Feuersetzen

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Aus der Reihe: Hansekrimi
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Donnerstag, 19. Mai 1552

Mit jedem Schritt feierten sie, noch am Leben zu sein. Die Glieder schmerzten bei jeder Bewegung, als sie neben Daniel Jobst zum ersten Mal wieder den Gang nach draußen wagten. Doch am liebsten hätten sie vor Freude gesungen – wie die Vögel, die jetzt lautstark aus jedem Winkel den Frühling priesen. Sie hatten einander viel erzählt, während des Tages als bettlägerige Zimmergenossen selbstredend lang und breit die nächtlichen Erlebnisse besprochen. Nun inspizierten sie gemeinsam mit Jobst die Brandstelle. Auch den letzten schwelenden Balken hatte man beseitigt, um keinen neuen Feuerherd entstehen zu lassen. Vom Lehm aus Wänden und Decken war noch ein kleiner Hügel übrig. Die Asche türmte sich, besonders abgelöscht und zu kleinen Kegeln zusammengefegt.

»Wie hat die Betrogene es aufgenommen?«, erkundigte sich Volpi, während er mit seinem Stock in den Aschehaufen stocherte. Beide Seiten seines geschundenen Leibs brannten und stachen, sodass er bei jedem Schritt fürchten musste, in der Mitte durchzureißen. Aber er war bemüht, es mannhaft zu ertragen und dies gelang, indem er innerlich unablässig den Schwur tat, künftig nicht nur fremde Häuser, sondern auch die eigene Neugier einfach … brennen zu lassen …

»Gut und schlecht«, antwortete Jobst sehr sibyllinisch. »Dass Otto, ihr Mann, sie betrog, traf Sibylle Herbst sehr übel! Das heißt, es kam sie wohl vor allem schlimm an, dass es nun auf so schmähliche Weise öffentlich ruchbar wurde und im Gedächtnis der Stadt eingebrannt ist … Daher schäumte sie vor Wut. Dass er tot ist – ertrug sie dagegen völlig gefasst. Sie will von der Geschichte zwischen ihrem Mann und der Schwalbe nichts gewusst haben. Dass er ihr untreu war, habe sie freilich vermutet … Sie wurde von einem Sohn entbunden, noch letztes Jahr. Nun scheint sie über ihre eigene Zukunft und die des Kindes beruhigt. Herbst muss ihr gedroht haben, sie zu verlassen, oder ihr und dem Kind etwas anzutun, um ganz frei zu sein. Sie hat es vor einigen Herren des Rates bekannt.«

Wieso machte man so viel Wesens vom Unterschied zwischen Mensch und Tier? Menschen waren redende Bestien, darauf lief es hinaus, dachte Volpi.

»Wie furchtbar – das alles nun vor aller Ohren enthüllen zu müssen … Ich schätze, sie ist überdies sehr hässlich …«

»Wie kommst du denn darauf? Ich möchte sie zur reizendsten Witwe der Stadt erklären!«, sagte Bartholdi. »Wäre ich nicht so schüchtern … würde ich ihr die Tür einrennen!«

»Vorsicht …«, sagte Jobst und blickte demonstrativ um sich. »Du siehst, was bei deinem letzten Tür-Einrennen rauskam!«

»Was ist denn das hier?«, fragte Volpi unvermittelt, mit der Spitze seines Stockes ein kleines längliches Etwas von einem Aschekegel fort zur Seite schiebend. Er bückte sich ächzend, hob das Ding auf und hielt es prüfend ins Sonnenlicht.

»Eine Pfeilspitze aus Eisen, will ich meinen! Nichts Besonderes.«

»War die Wittib etwa in der Schützengilde?«

»Nein, aber ihr Mann! Wie wir alle, versteht sich …«

»Vera Stobekens Mann hieß Eitel Stobeken. Er fiel vor fünf Jahren …«, fügte Bartholdi hinzu, »… in der Schlacht bei Mühlberg, wo die Schmalkalder schmählich dem Kaiser unterlagen.«

»Und der Gildeschütze hatte nur einen Pfeil im Haus?«, verwunderte sich Volpi. »Wenn ich mir die Eisentrümmer anschaue, die hier sonst so herumliegen, scheint sich bisher niemand für die Nachlese interessiert zu haben: Nägel, Schnallen, ein Schürhaken, ein paar Messerklingen, ein kleiner Eisenkamm. Warum liegen hier nicht die Spitzen von einem oder zwei Schock Pfeilen herum? So viel hat doch jeder Schütze, mindestens, oder nicht?«

Volpi hatte schon vom liebsten Zeitvertreib Jobsts gehört. Seine Kenntnisse waren dagegen rein theoretisch – er hatte Roger Aschams Toxophilus gelesen. Was er über Pfeil und Bogen wusste, hatte er daraus.

»Ungewöhnlich in der Tat …«, sagte Jobst. »Vielleicht hat die Schwalbe dennoch einen Pfeil aufbewahrt – im stillen Angedenken an den wehrhaften Gatten – … – denn ich kaufte ihr seinerzeit alle Bögen und Pfeile, soweit noch vorhanden, ab. Ihr Mann hatte freilich seinen besten Bogen mit im Krieg und auch sicher drei Schock Pfeile. Was überhaupt noch übrig war an Kriegsgerät, wollte sie loswerden.«

Bartholdi und Jobst waren noch mit dem Rätsel dieser singulären eisernen Pfeilspitze beschäftigt, als sie die Stimme von Till hörten, einem vom Feuer verschont gebliebenen Nachbarn. Buhlmann wohnte rechts neben der Lücke – Till links. Er teilte seinen Namen ganz zu Unrecht mit Ulenspiegel – denn er war ein humorloser Geselle, auch wenn er dauernd grinste. Ein Gerber eben.

»Es musste ja so enden, das hab ich immer gesagt! Sie hat es abgestritten, aber es war doch, wie ich gesagt hab. Schaut euch nur um – hat mich etwa der Sinn getrogen? Seht’s euch nur an und sagt mir: Hab ich etwa falsch gelegen?«

Till blitzte in die Runde, doch Jobst, Volpi und Bartholdi, die Brand-Inspektoren, schenkten ihm wenig Beachtung.

»Was soll die üble Nachrede, Till?«, sagte Bartholdi. »Das hilft keinem und dir auch nicht, wenn du es noch darauf angelegt haben solltest, in den Himmel zu kommen.«

»Aber ich weiß doch ganz genau, wovon ich rede!«, beharrte Till.

Jobst schaltete sich ein und machte breite Front gegen diesen dahergelaufenen Strich in der Landschaft.

»Verschon uns, wenn du dich jetzt brüsten willst, den Lebenswandel der Schwalbe gekannt zu haben! Da warst du weiß Gott nicht der Einzige.«

Till trat sicherheitshalber einen Schritt zurück, bevor er kicherte und sagte: »Und doch der, der am meisten gehört hat davon … hehe! … Aber das meine ich gar nicht, Meister Jobst. Ich meine den feurigen Gast unter ihrem Dach …«

»Versteh ich nicht? Läuft das nicht aufs Gleiche hinaus?«, fragte Bartholdi grinsend.

»Du solltest wissen, wovon ich spreche, Georg. Dein heiliger Namensvetter kämpfte mit einem von denen …«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich Gerhard heiße!«, entgegnete Bartholdi boshaft, doch dann erstarb sein Furor. »Du meinst doch nicht etwa, dass sie … einen … hatte …?«

Till kicherte: »Doch, hatte sie! Sieh dich doch um!«

Bartholdi verstand offenbar als Einziger, wovon die Rede ging …

»Hat sie ihn geärgert? Vielleicht … war er eifersüchtig …!«

Jetzt hatten der Gerber und der Großarchivar doch ihren Spaß zusammen.

»Wovon redet ihr überhaupt?«, fragte Jobst.

Volpi schien ein Licht aufzugehen. Ohne weitere Erläuterungen auszukommen, war für den Logiker Ehrensache.

»Nichts sagen!«, flehte er, da er sah, wie Tills Mund schon wieder aufgehen wollte.

»Des Heiligen Georgs Gegner war ein Wurm, denkt Ihr! Ein geflügelter Scheunenanzünder, ein Heerbrand, ein Schatzhüter! Gelt, Herr Till? Und Ihr glaubt, sie hätte diesen heimlichen Gast nicht gut behandelt, sodass er ihr das Dach überm Kopf ansteckt hat … Da könnte was dran sein, er dürfte auf die anderen feurigen Gästen getroffen sein … Wir fanden ihr Liebesnest ja direkt unterm First!«

Bartholdi gluckste. Endlich hatte auch Jobst, der alte, seriöse Handelsherr, verstanden. Das war es, worüber sich die grünschnäbelige Jugend amüsierte: Diese Toren redeten von Lindwürmern, von Drachen, die nachts als wurmartige Feuerschweife in Häuser einfielen und den Hausbesitzern Glück brachten, angeblich …

»Unfug, Aberglaube!«, entfuhr es Jobst. »Ich hielt Euch für einen klugen Mann, mein lieber Doktor. Was soll ich denn jetzt denken? Sagt mir aufrichtig: Glaubt Ihr ehrlich noch an Hausdrachen?«

»Oh ja, ich hatte schon zwei in meinem kurzen Leben, und ich habe zweimal die Flucht ergriffen!« Volpi lachte kurz.»Nein, nein, im Ernst, Herr Jobst, äh …«

Volpi hatte Till wohl für eine halbe Sekunde zu lange fixiert. Der Gerber nickte eifrig, denn ihm war das Ernst.

»Mit Verlaub – so ist es!«, verkündete er erfreut,, zog eine gerollte Broschur hervor und begann vorzulesen:

»Einige sagen, unter anderem Ptolomäus selbst, der Feuerdrache oder Wurm sei nichts als eine Menge brennbarer Luft …«

Aber Jobst schlug Till das Heft zornig aus der Hand: »Du Quatschkopf! Willst du der Schwalbe anhängen, sie sei eine Hexe gewesen, die der Teufel in Drachengestalt besucht hätte – jetzt, wo sie schon unglücklich verbrannt ist?«

Till hob das Heft auf und funkelte Jobst an.

»Nein, aber es wär wohl noch gekommen – hätte sie den Drachen nicht gleich durch ihr Verhalten angeekelt. Statt ihn mit Hirsebrei zu empfangen, was nach Ptolomäus seine Leibspeise ist, vergnügt sie sich weiter mit ihrem Buhlen …«

Volpi und Bartholdi kamen schier um vor Lachen … aber Till verkündete mit fester Stimme: »Als der Drache hereinkam – schöne Bescherung – sieht er die Hexe, wie sie beim Feuerhüter liegt! Na, da wird der Wurm ganz schön geflucht haben! Das Ende vom Lied kennen wir ja … Ich hab ihn jedenfalls einfahren sehen, den Drachen. Könnt Ihr Herren sagen, was Ihr wollt! Und dass Ihr die Lehrmeinung des Ptolomäus nicht achtet, wird den obersten Teufelsaustreiber von Westfalen, Karolus Fischer nämlich, sicher interessieren!«

»Nun mach halblang, Till«, beschwichtigte ihn Bartholdi, der plötzlich wieder sehr gefasst wirkte. Die Erwähnung der Inquisitoren hatte immer diesen plötzlichen Ernst zur Folge. »Erzähl uns lieber, was du gesehen hast. Beschreib es mal mit deinen Worten. Hier steht, wie du richtig gesagt hast, ein großer Naturforscher«, dabei zeigte er auf Volpi. »Beobachtungen sind die wichtigste Grundlage für jede Theorie.«

Bartholdi sah lächelnd zu Volpi hin, der sich ganz den Anschein des lebhaftesten Interesses gab.

Till berichtete: »Ich konnte nicht schlafen, da bin ich halt unters Dach geklettert, wo die Häute trocknen, um welche davon abzunehmen. Daher hörte ich die Geräusche von drüben gut. Wie sollte ich denn auch nicht? Man hörte die Schwalbe und ihren Gespielen ja in der ganzen Straße! Ich hab da mehrere Trockenluken, da kann man durchschauen. Nicht nach drüben, ihr Herren! In den Himmel! Und da sah ich ihn anfliegen! Der Feuerdrache kam just in diesem Moment, als ich hinaussah: Ein grausiger Anblick, sag ich Euch! Erst war es bloß ein von Weitem aufsteigender Strich. In die Höhe stieg’s, dann hörte man ein lauter und lauter werdendes Zischen und sah zugleich einen hellen, dichten Schein, der näher kam. Er fuhr direkt hinein ins Dach der Schwalbe. Mit einem harten Knall!« Till bekreuzigte sich. »Eine Feuerkugel, eine blakende Sphäre, ein Halo, einen Funkenregen, einen kleinen Sturzbach Feuers … das hab ich übers Dach laufen sehen und bin schnell abgetaucht, damit er mich nicht sieht und mir einen Strahl Feuer entgegenschleudert! Das hab ich mir nicht bloß eingebildet! So wahr ich hier vor Euch stehe!«

 

»Aus welcher Richtung kam er?«, fragte Volpi, und sowohl Bartholdi als auch Jobst staunten über den Ernst, den er in seine Stimme legte. Hatte er etwa doch Feuer gefangen? Wollte er das Drachen- und Wurm- und Glühschwanz-Geschwätz etwa für bare Münze nehmen?

»Darüber nun hab ich mir den Kopf zerbrochen, aber … genau weiß ich es nicht zu sagen. Von oben …, aber ob von der Abzucht oder aus dem Norden? Ich hab es nicht gesehen … Ist denn das wichtig?«

»Für die allgemeine Drachentheorie nicht. Aber sozusagen für die kasuistische Drachenlehre. Für die Anwendung auf diesen besonderen Drachenfall … diese sogenannte Einfahrt … oder gleichzeitige Ein- und Wiederausfahrt …«

Volpi dachte scheinbar wirklich angestrengt über Drakologie nach.

»Tsts … kam der Kerl doch einfach zur Unzeit …« Der Gelehrte hielt die Pfeilspitze hoch. »Was für ein Dach war das eigentlich, ich sah es ja nur noch, als es bereits in Rauchform existierte …«

»Eines mit Holzschindeln«, sagte Bartholdi achselzuckend. »Der Schiefer ist für die wenigsten erschwinglich.«

»Verdammt«, knurrte Jobst. »Also doch …«

Der Drachenbeobachter Till blickte von einem zum anderen, bis Volpi sagte: »Was Ihr gesehen habt, mein Freund, war eine seltene Art, besonders in so zivilisierten Städten wie dieser hier. Ein Drache, der aussah und sich ganz so verhalten zu haben scheint wie … ein Feuerpfeil!«

Freitag, 20. Mai 1552

»Ihr seht aus wie drei Tage Regenwetter!«, sagte Jobst, als er den Syndikus Keller eintreten sah. Die Beschreibung passte, wie auch die anderen Biertrinker in der Kemenate der Halskrause unumwunden zugeben mussten. Keller vergalt die wenig schmeichelhafte Begrüßung mit einem Lob über das blendende Äußere Jobsts, wurde daraufhin mit dem noch leicht angeknacksten Volpi bekannt gemacht und grüßte erst den stets fidelen Baader und zuletzt Bartholdi, dem es schon wieder prächtig zu gehen schien. Kleine Menschen waren härter im Nehmen, dachte Volpi, und das mussten sie ja auch sein, hätte Bartholdi hinzugefügt.

»Wo drückt Euch der Schuh? Ist’s die Hinterlassenschaft der Schwalbe?«, fragte Baader den jungen und schmächtigen Mann.

»Nein, es ist freilich die Ordnung der Herbst’schen Angelegenheiten, mit denen ich betraut bin … Die Witwe Herbst ist wirklich nicht zu beneiden … Schließlich hat keiner damit gerechnet, und es ist ein Glück, dass überhaupt Verfügungen von Otto Herbst vorhanden sind. Es gibt gar deren zwei … doch die zweite ist noch so frisch, dass man sich fragt, ob das Schicksal nur darauf gewartet hat, bis das Testament unterzeichnet war …«

»Ach!«, entfuhr es allen. »Erzählt!«

Keller tat entrüstet: »Meine Freunde – das geht doch nicht! Schließlich vertrete ich Euch ja auch alle, und erzähle auch nicht in aller Öffentlichkeit davon, wie Ihr es in Euren Erbschaftsverfügungen haltet!«

»Nun ja, aber ein bisschen andeuten … Ihr wisst, dass es bei uns so sicher ist wie in Abrahams Schoß … das Geheimnis …«, sagte Baader.

Jobst nahm zu drastischen Mitteln Zuflucht: »Na gut, wenn Ihr kein Bier mit uns trinken wollt, dann … hat mich sehr gefreut … Einen schönen Abend noch, Herr Syndikus!«

»Es gibt auch noch andere Syndici!«, kam es hoch und hell aus Bartholdis Mund, während er Volpi zuzwinkerte.

»Ihr Bestien!«, fluchte Keller leise, aber dann lächelte er. »Na ja, im Grunde ist es ja wurscht … Wer Haus und Hof und Schatulle erbt, seht ihr ja ohnehin bald: Sibylle Herbst. Der Garten indes kommt an seinen Bruder!«

»Ach, sag bloß!«, kam es aus der Runde. »Wer hätte das gedacht!«

»Aber …«, hob Volpi an: »Nach Eurer Einleitung vermute ich, dass der Inhalt der alten Verfügung anders gelautet hat.«

»In der Tat, sie wurde auch erst vor rund eineinhalb Jahren getroffen, und die Haupterben waren nach dieser alten Verfügung …«

Man hätte eine Haarnadel fallen oder auch einen gefallenen Engel durchs Kaminzimmer hinken hören, während sie auf den Namen warteten …

»Vera Stobeken und Erben!«

»Uff!«

»Ach nee … ?«

»Da schlägt’s dreizehn!«

Keller, sich im Brennpunkt des Interesses nicht unwohl fühlend, schob Bedenken beiseite, Dinge auszuplaudern, die er eigentlich hätte bei sich behalten müssen, wenn man’s genau nahm. Aber wer, außer dem Kämmerer, nahm es schon genau …

»Dem Bruder hatte Herbst wohl auch ein Legat zugedacht. Der ihm so wichtige Garten war als gepflegter öffentlicher Ort den Bergleuten überschrieben, damit sie sich darin ergehen könnten. Diese Gebeutelten sollten die Lungen an der frischen Luft wiedererstarken lassen und die Seelen am Anblick der Blumen und der Schönheit der Beete weiden können. Ein regelmäßiges Almosen schließlich wäre den beiden heiligen Kreuzen für die Armen und Kranken zugeflossen.«

»Das wäre nobel gewesen, das mit den Bergleuten und den Spitälern!«, sagte Bartholdi. »Das andere … Oh Gott! Die arme Sibylle … Dieses Monstrum … Die eigene Frau übergehen.«

Der Großarchivar knirschte mit den Zähnen vor Abscheu. Die Übrigen grinsten, denn jeder wusste von seiner heimlichen Neigung. Bartholdi betete Sibylle Herbst an wie eine private Gottheit … Dabei wusste doch jeder, wie es um die Ehe der Herbsts bestellt gewesen war. Einige munkelten sogar, dass Sibylle Herbst etwas mit dem Bergrichter Brandt gehabt hatte oder noch immer hätte.

»Nun, Otto Herbst scheint zur Vernunft gekommen zu sein«, sagte Jobst, scheinbar bestrebt, das Thema zu beenden. »Gerade noch rechtzeitig. Sozusagen kurz bevor der Winter kam …«

»Auf die Witwe Herbst!«, sagte Bartholdi und hob sein Glas, um das Gelächter über Jobsts Jahreszeiten-Sottise abzuschneiden.

Sie tranken.

Dann wurde von vielem gesprochen, von den drei Sonnen und fünf Regenbögen, die der Türmer Groenewold am Vortag, einen Schlag nach Mittag am Himmel im Westen gesehen haben wollte, von dem heftigen Wind, der am Berghang von Clausthal eine Schneise geschlagen hatte … Sehr lange auch ging es um die vermeintlichen gewaltigen Truppenverstärkungen des Herzogs.

»Heinrich hat keine 1200 Reiter! Und keine 3000 Landsknechte!«, empörte sich Baader. »Bloße Gerüchte, vom herzoglichen Adlatus Stechow in die Welt gesetzt, um uns Angst einzujagen!«

Bartholdi verzog den Mund, als er den Namen Stechow hörte. Er erklärte Keller, der zu jener Zeit noch in Marburg studierte, was sich 1530 und in den beiden Folgejahren abgespielt hatte: »Der Syndikus Dellinghausen war als Unterhändler in Augsburg, beim Reichstag, wo es um die Türkenfrage und das Bekenntnisproblem ging – Melanchthon hat damals … aber das wisst Ihr ja alles … Dellinghausen wurde auf dem Heimweg bei Homburg vor der Höhe, einem Ort, der den Goslarern seitdem verhasst ist bis in alle Ewigkeit, von Balthasar Stechow und Konsorten gefangengenommen und entführt. Er starb nach zwei Jahren Kerkerfolter im Verlies des Schlosses Schöningen.«

Über die jüngsten Brände in Langelsheim und Astfeld kam man zuletzt wieder auf den Schwalbenbrand zurück.

»Im Rat ist man gar nicht begeistert von der Pfeilgeschichte«, sagte Jobst. »Die Bürgermeister vom Alten, Heldt und Wiesbaum, sind ebenso wie die des Neuen, Immhoff und Richter, der Ansicht, dass der Pfeil von draußen gekommen sein muss. Jetzt macht es in der Stadt die Runde, und alle sind überzeugt, dass es der Herzog war, der den Schützen angestiftet und bezahlt hat.«

»Das hat ja auch einiges für sich«, sagte Bartholdi. »Gestern ist ein Pulk von vermutlich herzoglichen Landsknechten vor der Mauer entlanggezogen. Die Wachen vom Zwinger haben es Immhoff gemeldet, als ich ihm einen Band mit Regesten brachte. Sie ritten den Reiseckenweg entlang, also auch am unteren Wasserloch vorbei, wo der Weg der Stadt am nächsten kommt. Kurz zuvor waren übrigens auch Fahrende unterwegs … eine Gruppe Feuerkünstler …«

Ein Raunen ging durch die Runde, als wenn damit alles klar wäre. Vaganten, Landstörzer, Künstler – alle gleich! Gesindel!

»Wasserloch?«, fragte Volpi, und er dachte an eine Viehschwemme oder Pferdetränke.

»Das ist der mit Gittern und einer kleinen Zwingburg geschützte Austritt der Abzucht aus der Stadt, gleich hier drüben, durch die Mauer …«, erläuterte Bartholdi dem Gast.

Er deutete in Richtung der schmalen hohen Fenster, die wie alle im Haus mit echtem Glas verschlossen waren – aus farbigen Gläsern zusammengesetzte Tafeln, die das Familienwappen zeigten, einige auch biblische Szenen.

Auf die Frage, wann die Heerscharen diese Stelle passiert hätten, entgegnete der Großarchivar: »Schätzungsweise kurz vor beziehungsweise kurz nach elf!«

»Pfeilschuss, Treffer, Feuer auf dem Dach …«, dachte Volpi laut nach: »Man müsste es ausprobieren … Wie lange so etwas dauert, bis ein Dach aus Holzschindeln brennt, wenn ein Feuerpfeil es trifft. Nur zur Sicherheit, bevor man eine ins Lager des hochfürstlichen Feindes zielende Vermutung äußert. Auch wäre die Entfernung genauer zu bestimmen und zu verifizieren, ob mit einem Feuerpfeil diese Distanz überhaupt so einfach zu überbrücken ist …«

»Da hätte ich keinen Zweifel bei einem Kriegsbogen von vielleicht fünfzig Pfund Zuggewicht«, sagte Jobst, was Baader und Bartholdi mit einem wissenden Lächeln quittierten. »Und bei den Feuerkünstlern sowieso nicht … Wenn es die Truppe ist, die auch im Vorjahr beim Jahrmarkt hier war, dann ist ein Ass mit dem Bogen dabei. Ich lud ihn und die Seinen bereits damals zum Wettstreit im Weitschießen, und er schlug mich um fast zwanzig Lachter …«

Jobst stand dieser Wettstreit sichtlich plastisch vor Augen, und er schien über den Krug hinweg in der Ferne die weiß befiederten Pfeile zischend in die Braune Haide fahren zu sehen …

»In diesem Punkt dürft Ihr ganz beruhigt sein!«, sagte der Medikus mit jovialer Biertrinkergeste zu Volpi. »Wenn unser Meisterschütze sich so eindeutig äußert, dann kann am Faktum kein Zweifel bestehen. Falls der Brand somit die Folge eines ziellosen herzoglichen Feuerpfeilschusses gewesen sein sollte – der möglicherweise zum Ziel hatte, ganz Goslar in Schutt und Asche zu verwandeln –, müssen wir uns über das Gift im Wein keine großen Sorgen mehr machen. Es sei denn, es interessiert uns, nur so ganz allgemein, wie man es gebraucht, das Extrakt vom Igelkolben, Rauapfel, Dornapfel, vom Tollkraut, Pferdegift, Zigeunerkraut, oder der Stachelnuss und Donnerkugel.«

»Donnerkugel?«, fragte Volpi.

»So nannte man den Stechapfel, weil er vor Gewitterwirkung schützen soll … Über die Verwendung als Aphrodisiakum und Narkotikum in Salben und im Wein hat sich der ehrenwerte Theophrastus Bombastus von Hohenheim ja schon ausführlich geäußert, ich habe zwischenzeitlich nachgeforscht. In der Großen Wundarznei steht nichts, aber es gibt eine kleine Paracelsische Schrift Erquickliche Würckung der Toll-Nuss im Beylager

Sie kicherten.

»Da rät er, die Pflanze nur in der Räucherkugel neben das Bett zu stellen, keinesfalls aber Extrakte aus Blüten oder Samen oder Blättern zu probieren. Für den Fall der Einnahme werden alle Symptome, die ihr beiden hattet, dort beschrieben. Über die tödliche Menge ist der Hohenheimer sich nicht sicher, aber er vermutet, dass sie nicht sehr groß ist. Eine Handvoll Samen zum Beispiel schätzt er oder weniger als eine viertel Unze.«

»Auch die Trockenheit in der Kehle? Die Unmöglichkeit des Erbrechens? Die innere Hitze und Unruhe?«

»Alles. Die üblen unter den Hurenwirtinnen benutzen Tollkrauts-Wein oder -Bier, um die Kunden ihrer Damen wehrlos und scheintot zu machen. So können sie besser ausgenommen werden. Ich schätze, dass die beiden Unglücklichen ihren Saft von da haben. Kohler, den ich befragte, hat freilich niemandem seit je Extrakt oder Pflanzen verkauft … Das Zeug wächst leider nicht wie Unkraut …«

 

»Das stimmt!«, bestätigte Bartholdi, der sich als Bergmann mit Kräutersammeln das anfangs kleine Einkommen aufgebessert hatte. »Ich könnte dir nur ein oder zwei Stellen hinterm Ramseck und an der Ratsschiefergrube nennen, wo es welchen gibt! Und die kennt außer mir keiner. Wir können gleich hinaufklettern und einen Sack voll holen.«

Eine Weile herrschte halbtrunkenes Schweigen.

Dann sagte Volpi, wobei eine kleine Schaumwolke durch den Anprall seiner Stimme in die wohlig warme Kemenatenatmosphäre entsandt wurde und erst unschlüssig im Raum stand, dann pfeilschnell auf Bartholdi herabflog: »Und … wenn der Pfeil nicht von draußen kam …?«

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