Hoffnung, und nachdem sie ihm beinahe 10.000 Euro in den Rachen geworfen hatte, machte er Schluss. Ließ sich verleugnen oder wich ihr aus. Sie ließ nicht locker, folgte ihm ins Büro, kam zu ihm ans Haus und so weiter. Dann zeigte er sie an.«

»Aber wenn er ihr doch noch Geld schuldete?«

»Zum einen konnte sie es nicht beweisen, und zum anderen sagten die Kollegen, dass sie das Geld einklagen müsse, so wie man es eben macht. Zwei Monate später die zweite Anzeige, dann lief das Programm ab. Gefährderansprache und Verfügung. Aber was viel wichtiger ist, sie hat zugegeben, dass sie ihm trotz dieser Verfügung hin und wieder folgt und beobachtet.«

Trevisan spitzte die Ohren. »Meinst du, sie hat was mit dem Verschwinden …«

Monika winkte ab. »Die tut keiner Fliege was zuleide, nein, das meine ich nicht. Sie ist einfach nur ein armes Würstchen. Ein Schäfchen, das einem reißenden Wolf in die Hände fiel. Sie träumt noch immer von der großen Liebe. Aber sie hat etwas beobachtet, das für uns von Bedeutung ist.«

»Sag schon!«, forderte Trevisan seine Kollegin auf.

»Bente Hoferland und Enno Ollmert haben sich am 12. Juni gegen 19 Uhr in Wilhelmshaven im ›Fellini‹ getroffen. Dort haben sie gegessen und verschwanden zwei Stunden später im Hotel ›Banter Hof‹. Sie blieben dort über Nacht. Ollmert hat gegen 6 Uhr das Hotel verlassen und ist mit seinem Porsche weggefahren, die Hoferland folgte eine Stunde später. Sie hat uns angelogen, die haben nach wie vor etwas miteinander.«

»Wo war ihr Mann?«

»Ich habe es überprüft, er war auf Geschäftsreise. Von Montag bis Donnerstag in Prag auf einem Biersymposium. Aber ich habe noch etwas herausgefunden.«

Trevisan blickte seine Kollegin fragend an.

»Alrik Hoferland ist ebenfalls Mitglied im Jachtklub Neßmersiel«, sagte sie. »Seine Jacht heißt ›Gabi‹ und liegt nur drei Ankerplätze von Ollmerts Jacht entfernt.«

Trevisan schnalzte mit der Zunge. »Ich denke, wir sollten noch einmal eindringlich mit den Hoferlands sprechen.«

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