Dem Logos zuhören

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„als solcher dem strömenden Bewusstsein kontinuierlich ‚immanent’, deskriptiv ‚in’ ihm [sc. ist], wie auch deskriptiv in ihm ist das ‚ein und dasselbe’. Dieses In-Bewusstsein ist ein völlig eigenartiges Darinsein, nämlich nicht Darinsein als reelles Bestandstück, sondern als intentionales, als erscheinendes Ideell-darin-Sein oder, was dasselbe besagt, Darin-Sein als sein immanenter ‚gegenständlicher Sinn’. Der Gegenstand des Bewusstseins in seiner Identität mit sich selbst während des strömenden Erlebens kommt nicht von außen her in dasselbe hinein, sondern liegt in ihm selbst als Sinn beschlossen, und das ist als intentionale Leistung der Bewusstseinssynthesis.“51

So tut sich in der Immanenz der klaren und unverstellten Erlebnisse eine Transzendenz auf, und die Erlebnisse gestatten es, zum Wesen (Eidos) der Dinge zu gelangen. Husserl nennt diesen Schritt des Transzendierens eidetische Reduktion52. Damit gelangt er zur Typik, d. h. der tragenden Struktur aller möglichen Betrachtungsweisen, und verleiht der phänomenologischen Analyse allgemeine Gültigkeit und Wahrheitsanspruch:

„In all dem aber waltet – und das macht Wissenschaftlichkeit, Beschreibung, phänomenologisch-transzendentale Wahrheit möglich – eine feste Typik […]. Die Welt des Lebens, die alle praktischen Gebilde (sogar die der objektiven Wissenschaften als Kulturtatsachen, bei Enthaltung von der Teilnahme an ihren Interessen) ohne weiteres in sich aufnimmt, ist freilich in stetem Wandel der Relativitäten auf Subjektivität bezogen.“53

Hierdurch wird ein Bezug von objektiver Wahrheit auf Subjektivität hergestellt, der den Gegensatz von Subjektivismus des Psychischen und dem Objektivismus des Rationalen überwindet54. Der Weg des Phänomenologen führt also jenseits allen Positivismus55 über die Anschauung oder Intuition oder das Gefühl, die immer legitime Erkenntnisquellen sind, hinaus zum Wesen des Dings selbst.

Der phänomenologische Begriff des Erlebnisses ist dabei weit zu fassen. Es geht nicht nur um die Wahrnehmung der dinglichen Welt. Nicht nur das sinnenhafte, sondern auch jede Art geistlichen oder religiösen Erfahrens fällt darunter. Hinter jeder religiösen Erfahrung und jeder ethischen Haltung steckt eine Struktur des Erlebens im phänomenologischen Sinne, die herausgearbeitet werden kann56. Die Phänomenologie hat daher, so ist gesagt worden, zu einem religiösen Gegenstand oder einem ethischen Wert die gleiche Einstellung wie etwa zu der Farbe Rot57. Auf dieser Grundlage konnten prominente Religionsphänomenologen wie R. Otto (1869 – 1937) oder G. v. d. Leeuw (1890 – 1950) wichtige Beiträge58 zum Verständnis des religiösen Phänomens leisten.

Die Frage nach Gott, dem religiösen Gegenstand par excellence, phänomenologisch und damit mit großem subjektiven Akzent anzugehen, birgt allerdings gewisse Zweideutigkeiten. Die Konstitution der Dinge im Bewusstsein wird problematisch, wenn es um die Frage religiöser Erfahrung schlechthin und insbesondere um die Frage nach Gott, zumal von einem christlichen Standpunkt aus, geht. Das Instrumentarium der Religionsphilosophie kann Anschauungsmaterial liefern; dessen theologische Deutung aber kann sie nicht übernehmen. Als Erkenntnistheorie muss sie daher auf andere, ontologische und theologische Instanzen verweisen. Tatsächlich gibt es eine neuere Strömung der Phänomenologie, die, in die Nähe der Hermeneutik rückend, von einem Gott, der ist, zugunsten eines Gottes, der sein kann59, absehen möchte. Das hat zur Folge, dass dieser Ansicht nach Gott nur sein kann, wenn der Mensch dies ermöglicht60, dass Gott geradezu von uns abhängt61. Diese Sichtweise wendet sich ab von einer ontologischen und hin zu einer ethischen, allenfalls eschatologischen Bedeutung Gottes als das Ziel. Dem religiösen Leben dürfte aufgrund individueller Einsichten die Freiheit zukommen, die Welt zu einem gerechteren und liebevolleren Ort zu machen oder nicht62. Dieser Ansatz erscheint in zweierlei Hinsicht attraktiv: Zum einen tritt er im Sinne des Neuen Denkens von vornherein der Versuchung entgegen, sich Gottes, wenn auch nur im Den ken, zu bemächtigen, und wahrt zugleich ganz und gar sein Geheimnis63. Gott verschafft sich durch den Menschen Eintritt in die Welt, begibt sich aber nicht in seine Verfügungsmacht und kann sich auch wieder entziehen64. Dem entspricht das Verständnis der Person des anderen als eine Art Entzugserscheinung: Sie erscheint und entzieht sich und würde aufhören Person zu sein, wenn man sie verstanden hätte65. Des Weiteren öffnen sich scheinbar große und weite Tore für den interreligiösen Dialog. Es kommt vermeintlich nur noch darauf an, dass Gott sich im Bewusstsein sowie im ethischen Handeln Geltung verschafft. Der durch eine solche Haltung mögliche Fortschritt für das Zusammenleben der Menschen in der Welt ist nicht in Abrede zu stellen66. Allerdings erweist sich eine phänomenologisch zugespitzte Aussage über Gott als eines lediglich vom Menschen bedingten Möglichen und nicht als reines Sein an sich als nicht vereinbar mit der vorliegend zu erörternden Fragestellung.

Sieht man jedoch genauer hin, ist ein solcher Schluss aus dem phänomenologischen Ansatz heraus nicht zwingend. Zwar tritt der Phänomenologe, allen voran Husserl, mit der prinzipiellen Behauptung in die Diskussion, die Dinge seien nicht an sich, sondern im Bewusstsein konstituiert. Jedoch ist es nötig, sorgfältig zwischen der phänomenologischen Methode und dem Gegenstand der Erkenntnis zu differenzieren. Der Schluss, Gott sei nicht, sondern er sei nur möglich, ist aus Husserls Phänomenologie nicht herzuleiten, im Gegenteil: Husserl selbst hat nie die lange philosophische Tradition verlassen, die von der Antike über das Mittelalter bis hin in die Neuzeit reichte und als die drei bestimmenden, unterschiedlichen und doch zusammen hängenden Wirklichkeiten das Ich, die Welt und Gott ausmachte67. Er ist nur einen anderen Weg der Erkenntnis gegangen, indem er nämlich die Transzendenz Gottes wie jede andere Transzendenz auch, also alles, was außerhalb des Bewusstseins zu liegen kommt, im Schritte der Reduktion ausschaltete. Damit knüpft Husserl zwar an den methodischen Zweifel von R. Descartes an68, lässt ihn aber insofern hinter sich, als er keine Aussage, nicht einmal eine zweifelnde, über das Eingeklammerte macht69. Aus der Reduktion ist also keinesfalls zu schließen, das in Klammern Gesetzte sei entfernt; vielmehr ist es vorübergehend zurückgestellt, um einen klaren Blick auf das reine Bewusstsein und die Vorgänge seines Erlebens zu erhalten70. Diesen Ansatz in die Richtung eines nur möglichen Gottes weiter zu entwickeln, tritt zwar nicht zu ihm in Widerspruch, nimmt ihm aber seine Originalität und macht ihn im Rahmen der vorliegenden Themenstellung uninteressant.

Die Epoché ergreift nicht nur den konkreten Gegenstand der Wahrnehmung, sondern, wie bereits festgestellt, auch das Subjekt der Wahrnehmung selbst, das konkrete Ich. Wäre dies nicht der Fall, so verbliebe die phänomenologische Methode im Subjektivismus oder im Gebiet der Humanwissenschaften. Durch die Epoché hingegen wird das Ich herausgenommen aus jedem (auch naturwissenschaftlichen) Positivismus, in den es in der aufkommenden Neuzeit verbannt wurde und der es auch heute immer mehr zu einem Ablauf physiologischer oder biologischer Prozesse machen möchte71. Es wird deutlich, dass das Ich ein philosophischer Begriff ist, der keine naturwissenschaftliche Größe darstellt und doch objektiv gültige Erkenntnis vermittelt. E. Stein hat hierzu den in der Phänomenologie entscheidenden Punkt formuliert: Von philosophischem Interesse ist, was der Naturwissenschaftler gerade ausschließen möchte: die Beschaffenheit des wahrnehmenden Subjekts, d. h. sein Erleben, und zwar in seiner den einzelnen Menschen übersteigenden Allgemeinheit und Objektivität72.

Der Weg der Epoché als Einklammerung all dessen, was bezweifelt werden kann, führt damit das Subjekt nicht nur zu den Sachen selbst, sondern auch reflexiv zu sich und zu den tiefsten Gründen seiner selbst, wo ihm nichts mehr bleibt, was in einem faktischen Sinne individuell wäre. Das Ich, das als denkendes Subjekt die Reduktion vollzieht, ist deshalb nicht das Ich, zu dem es letztlich gelangt73, es ist ihm vielmehr entzogen. Ich und Ich sind hier nicht mehr dasselbe. Wird die Epoché so lange durchgeführt, bis nichts mehr da ist, was eingeklammert werden könnte, verbleibt eine jedem Zweifel entzogene Grundbewegung – das ist die „Reduktion der transzendentalen Erfahrung auf die Eigenheitssphäre“74 –, die zugleich die transzendentale Seinssphäre des Ich enthüllt. Das transzendentale Ich wird auch „reines Ich“ genannt: Denn es ist rein von aller Personalität; diese entfaltet sich erst im Strom der Erlebnisse:

„Der Erlebnislauf des reinen Bewusstseins ist notwendig ein Entwicklungsverlauf, in dem das reine Ich die apperzeptive Gestalt des persönlichen Ich annehmen muss.“75

Hier zeigt sich, was nach der umfassenden Reduktion der wahrgenommenen Gegenstände und des Ich übrig bleibt: Strukturen, die den Wahrnehmungsvorgang (die Noesis) tragen; diese sind nichts Statisches, sondern ziehen mit den Erlebnisströmen mit und werden von Husserl als „transzendentaler Leitfaden“76 bezeichnet. Daraus erweist sich eine unaufhebbare und konstitutive Verbundenheit des Ich mit der Welt, die auf der tiefsten Ebene des intentionalen Bewusstseins verortet ist.

Die Subjektivität des reinen, transzendentalen Ich kommt als solche – sie ist ja phänomenologisch reduziert – in der Welt nicht vor; sie ist mit Husserls Ausdruck extramundan77. Gleichwohl ist sie je meine78, d. h. es handelt sich nicht um ein allgemeines Subjekt oder das Bewusstsein überhaupt, sondern sie ist in ihrer Extramundanität doch zur Individualität veranlagt, weil kein anderes im Strome der Erlebnisse die Gestalt meines persönlichen in der Welt vorkommenden Ich annimmt. In dieser extramundanen Jemeinigkeit liegt eine gewaltige Spannung.

 

Die „Jemeinigkeit“ als extramundane Individualität im Sinne Husserls unterscheidet sich damit allerdings grundlegend von dem, was M. Heidegger (1889 – 1976) darunter versteht. Heidegger bezeichnet mit „Jemeinigkeit“ „die Bedingung der Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit“, in der Dasein immer existiert79. Im Gegensatz zur Extramundanität Husserls ist für Heidegger das „In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins“80 anzusehen, also eine ohne die benannte Spannung auftretende personale Jemeinigkeit81. Es deutet sich schon jetzt an, dass diese Spannung nicht aufgelöst werden kann, dass sie vielmehr im Innern des Ich etwas bezeichnet, was am treffendsten mit dem Ausdruck „Geheimnis“ zu charakterisieren ist.

Die Spannung zeigt sich daran, dass das reine Ich einerseits aufgrund der Epoché losgelöst von allem und in diesem Sinne absolut ist. Andererseits existiert als Kehrseite eine Relativität, denn die Welt ist, wie wir gesehen haben, bezogen „auf das sie konstituierende Ich82. Die konstituierte Wirklichkeit wird als transzendentaler Gegenstand in gewisser Weise zu einem Teil des Ich, sodass dieser Gegenstand „eine Regelstruktur des transzendentalen Ego“ bezeichnet83.

1.1.1.2Systole und Diastole in der Bewegung vom Ur-Ich zur Welt

Das absolute, reine Ich ist, wie gesehen, alleiniger Urgrund der konstituierten Welt84. Husserl spricht deshalb auch von „Ur-Ich85. Das Ur-Ich hat nicht nur nichts mehr mit dem empirischen Ich zu tun86, es ist auch entkleidet von allem, was in irgendeiner Weise mit Erkennen zu tun hat, und damit ausschließlich Sein87. Und weil das Ur-Ich als alleiniger Ur-grund der Welt gedacht wird, kann es seinesgleichen nicht kennen88. „Die Epoché schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit“89.

An diesem Punkt, den Husserl „transzendentale Egologie“ nennt, erscheint die Phänomenologie solipsistisch90. Es stellt sich deshalb die Frage, ob im phänomenologischen Ansatz, wenn er solipsistisch ist, nicht der Weg zur Annahme eines gleichberechtigten oder gar gleichursprünglichen Anderen von vornherein verbaut ist91. Denn „wenn ich die Welt ausgeschaltet habe, weiß ich jedenfalls davon nichts mehr, dass es mehrere Menschen gibt und damit mehrere reine Ich“92. Eine Gleichursprünglichkeit von Ich und dem Anderen ist vom Ur-Ich her, auf dem Boden der Phänomenologie weder vorgesehen noch darstellbar. Das gilt nicht nur im Prozess der Erkenntnis, in dem es außer Frage steht, dass es ohne ein Erkennendes kein Erkennen gibt, sondern auch für das Sein selbst. Das Sein der Welt und des Anderen ist gesetzt durch ihr Erscheinen, welches wiederum im Ich einen Pol voraussetzt.

Dies würde bereits an dieser Stelle den phänomenologischen Ansatz zur Beschreibung von Dialog und Kommunikation diskreditieren. Husserl selbst stellt fest,

„dass die Selbstbesinnung, die der anfangende Philosoph zu vollziehen hat, nicht in der natürlichen kommunikativen Einstellung, sondern sozusagen in der solipsistischen vollzogen werden muss“93.

Die Problematik spitzt sich im Hinblick auf unsere Leitfrage nach einer theologischen Fundierung des Dialogs zu: Kann Dialog verstanden werden als ein phänomenologisch zu beschreibendes gemeinsames Hinhören auf etwas Vorgegebenes, auf den Logos, der dem Denken vorgeordnet ist und insbesondere nicht von ihm abhängt, weil er vom Bewusstsein erst konstituiert werden müsste? Bedarf es dazu nicht außerdem eines gemeinsamen oder gleichrangigen Ursprunges anstelle eines logischen Vorranges des Ich vor dem Anderen? Husserl selbst hat diese Fragen in Bezug auf den Dialog nicht erschöpfend erörtert. Es ist deshalb der Nachweis versucht worden, dass seine Phänomenologie der Intersubjektivität letztlich in einer solipsistischen Aporie endet94.

Husserl hat offenkundig versucht, im Weg der Reduktion eine Instanz zu etablieren, die als „reine Seele“ sich zwischen Welt und Ur-Ich schiebt und in der anderes außer dem Ich – insbesondere: Andere – Platz hat, die das Ich gar in eine Gemeinschaft einordnet. Dass dieser Versuch einer von Husserl so genannten „phänomenologisch-psychologischen Reduktion“ nicht gelungen sein dürfte95, spricht für die Konsistenz und die Zielführung seines Denkens, das sich als nicht solipsistisch-aporetisch erweist.

Indessen dürfte in der Betrachtung des gesamten phänomenologischen Gedankenganges eine Kennzeichnung als Solipsismus übereilt sein. Die solipsistische Einstellung, von der Husserl spricht, ist nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit demjenigen Denken, das herkömmlich mit Solipsismus bezeichnet wird. Schließlich wird auch das eigene Subjekt, das der Solipsismus als einzig Sicheres ansieht96, in der Epoché eingeklammert und phänomenologisch reduziert. Damit verfehlt der Vorwurf des Solipsismus sein Ziel, denn auch der Solus ipse und die Tätigkeit seines Bewusstseins werden durch die Einklammerung jedem Zugriff entzogen. Der Mensch hat den Drang, auf der Suche nach der Objektivität seines eigenen Seins in Tiefen vorzustoßen, in denen er sich in seiner Rätsel- oder Geheimnishaftigkeit des Seins begegnet.

Das Ur-Ich geht also hinter den Solus ipse zurück – oder richtiger gesagt: Es liegt ihm voraus. In seinen tiefsten Gründen entdeckt das Ich etwas, was es nicht mehr selbst als Ich ist, sondern was ihm vorgegeben ist, wessen es nicht habhaft werden kann97. Es kann beschrieben werden als ein Ich-Pol, der kein Ich und nichts zu Erscheinendes mehr beinhaltet, sondern nur noch eine Art Struktur im Erscheinen selbst ist98. Diese Struktur jedoch zeigt ihm den Weg aus den tiefsten Tiefen seiner selbst99 über sich hinaus hin zur Welt und lässt es zugleich bei sich und transzendent außer sich sein100.

In der von Husserl festgestellten philosophischen Einsamkeit des Ur-Ich ist damit in radikaler Weise die dialektische Spannung101 zu erkennen, die sich bereits an allgemeinen Ausführungen Husserls zu seiner Methode zeigt, wonach

„im Grunde genommen … „s c h o n i n d e r p h ä n o m e n o l o g i s c h e n R e d u k t i o n, der richtig verstandenen, die M a r s c h r o u t e a u f d e n t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l i s m u s vorgedeutet [ist]“102.

Philosophisch steht man damit vor der Herausforderung, diese dialektische Spannung im Ich, in der der Schlüssel zum Verständnis seiner selbst und alles von ihm verschiedenen liegen dürfte, genau zu untersuchen.

Damit eröffnet sich der Phänomenologie das Gebiet der Egologie, die von Husserl als „die an sich erste Phänomenologie“103 bezeichnet wird. Dabei ist allerdings sorgfältig zu berücksichtigen, dass die Phänomenologie sich nicht auf die Egologie beschränkt. Husserl legt größten Wert auf die Feststellung, dass es eine Missdeutung „des Sinnes und der Leistung der phänomenologischen Reduktion“ sei, wenn man meine, die „reine Phänomenologie“ sei nur „möglich als transzendentale Egologie.“104 Der Phänomenologie geht es immer um das Gesamt der Welt, nicht nur um das Ich; daher verschreibt sie sich ausdrücklich dem transzendentalen Idealismus, dessen „erste streng wissenschaftliche Gestalt“105 sie sein möchte.

In Husserls Lehre vom Ur-Ich klingt diejenige Wirklichkeit an, die „seit den Anfängen des Philosophierens“106 als Monade die Wesensbestimmung des Seins kennzeichnet. G. W. Leibniz (1646 – 1716) machte sie zum Kernbegriff seiner Philosophie. Die Monaden sind nach seiner Lehre die Träger allen Seins. Die unendliche Monade – Gott – erschafft alle endlichen. Monaden haben wie geometrische Punkte keine Ausdehnung, tragen aber an sich Eigenschaften, die dazu führen, dass sie sich zu unterschiedlichen Seienden zusammensetzen können. Jede geschaffene Monade entfaltet sich, ihrer Entelechie folgend, gleichsam als Kraftzentrum, ohne dass sie auf andere Monaden einwirkt. Die Wirkung auf geschaffene Monaden bleibt der ungeschaffenen vorbehalten107. Husserl knüpft an die Monadenlehre an. An einem entscheidenden Punkt geht er aber über Leibniz hinaus. Monaden haben nach dessen Darstellung „keine Öffnungen, wodurch etwas in dieselben hineintreten oder aus ihnen herausgehen könnte“108. Husserl hingegen stellt fest:

„Leibniz sagt, Monaden haben keine Fenster. Ich aber meine, jede Seelenmonade hat unendlich viele Fenster, nämlich jede verständnisvolle Wahrnehmung eines fremden Leibes ist solch ein Fenster, und jedes Mal, wenn ich sage, bitte, lieber Freund, und er antwortet mir verständnisvoll, ist aus unseren offenen Fenstern ein Ichakt meines Ich in das FreundesIch [sic!] übergegangen und umgekehrt, eine wechselseitige Motivation hat zwischen uns eine reale Einheit […] hergestellt.“109

So kann Husserl mithilfe des Begriffs der Monade das Ich beschreiben: „Die Monade ist seiend als identisches Ich eines intentionalen und als das konstituierenden Lebens, eines aktuellen und vermöglichen [sic!] Bewusstseinslebens“110. Dabei sieht er die Monade aber in einem entscheidenden Punkt anders: Im Gegensatz zur Monade nach leibnizschem Zuschnitt haben die Monaden Husserls „Fenster“111. Das Ur-Ich, gedacht als Monade, verharrt nicht nur bei dem eigenen transzendentalen Ich, sondern von seinem eigenen Innersten her und dieses transzendierend findet es gleichsam durch eine Öffnung den Weg aus sich heraus.

Die dialektische Spannung, die hier deutlich wird, lässt sich in einem Bild erläutern: Sie ist vergleichbar mit der Bewegung des Herzens, die sich in Zusammenziehen und Öffnen vollzieht. In Systole und Diastole, die nicht nur aufeinander folgen, sondern auch einander bedingen, entsteht ein Rhythmus, der die Spannung nicht auflöst, sondern sie als vitales Prinzip eines Organismus fruchtbar macht. So lässt sich der Zusammenhang zwischen Ich und Welt näher verstehen, den die Phänomenologie beschreibt. Sieht man den Rückzug in die tiefsten Gründe des eigenen Ich als Systole, so folgt als Diastole dessen Austritt aus sich selbst, hinein in die Konstitution der Welt.

Die Konstitution der Welt vollzieht das Ich entlang dem transzendentalen Leitfaden112 seiner Erlebnisse, der es aus der urgründigen Extramundanität des Ur-Ich hinausführt. Neben der Konstitution der Welt, in eins fallend mit ihr, konstituiert das Ich aber auch sich selbst in seiner Leibhaftigkeit. Das Erlebnis in seiner jeweiligen Eigenart vermittelt dem Ich nämlich nicht nur das Erscheinen des wahrgenommenen Gegenstandes, sondern zugleich seinen eigenen Leib: Der gegenständliche Körper des Menschen wird durch die an ihm gleichsam kristallisierenden Erlebnisse des Ich zum lebenden Körper. Zum materiellen Organismus kommt die Immaterialität der Erlebnisse, die das Ich in seinem Leib-sein konstituieren113. Leben im husserlschen Sinne ist demnach intentionales Konstituieren. Das Konstituieren konkretisiert Absolutes: Das konstituierende absolute Sein wird relative Realität. Leben ist damit der Vorgang des Erlebens, das kontinuierliche Heraustreten des Ich aus dem Ur-Ich. Das Ich verdankt sich also in seiner lebendigen Leibhaftigkeit letztlich dem Erlebnis, dem reinen Akt seines Bewusstseins114, also derjenigen Struktur, die der Wahrnehmung der Welt zugrunde liegt. Ohne Erlebnisse, die getragen werden vom Ur-Ich, das als „reines Bewusstsein“ „absolut gegeben“115 ist, gelangt das Ich nicht einmal zu seinem Leib.

Hier ist allerdings sorgfältig zur Vermeidung von Missverständnissen zu beachten, dass nach Husserl die Konstitution des Leibes auf doppelte Weise erfolgt, und zwar einerseits als „physisches Ding“ und andererseits als Träger des Empfindens, von Leibesvorkommnissen also, die Husserl „Empfindnisse“ nennt und die ihn von materiellen Dingen und von seinem eigenen Materie-sein abgrenzt116. Um Letzteres geht es in der vorliegenden Darstellung.

 

1.1.1.3Leib und Fleisch als Kristallisationspunkte des Lebens

Damit ist der Leib als derjenige Punkt identifiziert, an dem das Leben des Ich als solchen und des Ich in der Welt kristallisiert. Dieses geschieht aber nach allem, was bisher erörtert wurde, nicht in der psychologischen oder biophysischen Verfasstheit eines individuellen Bewusstseins im empirisch-naturwissenschaftlichen Sinne, sondern in der transzendentalphänomenologischen Gründung des absoluten Bewusstseins, das als je meines im Ur-Ich gegeben und ihm vorgegeben ist. In diesem absoluten Bewusstsein liegt die Wahrheitsfähigkeit der Phänomenologie beschlossen. Hier ist der Ort, an dem sich der Logos im Sinne einer faktisch vorgegebenen in sich stehenden Gewissheit in seinem transzendentalen und transzendenten Ursprung verständlich macht117. Deshalb muss die Abgrenzung der absoluten Immanenz von der psychologischen Erfahrung mit aller Sorgfalt vorgenommen werden:

„Das ‚reine’ Bewusstsein und durch es sein Gemeintes als solches soll der reinen Reflexion in besonderer Weise ‚immanent’, es soll in ihr ‚absolut gegeben’ sein. Und das soll ein radikaler Unterschied sein gegenüber der Immanenz des psychologisch Erfahrenen (innerlich Erfahrenen) in der psychologischen Erfahrung und gegenüber allem naturalen Bewusst- und Gegebensein überhaupt.“118

Die Phänomenologie hat in jüngerer Zeit versucht, den Leib als Kristallisationspunkt der Konstitution von Welt näher präzisierend zu beschreiben119. Auf der Suche danach, wie die Wirklichkeit absoluter Immanenz näher und ausführlicher als nur in der Abgrenzung zu psychologischer Erfahrung beschrieben werden kann, fällt der Blick auf das Denken von M. Henry (1922 – 2002). In begrifflicher Deutlichkeit definiert er als phänomenologischen Angelpunkt das Fleisch. Damit zieht er zunächst eine klare Trennlinie zu jeder psychologisierenden Betrachtung. Entgegen dem ersten Anschein, nach dem Fleisch etwas rein Medizinisches oder Biologisches sein mag, verankert er es jedoch ähnlich wie Husserl in einem tiefsten Urgrund, aus dem es hervorgeht.

Henry richtet allerdings einen in wesentlichen Punkten ablehnenden Blick auf das Werk Husserls. Er gesteht ihm zwar zu, dass er „eine der wichtigsten Bewegungen des Denkens in unserer Zeit – und vielleicht aller Zeiten – hervorgerufen“ habe120. In der zuvor diskutierten Frage des Selbsterscheinens des Ich aber wirft er im vor, in einem „Staatsstreich sondergleichen“121 letztlich das wieder zum Fundament gemacht zu haben, was bereits phänomenologisch ausgeschieden war, und lässt ihn in einer Aporie enden122. Diese ergebe sich daraus, dass Husserl nicht gehörig differenziere; für ihn sei alles Erscheinen ein Erscheinen von Welt, auch das reflexive Erscheinen des Ich selbst. Dies aber führe im Denken zu einem Regressus ad infinitum123. Denn jedes Erscheinen von Welt sei an und für sich wiederum zu betrachten als Welt, die erscheine. Husserl begehe den großen Fehler, das Erscheinen der Welt mit jedem denkbaren Erscheinen zu verwechseln124. Die Kette der Phänomene werde dadurch zwar immer tiefer und reduzierter, aber unendlich lang. Insbesondere sei eine verbindliche religiöse Offenbarung damit nicht zu denken. Beim Welterscheinen nämlich, erläutert Henry, sei die Konstitution der Welt in das Bewusstsein verlegt, das als Bewusstsein von etwas die Intentionalität zu der Bewegung erkläre, die zu den Sachen selbst führe125. Wenn aber Welterscheinen selbst wiederum Erscheinen von Welt wäre, dann würde auch „das offenbarende Vermögen, das heißt die Offenbarung selbst“ in das Bewusstsein hinein versetzt und damit von jenem ins Außen entworfen126. Ein Offenbarungsbegriff, der jedoch im Bewusstsein verharre, sei mit einem Verständnis der Offenbarung nach christlicher Lehre als allein von Gott ausgehend127 nicht vereinbar, sodass mit ihm der Zugang zum Christentum versperrt wäre128. – Diese Kritik vermag jedoch die Konzeption Husserls in ihrem Grunde nicht zu erschüttern. Husserl differenziert zwar nicht expliciter zwischen verschiedenen Arten des Erscheinens; indes stellt er impliciter klar, dass das Erscheinen kein Regressus ad infinitum ist, sondern dass es in der absoluten Gegebenheit des reinen Bewusstseins unhintergehbar verortet ist. Diese ist es, die den phänomenologischen Ansatz für positive Offenbarung offen hält.

M. Henrys Ansatzpunkt ist die Differenzierung zwischen Welterscheinen und Erscheinen des Lebens129. Das unterscheidet auf den ersten Blick seine Phänomenologie von derjenigen Husserls. Der denkende Mensch und damit das Ich in seinen Tiefen erscheine (sich selbst) nicht als Welt. Vielmehr würden im Menschen der Ursprung und die Grundlage jeglichen Erscheinens überhaupt wirksam, das Erscheinen des Lebens, das sich im Fleische verwirkliche130, geradezu Fleisch werdend vollziehe131. Henry spricht dabei – in einen Vokabular, welches demjenigen Husserls nicht unähnlich ist – vom Erscheinen des absoluten Lebens. Dieses Erscheinen benötigt nicht, wie bei Husserl, einen Pol, sondern es ist ein Erscheinen seiner selbst und der unhintergehbare Ursprung allen Erscheinens. Dabei erscheint das Leben sich selbst zugleich als Subjekt wie als Objekt. Die eigene Gabe des Lebens an sich selbst ist die transzendentale und letzte Voraussetzung jeglichen Welterscheinens. Außerdem ist sie der Urgrund eines jeden Ich. M. Henry spricht zwar nicht von Ur-Ich, sondern vom Ersten Ich, formuliert jedoch dezidiert ähnlich wie Husserl:

"Indem sich das absolute Leben in der Ipseität des Ersten Sich selbsterprobend erfährt, zeugt es in seiner transzendentalen Möglichkeit jedes Sich und somit jedes denkbare Ich."132

Ähnlich wie bei Husserl sind auch in Henrys Gedankengang eine gewisse solipsistische Systole und eine daraus heraustretende Diastole zu erkennen. Denn was er als selbsterprobende Erfahrung des absoluten Lebens beschreibt, ist ein Vorgang, der sich im Subjekt vollzieht und von ihm erlebt wird. Andererseits aber beschreibt er sie als „Prozessstruktur des absoluten Lebens als Verhältnis phänomenologischer Innerlichkeit zwischen dem Leben und seinem göttlichen Wort“133. Hier zeigt sich also, dass Henry genau so wenig ein Solipsist ist wie Husserl, dass er andererseits aber genauer und differenzierter als dieser auf den Urgrund des Ich blickt. So lässt er die bereits beschriebene dialektische Spannung, die Husserl ebenfalls kennt, explizit und in einer größeren Schärfe aufleuchten, denn er fügt zwei unterschiedliche transzendentale Ebenen, die ontologisch-transzendentale und die phänomenologisch-transzendentale, im Ich selbst zusammen. Auf diesen beiden Ebenen gelangt man zu unterschiedlichen Aussagen über die Priorität des Ich, des Sich oder des Selbst. Das absolute Leben ist prioritär, sofern es ontologisch betrachtet wird. Phänomenologisch-transzendental betrachtet hat jedoch die selbsterprobende Erfahrung die Priorität. Sie allein erschließt dem Subjekt, also dem Ich, den Zugang zu einem absoluten Leben. Genauer gesagt: Das absolute Leben selbst gibt sich zu erschließen, dies aber immer nur und notwendig in der Ipseität des Ich. Hier klingt in andern Worten die Jemeinigkeit an, von der oben bei Husserl (und cum grano salis bei Heidegger) die Rede war. Das Sich-Geben des absoluten Lebens bindet sich an das Subjekt, erhebt es zum Ersten Sich und räumt ihm daher Priorität und phänomenologische Originarität ein134. Dabei ist es, insofern es sich an sich selbst gibt und damit auch empfängt, Ausgangs- und Zielpunkt zugleich.

Damit bestätigt und verdeutlicht sich die von Husserl bereits erkannte phänomenologische Originarität des Ich135. Dieses ist nicht zu verstehen als monadisch selbstgenügsam, vielmehr ist es geprägt von dem Vermögen einer

„jedem Vermögen oder Können unseres Leibes […] [sc. vorausgehenden] transzendentalen Affektivität […], sich an sich selbst zu geben und sich mithin alles zu geben, was sich an sich selbst nur in ihr gibt – in ihr, welche das Wesen des Lebens ist.“136

Auch Henrys Überlegungen führen also auf diejenige erscheinende Realität, die das Ich in seinem Innersten antrifft. Wie bei Husserl wird auch hier eine Spannung aufgedeckt, die nicht aufgelöst werden kann: In seinen tiefsten Gründen entdeckt das Ich etwas, das es nicht selbst ist und das nicht von etwas anderem abhängt, nicht mehr auf etwas anderes verweist – insbesondere nicht in einer phänomenologischen Erscheinung, sondern das sich in sich selbst zeigt. Was als Kritik von Seiten Henrys intendiert ist, das Erscheinen des absoluten Lebens, kann als Interpretament für Husserl dienen, der in einer gewissen Unschärfe ausführt: