Die Bestie im Turm

Text
Autor:
Aus der Reihe: Hansekrimi
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

II

Markus Reddig, ein feingliedrig wirkender Mann von 32 Jahren, mit schmalem, etwas zu großem Kopf und schwarzem Haar, trug deutliche Spuren seiner nächtlichen Schreibertätigkeit im Gesicht. Er war seit Wochen hauptsächlich damit beschäftigt, alte Ratsakten regestenartig zusammenzufassen, das Verzeichnis der umfangreichen Ratssammlung auf Abgänge zu überprüfen und Urkunden zu archivieren. Damit er diese im Rechtsstreit mit dem Herzog existenziell wichtige Arbeit überhaupt bewältigen konnte, nahm er sich Stapel von Papier in seine Wohnung im Breiten Tor mit, sodass er auch dann arbeiten konnte, wenn er nicht zu schlafen vermochte. Seine Schreibstube im Rathaus lag im Zwischentrakt zwischen Ratsdiele und Gebeinkapelle. Ein großes Schreibpult mit einer Unschlittlampe, ein kleiner Tisch und zwei Stühle, mehr war nicht drin. Das kam seinem vormals geistlichen Stand sehr zupass und gemahnte ihn an seine Zelle im Kloster der Franziskaner am Köketurm. Der Goslarer Stadtschreiberposten wurde traditionsgemäß an Priester oder Ordensleute vergeben, da man diesen am meisten vertraute. Inzwischen war diese Regel gelockert, es gab auch schon einmal vertrauenswürdige Weltliche auf dem Posten. Der Stadtschreiber war Protokollführer bei allen Sitzungen der Räte. Doch diese Regel, das wusste Reddig inzwischen, hatte mit der Wirklichkeit wenig zu tun.

Er schritt trotz seiner fühlbaren Gliederschwere, unausgesetzt gähnend und verzweifelt bestrebt, die eiserne Klammer der Müdigkeit abzustreifen, durch den Laubengang am Gerichtsraum bis zur Tür des Sitzungszimmers. Der Erweiterungsbau des Rathauses roch noch immer neu. Man hatte den Beratungsraum bewusst so platziert, dass es keine Möglichkeit gab, die Oberen der Stadt zu belauschen.

In der letzten Zeit entbehrte man des Stadtschreibers bei Sitzungen sehr oft. Die Herren wollten unter sich sein und keinerlei Aufzeichnungen für den Chronisten hinterlassen. Es genügte nicht, dass Reddig klopfte. Mit beiden Fäusten hämmerte er gegen die Tür, bis sie endlich aufging und der Bürgermeister des gerade amtierenden neuen Rates erschien.

»Ihr seht ja fürchterlich aus!«, sagte Johannes Weidemann in besorgtem Tonfall. Er war nicht eben groß, doch seine gedrungene Gestalt glühte vor Kraft. Das rötlichbraune Haar passte zu seiner vom Wetter gegerbten Haut – sein zweites Gewerbe neben dem Bergbau war der Fischfang. Der Rat selbst war ein gewichtiger Kunde bei ihm …

»Was gibt es denn so Wichtiges?«

Der erste Bürgermeister machte ein finsteres Gesicht. Drinnen in der reich ausgemalten Ratsstube saßen etliche, aber bei Weitem nicht alle Ratsmitglieder auf ledergepolsterten Archivtruhen beisammen. Der enge Rat war ein Auswahlgremium, das in Zeiten der Gefahr rascher handeln können und die Stadt vor Unheil bewahren sollte. Man konnte nicht immer mit den sechs Dutzend Köpfen des weiteren Rates debattieren, wenn Not am Mann war.

Reddig räusperte sich: »Ich hoffe sehr, Herr Bürgermeister, dass Sie den gewaltsamen Tod eines Rats- und Grubenherrn als wichtig genug für die Störung erachten …«

Er hatte die Botschaft mit ungewollter Theatralik und einer unbeabsichtigten Süffisanz verlauten lassen. Im Grunde mochte er Weidemann, auch wenn dieser eine Unnahbarkeit an den Tag legte, die auf viele abschätzig wirkte. Seit März war er im Amt, hatte erst Dienstag nach Reminescere auf die Privilegien geschworen und dirigierte den Rat doch bereits spürbar in eine neue Richtung. Er war einer der Vollmächtigen, die Luthers Forderungen unterstützten, gab in Sonderheit der Gemeine größeren Raum für ihre Interessen. Schon zwei Ratsherren hatten aus Protest gegen Weidemanns Kurs ihr Amt niedergelegt. Einer war gar mit seiner Familie aus der Stadt fortgezogen. Doch gerade jetzt, wo der papst- und kaisertreue Herzog vor der Stadt lag, der es seinen Herren gleichtat und Luther hasste wie die Pest, wäre Goslar mit jedem anderen als Weidemann verloren gewesen.

Auch der zweite Bürgermeister, Joachim Wegener, der nun in der Tür erschien, um zu sehen, was es gab, war von diesem Schlag. Wie ein Gegenbild zum volleren, kernigen Weidemann wirkte Wegeners sehnige, dürre Gestalt. Er sah wohl auf den ersten Blick schwach und zerbrechlich aus, doch nun spannten sich seine Muskeln sichtlich.

Weidemann machte große Augen: »Was, Herr Reddig? Wer ist tot?«

Der erste Bürgermeister wirkte gereizt. Die Sitzung verlief wohl nicht so, wie gedacht. Es ging um die abtrünnigen Gewerken der Grube des Stifts Neuwerk – um dies zu erraten, brauchte Reddig keine große Hilfe.

»Sebastian Walberg wird wohl den Ratssitzungen dauerhaft fernbleiben …«

»Walberg?«, fragte Wegener entgeistert dazwischen. »Sprecht nicht in Rätseln!«

Reddig machte eine wirkungsvolle Pause, bevor er verkündete: »Der Bergmeister vom Neuwerk-Schacht fand ihn bei Sonnenaufgang tot, mit einem Pfeil im Leib, nicht weit vom Wachturm droben. Mit der schnellen Glocke kam die Botschaft. Ein Bote des herzoglichen Bergrichters Schmidt übermittelte dessen Begehr, es möge einer kommen, den Leichnam abzuholen.« Weidemann verneinte gestisch und sagte doch gleichzeitig:

»Ja!«

Man sah, dass es in ihm arbeitete. Kaltblütig und mit einer Gefasstheit, die Reddig nur bewundern konnte, erklärte er: »Bevor dies geschieht, sollte jemand aufs Göpelplateau zum Wachturm hinauf, um zu sehen, ob man noch Indikationen findet, die auf den Mörder hindeuten.«

»Ich bin ganz Eurer Ansicht«, pflichtete Wegener seinem Ratskollegen bei. »Kommt doch einmal mit in unsere gute Stube, Herr Reddig. Ich möchte, dass Ihr die Reaktionen der Herren beobachtet, wenn Herr Weidemann das bekannt gibt. Neid ist eine Todsünde und war schon für viele tödlich. Walberg hatte viele Neider. Versteht Ihr, was ich meine? Als Sohn Florian Walbergs war er schon von Natur aus reich … sozusagen. Doch er hat seine Zeit nicht vergeudet und sein Vermögen immer weiter vermehrt. Wie tragisch, dass er keine Erben hat. Jetzt erbt wohl der Rat, an den herrenloses Vermögen verfällt …«

Reddig betrat hinter den beiden Bürgermeistern den grottenartigen, bunt bemalten Raum. Die Obersten der Stadt saßen unter vielen modisch gekleideten Kaisern, Sibyllen sowie der Leidensgeschichte Jesu und hatten offensichtlich diejenigen unter ihnen, die mit dem Herzog paktierten, bislang vergeblich zur Vernunft bringen wollen. Die übel verbrauchte Luft im Raum hätte man schneiden können. Reddig bemerkte Hermann Marquard, den Kämmerer sowie den zweiten Syndikus Doktor Kurt Mechtshausen. Auch sah er schließlich noch Henning Cabbus, den Worthalter der Gemeine – des weitaus größeren Rates jener Normalbürger, die weder zu den Grubenbesitzern, zunftpflichtigen Handwerkern, Kaufleuten oder Krämern zählten, die aber in Gottes Namen auch irgendwie im Rat vertreten sein mussten, damit sie keinen Aufstand machten.

Walbergs drei Mitgewerken von der Grube Neuwerk hatten sich in den voraufgegangenen Disputen verteidigt, so gut sie konnten. Aber gegen die Verachtung der anderen kamen sie nicht an. Alle in diesem Raum lebten mehr oder minder vom Bergbau, und kaum einer war bestrebt gewesen, für schlechte Zeiten andere Einnahmequellen zu erschließen. Jetzt war der Ausnahmezustand da, und niemand wollte es hinnehmen, dass sich ein paar abseits stellten und mit dem Herzog auf schlechte Geschäfte einließen, während die Mehrheit zusetzen musste.

Weidemann rief: »Walberg ist tot! Es steckt ihm ein Pfeil im Leib!«

Einige der Herren sprangen auf.

»Was? Wie das? Herr im Himmel! Gott sei bei uns! Jesses!« Für den Moment war alles vergessen, worüber sie noch eben debattiert hatten. In den Köpfen brodelte es. Was sollten sie mit dieser Botschaft anfangen? Der Stadtschreiber Reddig hatte sie überbracht. Was hatte denn der jetzt hier verloren, wo man kein Protokoll haben wollte? War das nun der Anfang vom Ende? Hatte der Herzog vor, sie alle, nacheinander, von Scharfschützen ermorden zu lassen, um die Stadt zu übernehmen? Hirnrissiges schoss ihnen durch die Köpfe. Erst Weidemanns dunkle Stimme, jetzt unnatürlich gefasst – so, wie man es von einem ersten Bürgermeister erwartete –, ernüchterte sie wieder.

»Herr Reddig berichtet, dass der dicke Berg-Schmidt verlangt, wir sollten flugs den Toten holen lassen, der oben bei den Werken liegt.«

Reddig hatte die Mienen der Anwesenden genau studiert. Walbergs Mitgewerken am Neuwerk, seine Miteigentümer und Kompagnons, hoben sich in ihrer Blässe deutlich von den Übrigen ab. Heinrich Wachsmut, Simon Raschen und Henning Heinze kamen ihm kreideweiß vor. Hatten sie Angst, die nächsten zu sein?

Reddig flüsterte Wegener seine Beobachtung zu. Derweil mischten sich weiter Entsetzensrufe und Äußerungen der Klage. Der schwere Johannes Barnabas Achtermann und der noch schwerere Zacharias Papen hatten die Köpfe zusammengesteckt.

Papen, krebsrot vor Aufregung, sprach laut: »Wir sollten uns nicht beifallen lassen, des Herzogs rechtliche Hoheit über den Rammelsberg dadurch anzuerkennen, dass wir schnurstracks dem Ansinnen eines dahergelaufenen, sogenannten Bergrichters willfahren! Ich schlage vor, dass sich eine Abordnung hinaufbegibt, um die Sache vor Ort zu untersuchen! Die Sechsmannen des Rates haben nach wie vor die Hoheit über alle Gerichtsdinge am Berg. Das müssen wir dartun und unter Beweis stellen!«

Der zweite Bürgermeister Wegener signalisierte Zustimmung. »Ich denke, dieser Antrag ist berechtigt: Wer ist dafür? Ich bitte um Handzeichen.«

Einstimmig wurde beschlossen, nach Papens Vorschlag zu verfahren.

Weidemann sagte: »Ich glaube, wir können auf eine aufwändige Wahl verzichten. Wer ist gewillt hinaufzufahren?«

Man einigte sich ohne große Umstände auf eine im Kern sechsköpfige Abordnung, zu welcher die Gewerken des Neuwerkes unwidersprochen hinzutraten – Sebastian Walberg war nun einmal ihr Kompagnon gewesen.

 

Weidemann sagte zu Reddig, dessen Aufgabenkreis umstandslos auf den eines Ratsdieners erweiternd, weil Baer nicht da und Eile geboten war: »Schickt zu Damian Baader, dem Stadtchirurgen, damit er uns begleitet. Es muss einer dabei sein, der das Funktionieren des Organismus besser versteht als wir. Und es ist nötig, dass auch Ihr mit hinauffahrt. Kurt Mechtshausen muss ebenfalls mit, weil in diesem Casus heikle Bergrechtsfragen berührt sind. Falls der Bergrichter eine Lügengeschichte aus unserem Auftauchen macht, soll es in Esslingen eine angemessene Erwiderung geben. Lasst am besten also den Prozessionswagen anschirren, damit alle Platz haben.«

»Mit Verlaub, Herr Weidemann«, wandte Reddig ein, »der Prozessionswagen ist für die steile Fahrt über die Erzabfuhr viel zu schwer. Wir bräuchten mindestens zwölf Pferde … Zwei von den großen, flachen Höhlenwagen mit Pritschen und Planen wären wohl eher geeignet.«

»So nehmt denn in Gottes Namen zwei Planwagen! Aber legt Polster auf die Pritschen und tragt Sorge, dass nur alles schnell geschieht!«

III

Paulus Geismar, rückwärts schreitend, umgürtet mit einem Wulst aus Hanf, aus dem er Griff um Griff einer gerade drehend entstehenden Schnur Nahrung gab, war erstaunt, seinen Ältesten in Begleitung eines Fremden an die Reeperbahn treten zu sehen. Dicke Adern bereits gedrehter Hanfseile hingen seitlich noch aufgespannt und warteten darauf, mit dem eben entstehenden zu einem Tau verdreht zu werden. Aber Halt! War das nicht Jonathan Unruhs Sachwalter und Erbe? Er beendete sein Werk und klinkte sich vom Zugseil der Apparatur ab, um den Herrn zu begrüßen.

»Welchen Glanz führst du in unsere Hütte, mein Sohn? Unmöglich siehst du aus – so geh und sieh zu, dass du dich sauber gewandest! Herr … äh …, welch eine Ehre!«

»Jobst«, half Daniel nach. »Daniel Jobst!«

»Verzeiht mir. Ihr seid schon viele Jahre nicht mehr in Goslar gewesen. Ich habe vergessen, woher Ihr stammt.«

»Aus dem Katzenelnbogischen bin ich, aus Sankt Goar, wo mein Vater Verwalter des fürstlichen Kellers war – in der Niedergrafschaft auf Burg Rheinfels. Nach seinem und meiner seligen Mutter Tod bei einem verheerenden Brand Anno Domini 1504 – damals war ich fünf Jahre alt –, kam ich nach Goslar zu Mutters Schwäher.«

»Katzenelnbogen gehört dem Hessen, oder geh ich fehl?«

In Paulus Geismars Stimme schwelte ein gelinder Groll.

»Gehört Philipp, ja. Sie denken an seine Freundschaft mit Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel? Für den können die Katzenelnbogner nichts, sind ja noch keine hundert Jahre hessisch! Außerdem halte ich was vom Landgrafen Philipp – als ich hierher verpflanzt wurde, kam er gerade auf die Welt. Was hat dieser Mann seither schon geleistet! Er hat seinem Land die Reformation gebracht und gründete jüngst in Marburg die erste protestantische Universität im Heiligen Römischen Reich.«

Daniel sah sich um. Gregor war verschwunden, um sich umzukleiden.

»Wenn Ihr Euren Sohn gut und mit Aussicht auf ein einträgliches Amt ausbilden lassen wollt, so schickt ihn an die Philipps-Universität. Aber er gestand mir heute, dass ihn die Kaufmannschaft viel mehr locke als ein Studium der Jurisprudenz. Da ich gedenke, das Unruh’sche Kontor weiterzuführen – wie wär’s, wenn Ihr ihn mir zum Gehilfen gäbet? Studieren kann er immer noch. Mein Freund Dellinghausen kann ihm einiges darüber erzählen, jedermanns Sache ist es nicht.«

Geismar kratzte sich hinterm Ohr und zog zu diesem Antrag die Stirn kraus.

»Euer Angebot ehrt mich. Ob sich aber mein Sohn Eures Vertrauens würdig erweisen kann? Habt Ihr die Kräutersäcke gesehen, die er wieder angeschleppt hat …? Sicher, er verdient ein paar Pfennige mit seinem Tand, aber ich bin so in Sorge ob der nächsten Wochen … Was wird mit dem Handel in unserer Stadt, wenn die Bedrohung durch den Herzog nicht aufhört? Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich sehe keinen Sonnenstrahl, sondern nur höllische Glut am Horizont und würde mir, vergebt mir, einen ordentlichen Strick drehen, wenn ich mit Blei und Silber und teuren Dingen handelte wie Ihr …«

Daniel lachte.

»Ich sehe nicht so schwarz. Ich weiß, was Ihr denkt – wir Händler zögen alle davon, sobald der Lindwurm aus Wolfenbüttel Erfolg hätte und seine Ansprüche durchsetzte. Aber solange es der Herzog noch nicht geschafft hat, kann Euer Sohn noch viel lernen und durchaus mit Gewinn aus der Sache gehen, selbst wenn ich Bankrott erlitte.«

»Es mag einfältig von mir sein, aber wenn ich schon einmal einen da habe, der es besser versteht, dann muss ich fragen: Was heißt es, wenn der Herzog den Berg wiederhaben will? Worauf ist der Wolfenbütteler aus? Es ist doch sicher nicht der Zehnte, den die Goslarer Bergherren und auch der Rat laut der alten Verträge ihm jetzt verpflichtet sind zu geben? Ich habe gehört, das seien so kleine Summen, dass sie den hohen Herrn nie und nimmer dazu bewegen könnten, so einen Aufwand zu treiben und sich in unsere Stadtmauern zu verbeißen.«

»Da habt Ihr ganz Recht – er hat es auf das Vorkaufsrecht auf Erz und Metall abgesehen, was den Rat und die Stadt und alle Bürger reich gemacht hat. Goslar lebt von den Auswürfen des Berges. Deshalb hat man immer darauf gesehen, anständige Preise für die Mineralien zu zahlen. Wenn Blei und Silber, Kupferrauch und Galmei dagegen dem Herzog abgeliefert werden müssen, der sie nur zu einem lächerlich geringen Preis abzunehmen bereit ist, um sie dann um ein Vielfaches teurer wieder zu verkaufen, sind die Bergherren bald am Ende. So viel kostet der Bergbau, dass sich keiner die Arbeit mehr leisten könnte. Der Herzog spekuliert darauf, denke ich, die Gruben ganz in seinen Besitz zu bringen.«

Nach einer Pause, in der Geismar wie erschlagen wirkte, schob Daniel zuversichtlicher hinterdrein: »Dellinghausen betrachtet die Sache juristisch noch lange nicht als ausgefochten oder aussichtslos. Kann durchaus sein, dass noch viele frohe Jahre ins Land gehen … und Fortunens Launen sind noch unergründlicher als Justitias.«

Paulus Geismars Miene hellte sich nun ebenfalls auf: »Kommt erst einmal herein, Herr Jobst, und leistet uns Gesellschaft bei Tisch. Langt kräftig zu! Mit Hunger im Bauch soll man keine Entscheidung fällen, kein Geschäft machen – so viel hat mich die Erfahrung gelehrt!«

Das Lächeln des Seilers, eines braunhaarigen, hochgewachsenen Mannes, erzählte von den Wonnen des einfachen Lebens. Sie gingen ins Haus und setzten sich in der Herdstube an den Buchenholztisch. Gregors jüngerer Bruder Hans, ein Lausbursche wie er im Buche stand, zwinkerte Daniel zu und zeigte ihm ein Heft mit Schreibübungen. Der fragte ihn, wo er zur Schule ginge und erhielt zur Antwort: »In die Schule im Kaiserhaus, zu Meister van Stelten, dem man die Frau weggebrannt hat, weil sie eine Hexe war!«

»Nur, weil sie einigen Frauen aus Nöten geholfen hat und mit ihnen am Kinderborn war«, sagte Hilde Geismar, die anklagenden Blicke ihres Hausmädchens tapfer ignorierend.

»Brauchst gar nicht so scheel zu linsen, du dumme Gans! Das Wasser beschert den unfruchtbaren Goslerinnen schon seit je die Kinder, seit Josefa dort ihrem Manne, dem Gundel Karl, zwei Knaben gebar und hernach starb.«

Gregor hatte nicht zu viel versprochen, fand Daniel. Hilde Geismar, eine Matrone mit einem Madonnengesicht, kochte ausgezeichnet. Ihre Fastensuppe war seine Rettung. Erbsenbrühe mit Semmelbröseln, Eiern und gewürzt mit Kardamom – serviert auf einem dicken Stück Tellerbrot aus Bohnen, Linsen und Gerste …

Die Hausfrau strahlte, als sie sah, wie es sich der feine Gast schmecken ließ, unbeeindruckt von der Tatsache, dass alle mit ihren Löffeln aus einer Schüssel aßen … Die Geismars hielten sehr auf reichhaltige Kost, das merkte Daniel daran, dass es noch einen weiteren Gang gab. In einer großen Schüssel kam ein Püree von dicken Bohnen auf den Tisch. In eine Vertiefung in der Mitte waren fein geschnittene gebratene Äpfel gegeben, mit Piment aromatisiert. Ein Salat aus Sauerampfer und gekochten, in Streifen geschnittenen wilden Rüben passte ausgezeichnet dazu. Daniels Hunger war verschwunden. Ein allumfassendes Wohlbefinden machte sich breit.

»Ich wette, selbst Goslars Räte werden heute kein so gutes Mahl haben! Frau Geismar, sie sind eine Zauberin!«

Die erzfromme Hausmagd Judith, ein fischiges Wesen mit einem gedrückten Insektenleib, zog furchtsam die Stirn kraus. War ihre Herrin eine Hexe? Daniel schaute sie an und sagte: »Es gibt auch eine Art von Zauber, mit dem der liebe Gott leben kann. Als da wären: die Anmut, der gute Geschmack, die Freude. Leider gebricht es den meisten Christen daran. Dafür kann Gott nichts, denn die Menschen haben zwar oftmals das Gute in sich, lassen es aber verkommen und entwickeln es nicht. Heute etwa bin ich rundum froh, und das verdanke ich dem guten Essen. Auf die Köchin!«

Er prostete Hilde Geismar mit seinem Steingutbecher zu und genoss das Gose-Bier mehr als je zuvor. Die Katze kam stolz mit einer fiependen Maus in die Stube gelaufen.

»Ich wusste gar nicht, was ich die letzten Jahre vermisste … Das hier ist ja um Pfeilschüsse besser als das Braunschweiger Bier – fast so gut wie das Einbecker!«

»Ein treffliches Bild«, sagte der Hausherr. »Jetzt, wo Ihr’s sagt … Ihr schießt bestimmt nicht nur weit, sondern auch sicher; ich bewundere schon die ganze Zeit den Bogen, den Ihr mitführt. Woraus ist der gearbeitet?«

Daniel hatte Gregor gebeten, ihn hereinzuholen, damit sein Vater ihn begutachten könnte. Ehrfürchtig beinahe berührte der das schöne, gelbliche Holz, das oft mit Leinöl gefirnisst und mit Wachs eingerieben worden war.

»Aus zwei Hölzern – der Bauch ist aus Eibe und der Rücken aus Ulme.«

»Eine wunderschöne Maserung!«, sagte Gregors Vater voller Wohlgefallen.

Daniel nickte: »Als ich geschäftlich im Londoner Stalhof war, hat ihn mir ein eifriger junger Bogenbauer nach meinen Angaben gemacht: Roger Ascham, ein sehr geschickter Mann, der es einmal weit bringen wird, davon bin ich überzeugt. Wann wird denn vorm Rosentor zum nächsten Mal um Preise geschossen?«

»Am Sankt Maria-Magdalenen-Tag. Dann werden wir unsere Künste messen, ich bin nämlich auch nicht ohne Ehrgeiz, müsst Ihr wissen. Welches Pfeilholz verwendet Ihr?«

»Zeder … und Truthahnfedern als Befiederung.«

Geismar seufzte: »Und ich armer Mann muss mit Fichtenholzschäften und gefärbten Gänsefedern Vorlieb nehmen! Mein Bogen ist aus Esche.«

Er ermannte sich.

»Aber kein Bogen, und sei er noch so kostbar, schießt und trifft deshalb von alleine … Gregor ist nicht minder beschlagen darin.«

Der Handwerker freute sich schon darauf, dem Kaufmann den Rang streitig zu machen. Schießen lernen mussten ja alle männlichen Bürger in der Schützengilde, um ihren Beitrag in einem möglichen Streitfall zu leisten. Jetzt schien gar eine Konfrontation bevorzustehen, bei der ihre Fähigkeiten auf die Probe gestellt werden könnten. Doch die geselligen Wehrübungen wurden als willkommener Zeitvertreib und Unterhaltung betrachtet. Auch der Preis, den man gewinnen konnte, spornte an. Wer beim Freischießen gewann, war ein Jahr lang von städtischen Steuern und Abgaben befreit.

»Habt Ihr über das nachgedacht, was ich Euch vorhin vorschlug?«, fragte Daniel. »Jetzt, wo die Sinne nicht mehr von Hunger und Durst getrübt sind, solltet Ihr eine Entscheidung treffen!«

Paulus Geismar sah zu seinem Sohn hinüber und sagte ernst: »Du willst also lieber Kaufmann werden, statt die Rechte zu studieren?«

Gregor sah betroffen aus. Sein feiner Weggefährte hatte ihn verraten.

»Herr Jobst könnte dich in seinem Kontor gebrauchen. Wenn du willst, magst du dich ein wenig im Alltag eines Hansekaufmannes umsehen. Wenn du nicht dafür taugst, oder die Ader dafür doch nicht so mächtig ist, wie du jetzt denkst, dann wirst du nach Marburg an die Universität gehen und dich mit den Aktenfaszikeln und Urteilen, den Eingaben und Widersprüchen befassen.«

Gregors Unmut schlug in Freude um.

»Danke, Vater! Ja, mein Sinn geht viel eher auf den Handel, und ich denke – auch, wenn ich es nicht allein darauf abgesehen habe – er ist einträglicher und ernährt eine Familie besser als die Juristerei! Ich werde dich nicht enttäuschen!«

»Hört, hört – das geht ja schnell bei dir! Wer ist denn die Liebste, hab ich sie schon kennengelernt? Wann ist die Hochzeit? Haben wir noch Zeit, die gute Stube herauszuputzen?«

 

Paulus Geismar lachte, und Gregor stimmte mit roten Ohren ein.

»Hast wohl mit deinen Johannisgürteln schon eine Braut eingefangen?«

»Beschäm mich nur, Vater. Du weißt doch, dass ich mir erst ein Auskommen schaffen will, bevor ich an dergleichen denke … Ich denke nicht so wie Eyb im Ehebüchel …«

»Mein Sohn ist leider den Büchern verfallen …«, sagte Paulus Geismar, doch Daniel wehrte das Wörtchen leider kopfschüttelnd ab.

»Da wird er in der Bibliothek meines Oheims noch so einige Lektüre vorfinden. Sollte ich sie vor ihm wegschließen, weil es sonst nichts würde mit der Kaufmannslehre? Nein, ich denke, im Grunde ist die Buchgelehrsamkeit für meinen Berufsstand unumgänglich. Also sei ihm das Lesen unbenommen. Nur in der Liebe ist es oft nicht so einfach, das Wissen aus den Büchern mit dem Leben übereinzubringen. Da wird er seine Erfahrungen in praxi machen müssen.«

Sie einigten sich darauf, dass Gregor schon am übernächsten Tag bei Daniel anfangen würde. Gregors Gesicht glühte vor Freude, und Daniel riet ihm scherzhaft: »Fabrizier deine Johannisgürtel nur trotzdem! Kann nie schaden, da zu sein, wo Frauen sind. Ich saß viel zu lange im Kontor. Das mit deinem Gewand, das besprechen wir noch. Denn wenn Frauen eins auf den Tod nicht ertragen, dann ist es äußerliche Armut.«

Gregor sah ohne rechtes Verständnis an sich herab. Daniel seufzte, doch dies bezog sich nicht auf seinen neuen Gehilfen, sondern auf die Last der folgenden Tage.

»Nicht, dass du denkst, wir säßen nur da und würden Zahlen aufs Papier malen … Übermorgen um sechse?«, fragte er, als am Vititor endlich die Reihe an ihm war zu passieren.

»Die Hand darauf!«, sagte Gregor mit stolzgeschwellter Brust. Eine glorreiche Zukunft stand ihm vor Augen. Leichte Bewegung würde ihn dabei nicht schrecken – solange das Ganze nicht in Arbeit ausartete …

Weitere Bücher von diesem Autor