Die Wiege des Windes

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6

Rike schlich sich zur Wohnungstür und horchte angestrengt ins Treppenhaus. Zwar hatte das Schaben aufgehört, dennoch spürte sie instinktiv, dass sich auf der anderen Seite der Tür ein Mensch befand. Vielleicht Larsen? Er war in letzter Zeit oft in krumme Geschäfte verwickelt gewesen. Konnte sein, dass er nicht gesehen werden wollte. Aber warum klopfte er dann nicht?

Oder kam der Einbrecher zurück? Aber warum? Hier gab es nicht viel zu holen. Die Einrichtung war zwar nicht von schlechten Eltern, doch von den 7500 Mark, die sie im Bad hinter einer Kachel versteckt hatte, konnte nicht einmal Larsen etwas wissen. Draußen knackte es erneut. Rike erschrak. Sie beobachtete die Türklinke, doch nichts tat sich. Wie war der Kerl nur ins Haus gekommen? Außer ihr bewohnte niemand das Gebäude, und das Immobilienbüro hatte schon seit Wochen geschlossen. Einen Augenblick lang überlegte sie, die Polizei zu rufen, doch sie verwarf den Gedanken. Seit sie vor knapp einem Jahr in Hamburg nach der Demo gegen die fortschreitende Globalisierung und die immer himmelschreiender werdende Armut in den Ländern Afrikas einem Polizisten das Nasenbein gebrochen hatte, war ihr Verhältnis zu den Ordnungshütern gespalten. Eigentlich war es Notwehr gewesen, weil der Polizist sie begrabscht hatte. Er hatte sie angefasst, obwohl sie nur friedlich auf dem Boden gesessen und sich bei ihren Mitstreitern eingehakt hatte. Der Richter hatte über ihre Einwände nur gelacht und sie verurteilt. Achttausend Mark hatte sie der Spaß gekostet.

Das Knacken wiederholte sich. Rike legte vorsichtig die Hand an die Türklinke. Hochkonzentriert lauschte sie in die Stille. Dann hörte sie leise Schritte, die sich entfernten. Es knackte erneut, weiter weg diesmal. Zweifellos knarrte die dritte Stufe der alten Holztreppe. Jemand ging die Stufen hinunter.

Sie rannte in das Wohnzimmer, immer bedacht darauf, keinen Lärm zu verursachen. Verborgen hinter dem Vorhang beobachtete sie die Straße, die im Schimmer der Laternen unter ihr lag. Ein Mann, dunkel gekleidet, etwa einen Kopf größer als sie und muskulös, ging auf den BMW zu. Auf der Beifahrerseite blieb er kurz stehen und schaute in ihre Richtung. Erschrocken zog sie den Kopf zurück. Das Gesicht des Mannes lag im Dunkeln, aber im Widerschein der Straßenlaternen und einer Weihnachtsgirlande am Geschäft gegenüber hatte sie ein glänzendes Brillengestell erkannt.

Sie ließ sich zu Boden gleiten und spähte erneut aus dem Fenster. Der Mann stieg in den Wagen. Das Auto fuhr unter ihrem Fenster vorbei und bog in Richtung Kirche ab. Sie hatte vergebens gehofft, einen Blick auf die Gesichter zu erhaschen.

Verdammt, was sind das nur für Typen, fragte sie sich. Sie überlegte fieberhaft. Es blieb nur eine Erklärung: Larsen. Bestimmt waren sie hinter ihm her. Sie wusste, dass er sich nicht nur mit Gras und Shit begnügte, sondern auch diesem synthetischen Zeug verfallen war, diesem Dreck aus den Labors der neuen Dealergeneration. Deswegen hatte er sich verändert und deswegen hatten sie in letzter Zeit oft Streit gehabt. Sie dachte an Maikes Worte. Eine große Sache, was mochte das sein? Schuldete er den Männern Geld? Das wäre typisch für ihn. Zwei Mann in einem großen BMW mit ausländischem Kennzeichen – diese Typen wollten nicht nur reden, die würden auch handeln.

Sie würde keine Minute länger in dieser Wohnung bleiben. Und sie musste unbedingt Larsen finden, jetzt.

Ihre Müdigkeit war verflogen. Fünf Minuten später verließ sie die Wohnung. Heimlich schlich sie sich durch die Hintertür. Sie nahm ihr altes Fahrrad und fuhr den Alten Postweg hinauf. Der BMW war verschwunden.

*

Kriminaloberrat Kirner war an diesem Tag früh im Büro. Der Feiertag war deutlich zu spüren. An den Ampeln hatte er nicht lange warten müssen und Parkplätze gab es in Hülle und Fülle. Es kam ihm vor, als wäre er der Einzige, der zum Dienst musste. Eigentlich kam ihm die Arbeit gerade recht. Es war Tradition im Hause Kirner, dass am ersten Feiertag die Verwandten zu Besuch kamen. Und zu seiner Schwiegermutter, dieser launischen und immerzu nörgelnden alten Dame, hatte er ein ausgesprochen angespanntes Verhältnis.

Köster war es tatsächlich gelungen, Fingerprints auf dem Briefumschlag zu sichern. Er hatte sie noch am gestrigen Abend in das automatische Fingerabdrucksystem des Bundeskriminalamtes eingespeist. Sollten dort bereits Vergleichsabdrücke gespeichert sein, war es nur eine Frage von Stunden, bis ein Tatverdächtiger ermittelt war. Schließlich ging es bei diesem Fall um ein Kapitaldelikt und die Kollegen vom Streifendienst, die vor Essers Haus Wache hielten, wären sicherlich an einer schnellen Aufklärung und ihrer Ablösung interessiert. Doch leider hatte der Computer noch nichts ausgespuckt. Auch das BKA in Wiesbaden war wegen der Festtage unterbesetzt.

Dennoch kam Kirner nicht ganz vergebens. Die Regis­tratur hatte den Strafregisterauszug von Friederike van Deeren geliefert, der Umweltschützerin, die ihre Studie in der gleichen Sorte Umschlag an Esser geschickt hatte, in der auch die Briefbombe gesteckt hatte. Kirner nahm die Akte zur Hand. Eine typische militante Umweltaktivistin. Farbanschläge auf Boote eines Yachtclubs, Beteiligung an einem Brandanschlag auf ein Baggerschiff, Einbruch, Landfriedensbruch, Nötigung, Beleidigung und – Kirner musste schmunzeln, als er den Tatvorwurf las – tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten in Tateinheit mit Körperverletzung. Trotzdem hatte der Richter im letzten Fall von einer Haftstrafe abgesehen. Alle Delikte standen im Zusammenhang mit ihrer Überzeugung. Nur bei dem Polizeibeamten in Hamburg hatte sie sich offenbar von ihrer Wut verführen lassen. Und jetzt einen Briefbombenanschlag auf den stellvertretenden Leiter der Nationalparkverwaltung Wattenmeer? Für Kirner passte das nicht zusammen. Dabei hatte er genügend Indizien in der Hand, sie als Hauptverdächtige anzusehen.

Sogar das Motiv hatte sie Esser ein paar Wochen zuvor mitgeteilt. Kirner legte die Akte beiseite und nahm die knapp zweihundertfünfzig Seiten starke Dokumentation zur Hand. Die Auswirkungen der Überbeanspruchung von Schutzzonen auf die Natur und Umwelt. Kirner las die ersten Zeilen. Die Überschriften legten dar, welche Themen von ihr untersucht worden waren. Sanfter Tourismus und dessen Auswirkungen auf die küstennahen Zonen. Ökonomische Nutzung des Wattenmeers in Betracht auf Flora und Fauna. Einfluss von Industrieanlagen auf die Hellerwiesen und die Marsch. Die Schifffahrtsrouten und das Robbensterben. Das Ausbleiben der Seehundpopulation im Roten Sand und die Auswirkungen der Felderbewirtschaftung auf den Bewuchs im Küstengebiet. Offenbar hatte sie sich große Mühe bei ihren Forschungsarbeiten gegeben. Eine intelligente und gescheite Frau. Sie hatte ihr Studium mit einer Traumnote abgeschlossen. Bestimmt war nur ihr zwielichtiges Privatleben daran schuld, dass sie nicht bereits bei irgendeiner staatlichen Stelle oder einem renommierten Labor arbeitete.

Besonders die letzte Seite ihrer Ausarbeitung war ein gefundenes Fressen für die Staatsanwaltschaft. Denn dort warf sie der Nationalparkverwaltung schwere Versäumnisse und falsche Entscheidungen vor, die in absehbarer Zeit die Natur irreparabel schädigen würden. Als Beispiel führte sie die Genehmigung des Ausbaus der Schifffahrtswege in der Alten Weser an, die ungeahnte Auswirkungen auf den Vogelbestand auf Mellum hätten. Aber auch die Rückstufung einiger Flachwassergebiete von der Schutzzone II in die Kategorie IV und die damit verbundene Zulässigkeit einer eingeschränkten wirtschaftlichen Nutzung sowie die Aufhebung einiger Verbote, die noch aus der Zeit des großen Robbensterbens Ende der achtziger Jahre stammten, wirkten sich nachteilig auf die Robbenpopulationen im Wattenmeer aus. Zu guter Letzt machte sie eine verfehlte Politik für das Desaster verantwortlich und forderte ultimativ die Rücknahme sämtlicher in den letzten Jahren getroffener falscher Entscheidungen. Unterschrift: Friederike van Deeren.

Sollten jetzt auch noch ihre Fingerabdrücke oder DNA-Spuren auf dem Briefbomben-Kuvert zu finden sein, dann wäre alles andere als eine Verurteilung ein Wunder. Bereits jetzt hätte das Material für einen Haftbefehl ausgereicht. Doch angeblich war Friederike van Deeren in Australien. Selbst wenn dieses Alibi stimmen sollte, konnten Komplizen das Kuvert zugestellt haben. Das würden die Ermittlungen schon noch ergeben. Dennoch zögerte Kirner. Bei jedem anderen Fall hätte er bereits mit dem Staatsanwalt telefoniert, einen Haftbefehl erwirkt und die Frau zur Fahndung ausgeschrieben, doch sein Gefühl sagte ihm, dass er noch warten sollte.

*

»Sauter hat abgesagt?!« Trevisan schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich glaube, ich spinne! Hat abgesagt, der feine Herr. So wie man ein Kaffeekränzchen absagt oder nicht zum Kurkonzert erscheint. Der hält sich wohl für etwas Besseres! Er ist aber noch nicht versetzt und gehört nach wie vor zu unserer Abteilung. Verdammt noch mal, wir haben da draußen eine Leiche!«

Johannes Hagemann schaute Trevisan unterwürfig an. »Was will ich machen?«

»Lutger ist tot und du bist jetzt der Chef«, antwortete Trevisan ungehalten. »Du wirst ihn jetzt noch einmal anrufen und ihn herzitieren.«

Johannes Hagemann schüttelte verlegen den Kopf. »Das ist nichts für mich. Ich bin kein Chef. Und nur weil ich der Älteste bin, schon zweimal nicht.«

»Verdammt, Johannes! Seit Monaten tanzt der schon aus der Reihe. Jetzt reicht es ein für alle Mal. Ich werde mir den Kerl zur Brust nehmen.« Trevisan ging zum Telefon.

»Aber denk doch an die Folgen«, hielt ihn Johannes zurück. »Bald geht er auf diese Schule und dann kommt er am Ende noch als dein Chef zurück. Und sein Onkel ist Staatssekretär.«

»Und wenn er Kaiser von China wäre! Das lassen wir uns nicht gefallen. Jeder von uns hätte heute Termine. Es ist schließ­lich Weihnachten.«

 

Die Tür wurde aufgestoßen und Dietmar Petermann betrat das Zimmer, im dunklen Anzug und einem weißen, mit Rüschen besetzten Hemd. Dazu trug er eine orange-grün gemusterte Krawatte. Er blickte griesgrämig drein. »Verdammt, ausgerechnet heute! Dabei hätte ich einen kleinen Solopart zu singen. Das macht jetzt Frieder. Wofür habe ich wochenlang geübt?«

»Tut mir leid«, antwortete Johannes. »Aber wir brauchen jeden Mann. Wir haben eine männliche Leiche.«

»Und die Suche nach seiner Identität wird schwierig«, warf Trevisan ein. »Der gute Mann hat nämlich keinen Kopf mehr.«

»Enthauptet?«

»Nicht direkt«, erklärte Hagemann. »Ein Bootsmotor hat ihm den halben Kopf zermatscht. Da ist nicht mehr viel übrig.«

»Absichtlich?«

»Das sollten wir seinen Mörder fragen«, erwiderte Trevisan.

»Die Obduktion ist um elf«, sagte Hagemann. »Ich werde mit Trevisan hingehen. Du kümmerst dich bitte um die Vermisstendateien und machst eine Überprüfung in Würzburg.« Hagemann erzählte Dietmar die weiteren Umstände des Leichenfundes und informierte ihn über den aufgefundenen Rucksack.

Dietmar Petermann sah sich fragend um. »Und wo ist Markus?«

»Der hat abgesagt«, antwortete Trevisan schnippisch. »Bereitet sich wohl schon auf seine Tage als Polizeidirektor vor. Und du weißt doch, wer führen will, muss frei sein – vor allem von Arbeit.«

»Der und Polizeidirektor«, entgegnete Petermann. »Da machen sie doch auch nur wieder den Bock zum Gärtner. Wenn sein lieber Onkel nicht wäre, würde der immer noch die Parkplätze am Bahnhof bewachen.«

Ein Hustenanfall schüttelte Johannes. Es schien, als ob er keine Luft mehr bekäme. Trevisan klopfte ihm auf den Rücken, während Dietmar Petermann ein Glas Wasser einschenkte.

Als sich Johannes wieder beruhigt hatte und zusammengesunken auf dem Stuhl saß, musterte ihn Trevisan. »Wäre es nicht besser, wenn ich mit Dietmar zur Obduktion ginge und du würdest dich um die Vermisstenfälle kümmern?«

Hagemann schüttelte vehement den Kopf. »Du weißt, dass ich Computer hasse. Das geht schon, lasst mich nur ein paar Minuten ruhig hier sitzen. Noch lebe ich.«

7

Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Alexander Romanow wälzte seinen üppigen Körper auf die rechte Bettseite und suchte schlaftrunken nach der Nachttischlampe. Er war entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten alleine im Bett. Griesgrämig griff er nach dem Telefon auf dem Nachttisch. Ein krächzendes »Ja«, mehr hatte er für den Anrufer nicht übrig.

Das Gespräch dauerte nicht lange, dennoch war Romanow eine Spur zuversichtlicher, als er den Hörer zurück auf die Gabel legte. Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Endlich kam die lang ersehnte Bewegung in die Sache. Vor zwölf Stunden hatte er fast geglaubt, es wäre alles verloren, sein Leben keinen Pfifferling mehr wert, doch nun strahlte seine Miene wieder Zuversicht aus, wenngleich Folgen der allzu kurzen Nacht in seinem Gesicht Furchen hinterlassen hatten.

Wenn nur erst einmal wieder die Daten in Sicherheit wären, dann könnte man sich getrost um den zweiten Schritt kümmern.

Damals, als er das Geschäft eingefädelt und die Investoren der Laufzeit zugestimmt hatten, war er glücklich gewesen wie ein kleines Kind. Er hatte die Hoffnung gehabt, endlich seine Träume realisieren zu können.

Vor mehr als zwanzig Jahren, als er hinter den roten Mauern im Kreml Akten und Geschäftsbriefe unterschrieben hatte, die das Papier nicht wert waren, auf dem man sie gedruckt hatte, hatte er hinter dem Bild von Breschnew eine Postkarte versteckt, die einen Sandstrand auf Mauritius­ zeigte. Vor nicht ganz zwei Jahren hatte er sich in den Westen aufgemacht, um seinen Traum zu verwirklichen. Und es hatte lange Zeit ausgesehen, als wäre alles nur noch eine Frage der Zeit. Doch dann kam die schicksalhafte Wendung, die ihn weit zurückgeworfen hatte. Und nun … Geld lagerte genug auf den schwarzen Konten, doch es gehörte nicht ihm. Wenn er sich daran vergriff, musste es gut vorbereitet sein, denn das Risiko war hoch. Er wusste, mit wem er sich eingelassen hatte und wie wenig Spaß die verstanden, wenn es um ein gebrochenes Versprechen ging. Erst wenn alles verloren war und er keine andere Möglichkeit mehr sah, würde er seinen Plan B in die Tat umsetzen.

Alles war ganz anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Sein perfektes Geschäft hing an einem seidenen Faden. Nicht nur die Steine, die ihm dauernd in den Weg gelegt wurden, auch das Versagen seiner Männer in letzter Zeit setzten ihm zu. Deshalb hatte er ein ultimatives Zeichen setzen müssen. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Aber nur ein paar Tage später hatten seine Vertrauten schon wieder einen unsäglichen Fehler begangen. Dazu noch dieses verrückte Land, dieser Bananenstaat, bei dem Nein – Ja hieß und jawohl – vielleicht. Mit dieser Schildbürgeradministration hatte er nicht gerechnet. Im Osten war Deutschland der Inbegriff von Zivilisation und Wohlstand gewesen, von Rechtsstaatlichkeit und funktionierendem Sicherheitsgefüge. Inzwischen wusste er es besser. Dieses Land war unberechenbar und eigentlich auch unregierbar. Und wenn man eine Erlaubnis in den Händen hielt, dann war die heute genauso viel wert wie damals die Akten im Kreml.

Aber jetzt war doch noch Bewegung in die Sache gekommen. Und irgendwann mussten diese ewigen Fehlschläge ein Ende haben. Er konnte nicht sein ganzes Leben nur noch vom Pech verfolgt werden.

Er knipste das Licht aus und kuschelte sich in seine Bettdecke. Das Rauschen, das gedämpft durch das geschlossene Fenster ins Innere drang, war der Regen, der dem Wetterbericht nach eigentlich längst zu Schnee hätte werden müssen. Doch nicht einmal den Meteorologen konnte man in diesem Land trauen.

*

Rike hatte sich im Schutz der Dunkelheit über das Nachbar­grundstück geschlichen und das Fahrrad über den Zaun gehoben. Den BMW hatte sie nicht mehr gesehen. Am ersten Feldweg war sie links in Richtung Neue Welt abgebogen. Die feuchte Kälte fraß sich langsam durch ihre schwarze Daunenjacke. In der Antarktis war es um ein Vielfaches kälter, aber das war eine für den Körper leichter erträgliche Kälte. Sie ärgerte sich, dass sie in der Eile vergessen hatte, ihre Thermowäsche anzuziehen. Wer dachte in so einer Situation schon an Unterwäsche.

Sie schaltete ihr Fahrradlicht nicht ein. Trotzdem erkannte sie im fahlen Mondschein den Weg. Sie warf des Öfteren einen Blick zurück. Diese Kerle hatten ihr einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Der Mann vor ihrer Wohnungstür hatte einen Körperbau wie der Rausschmeißer einer Bar auf Sankt Pauli. Verdammt, in was für einen Schlammassel hatte Larsen sie gebracht?

Corde war der Einzige, der wissen konnte, was hier vorging. Er würde vielleicht auch wissen, wo Larsen steckte. Sollte der den Kerlen Geld schulden, dann würde sie es in Gottes Namen bezahlen, damit sie ihre Ruhe hatte.

Beim Leybuchtpolder bog sie in Richtung Greetsiel ab. Mitt­ler­weile spürte sie ihre Finger nicht mehr und war gottfroh, als sie endlich kurz vor Hauen in den kleinen Feldweg einbog. Bald würde sie in eine warme Decke gewickelt auf Cordes Couch sitzen und eine heiße Tasse Tee trinken.

Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille der Nacht. Rike fuhr zusammen. Ein Schuss dröhnte durch die Dunkelheit. In­stinktiv zog sie den Kopf ein und lenkte das Rad in den Straßengraben. Sie fing den Sturz mit ihren Händen ab und kauerte sich auf den feuchten Boden.

»Verschwindet, ihr Hunde!«, dröhnte eine Stimme durch die Dunkelheit. »Ich habe noch genug Munition in meinem Lauf!«

»Verdammt, Corde«, murmelte Rike. Sie hob den Kopf und schrie: »Corde! Hör auf zu schießen! Ich bin es, Rike. Bist du verrückt geworden?«

»Bist du alleine?«

»Nein, ich habe hundert Mann bei mir«, schrie sie erbost zurück.

»Dann komm heraus!«

Rike richtete sich langsam auf und griff nach ihrem Fahrrad. Von weitem erkannte sie neben der Eingangstür die schattenhafte Gestalt eines Mannes, der ein Gewehr in der Hand hielt. Die andere Hand steckte in einem dicken weißen Handschuh. Er zielte auf sie.

»Mensch, Corde, nimm das Gewehr runter, bevor noch was passiert!«

Der Schatten entspannte sich.

*

Trevisan fröstelte, als er mit Johannes Hagemann den langen, weiß gekachelten Gang im Keller des Rechtsmedizinischen Insti­tuts entlang schritt. Der Ort, wo den Toten die letzten Geheimnisse entrissen wurden, verlangte ihm viel ab. Schließlich lag auf dem kalten Aluminiumtisch ein Mensch. Und wenn er jetzt auch tot war, hatte er doch einmal gelebt, geliebt und gefühlt.

Hagemann klopfte an die Tür mit der Aufschrift Raum 1. Der Chefpathologe Doktor Mühlbauer öffnete. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Hallo, meine Herren. Sie sind ein paar Minuten zu früh. Aber kommen Sie nur herein.«

Trevisans Herzschlag beschleunigte sich. Er spürte das Pulsieren des Blutes in seinen Schläfen.

»Keine angenehme Sache«, sagte Mühlbauer. »Ausgerechnet heute und so kurz vor dem Essen. Bei uns gibt es in der Kantine Gans mit Knödeln und Rotkohl.«

Er lotste die beiden Kripobeamten durch eine weitere Tür in den Obduktionsraum. Der Tote lag mit einem weißen Leichentuch bedeckt auf dem Seziertisch in der Mitte des Raumes, einer einfachen Bahre mit Aluminiumoberfläche. Darüber verströmte eine Arbeitsleuchte aus starken Neonstrahlern ein helles und unnatürlich abweisendes Licht.

»Eine Wasserleiche ist immer eine ganz besondere Sache«, erörterte Mühlbauer mit einem deplatzierten Lächeln. »Vor allem, wenn sie ein paar Wochen alt ist. Also, wenn jemandem schlecht wird, dort ist die Toilette.« Er deutete auf eine Tür am Ende des Raumes.

Trevisan nickte. Er kannte sich hier aus.

Doktor Mühlbauer fuhr den kleinen Rollwagen mit seinen Instrumenten neben die Bahre und aktivierte das Mikrophon, das über ihm schwebte. Nach einem kleinen Funktionstest griff er nach dem Tuch und zog es in einem Ruck von dem Toten.

Die Leiche war aufgedunsen, die Haut bleich, fast schon alabasterfarben. Auf dem Oberkörper waren Striemen und Schnitte zu sehen, die unter dem Schein der Lampe violett erschienen. Vom Kopf war nur eine fleischige Masse übrig.

Trevisan wandte den Blick ab.

»Also, die Identifizierung wird nicht leicht«, erklärte Doktor Mühlbauer. »Mit dem Zahnschema kommen wir da nicht weiter. Auch mit den Fingerabdrücken sieht es nicht gut aus. Das wird wohl auf einen DNA-Test hinauslaufen. Und so viel ist auch sicher: Die Wunden am Kopf wurden weit nach seinem Tod zugefügt. Die Ränder sind ohne Einblutungen.«

Trevisan sah sich um. In der Ecke standen drei Plastikstühle. Er legte Johannes Hagemann die Hand auf die Schulter und deutete auf die Stühle.

»Nein, ich bleib hier stehen«, sagte Hagemann. »Aber setz dich nur. Du versäumst nichts. Auch da drüben wird es bald furchtbar stinken.«

Doktor Mühlbauer fuhr mit seiner Arbeit fort. »Obduktion einer männlichen Leiche zwischen 20 und 50 Jahre. Fundort: Großer Hafen, Nordufer. Die Hände sind auf dem Rücken mit einem Hanfstrick zusammengebunden. Oberflächliche Schnittwunden befinden sich auf der Brust, dem Oberkörper und dem Oberbauch …«

Mühlbauer hob die Leiche an und drehte sie auf die Seite. Trevisan erkannte einen Teil des Gebisses und eine leere Augenhöhle. Er wandte den Blick ab.

»… und auf dem Rücken«, beendete Mühlbauer den Satz. Dann stoppte er die Bandaufzeichnung. »Er ist kurz vor seinem Tod mit einem Messer malträtiert worden. Wirkt wie die Spuren einer Folterung.«

Die nächsten beiden Stunden waren für Trevisan eine Tortur. Zuerst stank es nach verfaultem Fleisch, dann roch es nach Urin, und als Mühlbauer mit einem spitzen Gegenstand vorsichtig in den Bauchraum stach, entwichen die Gase aus dem Leichnam und Trevisan würgte. Einen Augenblick lang hielt er es für angebracht, die Toilette aufzusuchen, doch er bekam sich wieder in den Griff.

Als Doktor Mühlbauer nach zwei Stunden die Säge zur Seite legte und die Handschuhe abstreifte, wussten die Ermittler, dass der Tote an die dreißig Jahre alt und seit etwas mehr als drei Wochen tot und zuvor mit teils tiefen Schnitten, ausgeführt mit einem extrem scharfen Messer oder Dolch, gefoltert worden war. Gestorben war er an in seine Lungen eindringendem Wasser, er war ertrunken. Die schweren Kopfverletzungen stammten von der Schraube eines Schiffsmotors.

Das passte in das Bild, das sie sich bereits am Tatort gemacht hatten. Der Körper hatte sich in den Wasserpflanzen auf dem Grund des Hafens verfangen und war, nachdem sich bei gerade mal vier Grad Wassertemperatur nur langsam die Fäulnisgase im Bauchraum gebildet hatten, Richtung Oberfläche getrieben. Erst dabei hatte vermutlich der Kopf des Toten Kontakt mit der Schiffschraube eines Außenbordmotors gehabt. Die restlichen um die Beine gewickelten Schlingpflanzen hatten die Leiche immer noch unter Wasser festgehalten. Erst als sich der Angelhaken des Fischers in ihrer Kleidung verfangen hatte und kräftig an der Angelschnur gezogen wurde, konnte der Tote im brackigen und trüben Wasser entdeckt werden.

 

Die Schiffsschraube hatte eine Identifizierung anhand eines Zahnschemas unmöglich gemacht. Darin lag das Problem. Ohne die Personalien des Toten waren weitere Ermittlungen äußerst schwierig.

*

Die Auswertung der Fingerabdrücke traf um 14 Uhr beim Landeskriminalamt in Hannover ein. Kriminaloberrat Helmut Kirner war nicht überrascht. Die Fingerabdrücke auf dem Kuvert der Briefbombe waren in den Dateien des BKA gespeichert. Sie gehörten Friederike van Deeren.

Das Dossier, das mögliche Motiv, der Umschlag und jetzt auch noch die Fingerprints, nun konnte er nicht mehr anders. Jetzt ließ es sich trotz des Feiertags nicht vermeiden, den Bereitschaftsstaatsanwalt ins Amt zu rufen, um einen Haftbefehl und eine Öffentlichkeitsfahndung zu erwirken. Der Tatvorwurf war eindeutig: Mordversuch in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz. Kirners Erfahrung nach bedeutete das mindestens zehn Jahre Haft für die junge Frau.

Er legte das Fax auf seinen Schreibtisch und griff zum Telefon.