Schattenwelten

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Kapitel 2

Die Schattenbreite, so stellte Duncan fest, war eine Kopie der Welt, die er gerade verlassen hatte.

Nur mit den Lichtverhältnissen schien hier etwas nicht zu stimmen.

>>Ist es Tag oder Nacht? , <

>>Es ist Tag, << antwortete sie, >>obwohl das hier nicht immer klar zu sagen ist.

Auch Tagsüber ist die Schattenbreite erfüllt von Zwielicht, was aber wohl so in ihrer Natur liegt.

Es fällt Regen, es schneit und es gibt Wind, sogar Stürme.

Nur der technische Fortschritt scheint seinen Weg nicht hierher zu finden, bis auf einige Ausnahmen.

Zum Beispiel gibt es hier keine Automobile, aber wir haben Strom.

Mobiltelefone funktionieren, wenn auch nicht immer, aber das kennt man ja auch von der anderen Seite und ist wohl nicht so ungewöhnlich.

Es gibt hier keine Computer, denn die lassen sich nicht durch die Portale transportieren, ohne dabei kaputt zu gehen. In mancherlei Hinsicht erinnert unsere Welt etwas an die Zustände der realen Welt Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.<<

Duncan erwiderte nichts, er verstand sofort, was Piper meinte.

Er hatte Passanten beobachtet, die über die Straße geeilt waren.

Einige trugen Anzüge, doch andere wiederum kleideten sich in Mäntel und Stiefel, die fast schon mittelalterlich wirkten.

Die Straßenlaternen wurden scheinbar mit Gas betrieben, denn in ihnen flackerten bläulich schimmernde Feuerkugeln. Er hörte ein Rauschen in der Ferne, und als er Piper danach fragen wollte, erriet sie seine Gedanken sofort und sagte:

>>Das ist die Themse. Hier bei uns ist sie noch der alte Fluss, der wild und ungebremst durch die Ebene gleitet, sozusagen. Es gibt keine Flussbegradigungen oder ähnliches. <<

>>Wie groß ist diese Welt? , fragte Duncan und sah zum Himmel hinauf und einer blassen, im Dunst kaum erkennbaren Scheibe, die wohl die Sonne war.

>>Genauso groß wie die andere Seite, auch wenn hier etwas andere Gesetzmäßigkeiten herrschen.

Bei uns gibt es gewisse Unterschiede, aber die findest du mit der Zeit schon heraus.

Ich sollte dich nun zur Agentur führen, denke ich. <<

Gemeinsam gingen sie die Straße entlang, wobei Duncan sich ständig umblickte und all die neuen Eindrücke in sich aufnahm.

Es schien hier zuzugehen wie auf der anderen Seite, doch es herrschte längst nicht so ein Gedränge.

Viele Gestalten, die er erblickte, gingen gebückt und sahen nervös um.

Andere blieben stets in den Schatten der Häuser am Straßenrand.

Schließlich gelangten sie an auf eine breite Hauptstraße, auf der Kutschen fuhren.

Die Tiere, von denen sie gezogen wurden, sahen auf den ersten Blick aus wie normale Pferde, doch es gab einige die eher wie eine Mischung aus Pferd und Ochse wirkten.

Die, die wirklich wie Pferde aussahen, waren meist schwarz und hatten Augen, die wie glühende Kohlen brannten. Es gab sogar welche, die aus nicht viel mehr als Haut und Knochen zu bestehen schienen, daher hielt Duncan sich sicherheitshalber fern von ihnen.

Eine Meute von Kobolden kam plappernd auf sie zu.

Als sie in Rufweite kamen, drang ein der Geruch von billigem Schnaps in Duncan’s Nase.

Die Kobolde wankten ein wenig, doch sie schienen sich prächtig zu amüsieren.

>>Kobolde, << flüsterte Piper.

>>Die können aus fast allem Schnaps brennen, und sei es aus einem Paar alter Socken.

Und genauso gut sind sie auch beim Trinken. Wer versucht, einen Kobold unter den Tisch zu trinken, riskiert eher eine Alkoholvergiftung, als dass er gewinnen könnte. <<

>>Hey Baby, << rief einer aus der Meute, >>willst du nicht mein Liebchen sein?! <<

>>Ich bevorzuge Männer in meiner Größe, << erwiderte sie freundlich.

Der Kobold musste sich an einen Laternenpfahl stützen, um nicht umzufallen, und rief:

>>Es kommt nicht auf die Größe an, Hübsche, sondern auf das, was man damit anstellen kann. <<

Er rülpste und stieß dabei eine rötliche Dunstwolke aus, die einige Sekunden in der Luft schwebte und dann zerfaserte.

>>Wenn dir das ein Mädchen erzählt hat, dann hat sie dich angelogen, << antwortete Piper und setzte ihren Weg fort.

Der Kobold schwieg und schien über die Worte nachzudenken, doch seine Kumpane waren schneller von Begriff und lachten dreckig.

>>Wer regiert diese Welt?, << fragte Duncan nach einiger Zeit.

>>Wir haben keine Regierung, wenn du das meinst, <

>>Es gibt gewisse Vereinbarungen zwischen allen Wesen, die die Schattenbreite ihr Heim nennen.

Und über die Einhaltung dieser Regeln wacht die Agentur.

Die Gemeinschaft herrscht hier. Es gibt ein paar Oberste, die man als Stützen der Gesellschaft bezeichnen könnte und die über einen gewissen Einflussbereich verfügen, aber sie regieren nicht in dem Sinne. Immerhin gibt es auch keine Steuern hier bei uns, da es auch keinen Verwaltungsapparat gibt, der diese eintreiben könnte, und das ist doch schon mal ganz gut. <<

Sie näherten sich Big Ben, der sich wie ein Leuchtfeuer über die Dächer der Stadt erhob.

Vor ihnen lag die Westminster Bridge, doch sie hatte nur wenig Ähnlichkeit mit ihrem Pendant auf der anderen Seite.

Kopfsteinpflaster bildete die Straßendecke, auf der unzählige Karren und Buden errichtet worden waren, an denen Händler ihre Waren feil boten.

Hier herrschte ein größeres Gedränge, so dass sich Duncan dicht bei Piper hielt, um sie nicht im Gewühl zu verlieren.

Auf einem Marktkarren erspähte er Obst, woraufhin sein Magen sich augenblicklich zu Wort meldete und zu knurren begann. Er trat näher heran und betrachtete die Auslagen genauer, was sich als Fehler herausstellte. Direkt neben den roten Äpfeln, den saftigen Birnen und Tomaten standen Holzschälchen, in denen sich grüne, braune und sogar blaue Würmer wanden und krümmten.

In Einmachgläsern krabbelten glitschige Käfer herum, deren Rüssel gierig durch die Luft züngelten.

Duncan verlor schlagartig seinen Appetit.

Piper trat zu ihm und blickte auf das Angebot verschiedenster Kriech- und Krabbeltiere.

>>Nicht alle Bewohner der Schattenbreite sind von menschlicher Natur, << sagte sie und deutete auf eine gedrungene Gestalt in ihrer Nähe.

Das Wesen trug einen schmutzigen Mantel, dessen Saum das Schmutzwasser der Straße aufgesogen hatte und unter dem zwei behaarte Plattfüße hervorragten.

Der Kopf glich dem einer Ratte, nur das die Nase nicht so lang und spitz war. Das Gesicht glich eher dem eines Mopses mit akuter Magenverstimmung, so verkniffen blickte das Wesen drein.

Es schien gerade einen Beutel voller Käfer erworben zu haben, öffnete kurz seinen Mantel und verbarg seinen Einkauf darunter.

>>Wenn es existieren

kann

, dann existiert es hier auch, << fügte Piper hinzu.

>>Weil also jemand daran glaubt, << erwiderte Duncan und bediente sich dafür an dem, was Trashcan ihm erzählt hatte.

Piper sah ihn an und antwortete:

>>Absolut richtig, ja . Du scheinst langsam zu verstehen. <<

Sie deutete auf das Parlamentsgebäude.

>>Dort hat die Agentur ihren Sitz, denn dort lagert fast das gesamte Wissen unserer Welt.

In diesem Haus findest du ein noch gewaltigeres Archiv, als jenes, über das Piotr wacht.

Die gesamte Geschichte der Schattenbreite, alle Geburten und Todesfälle, kannst du dort nachlesen.

Man wird wahrscheinlich schon auf uns warten, doch eines möchte ich dir vorher noch sagen.

Neulingen gegenüber verhalten sich die Alteingesessenen immer etwas spröde, lass dich davon also nicht abschrecken. Du bist ein

Insider

, das sehe ich auf den ersten Blick.

Wenn es nach mir ginge, dann wäre das Blutritual unnötig, aber vielleicht fördert es ja etwas zutage, dass dir Antworten auf die Fragen deiner Herkunft geben kann.

Du warst viele Jahre außerhalb der Schattenbreite, was dir vermutlich einige übel nehmen werden.

Es gibt gewisse Leute, die dich deswegen für kein vollwertiges Mitglied unserer Gemeinschaft halten.

Diejenigen gehören den Familien an, die die andere Seite verabscheuen.

Sie wurden in der Schattenbreite geboren und wollen auch hier sterben, wenn möglich, ohne auch nur ein Mal die andere Seite besucht zu haben.

Du hast alles in dir, um die Aufgaben, die man dir stellen wird, zu erfüllen, also lass dich nicht verunsichern. Und wenn alles schief zu gehen droht, hör auf deine innere Stimme. <<

>>Was genau geschieht bei diesem Blutritual? , <

>>Man wird dir etwas vorlegen, was deiner Familie gehört hat.

Oder deiner vermutlichen Familie, wenn wir vorerst dabei bleiben wollen.

Es ist ein Gegenstand von großer Macht und Bedeutung, denn es wird dich einer Art Taufe unterziehen, an deren Ende du deinen Avatar erschaffen wirst.

Dieser Vorgang dauert nur eine Minute, vielleicht auch zwei, doch dir kann es dabei länger vorkommen.

Wenn du nicht zu der vermuteten Familie gehören solltest, wird der Gegenstand gar nicht erst auf dich reagieren. Dann wird die Agentur für dich ermitteln müssen, aus welchem Hause du abstammst.

Also sei unbesorgt, Duncan, und mach dich frei von allen Ängsten.

 

Du gehörst hierher, das ist unbestreitbar, also wird dir niemand etwas zu Leide tun. <<

>>Was für ein Gegenstand ist das denn? <<

Piper zuckte ein Mal mehr mit den Schultern und gestand damit ihre Unwissenheit ein.

>>Es könnte im Grunde alles Mögliche sein, von einer Vase bis hin zu einem Totenschädel.

Es ändert häufig die Form, also muss jede Generation aufs Neue geprüft werden, um sich qualifizieren zu können. <<

>>Qualifizieren, << wiederholte Duncan, >> klingt ja fast nach einem Wettbewerb.

Oder nach Auslese, wenn du mich fragst.

Unbeliebte oder Unfähige werden ausgesondert, damit Beliebtere zum Zuge kommen können. <<

>>Das Objekt kann in seiner Reaktion oder Entscheidung, auf jemanden zu reagieren, nicht beeinflusst werden, << erklärte Piper geduldig.

>>Das kann niemand, nicht einmal der mächtigste Avatar. Und es gibt sehr mächtige Avatare, das kannst du mir glauben. <<

>>Und worin besteht die Macht eines Avatar? Du sagtest, dass du Hoffnung gibst und eine Quelle des Trostes für die Mutlosen sein kannst. Wie sieht das bei den anderen aus? <<

>>Es gibt welche, die dir mit dem Wink ihrer Hand jeden Knochen im Leib zu Staub zermalmen könnten, solange du noch kein vollwertiges Mitglied unserer Gemeinschaft bist.

Andere sind in der Lage, deinen Geist zu beeinflussen. Sie könnten dich glauben lassen, der glücklichste Mensch zu sein, oder sie geben dir mehr Kummer und Seelenqualen ein, als du ertragen könntest, und treiben dich so zur Verzweiflung.

Die Macht eines Avatar kommt immer aus der seines Erschaffers.

Es geht dabei um zwei Dinge, die das ganze Leben bestimmen, nämlich Gut und Böse.

Beides liegt tief in deinem Herzen verborgen und lenkt deine Wege, ob dir das bewusst sein mag oder nicht.

Ist das Gute die Wurzeln deines Handelns, dann wird auch dein Avatar positiv wirkende Kräfte entwickeln. Andersrum funktioniert es nach dem gleichen Prinzip, was aber weniger schön wäre.

Und eine Seite ist immer stärker als die andere, denn Ausgeglichenheit im Herzen ist nur eine Illusion. Zur Erinnerung; es gibt hier keine Grautöne, sondern nur Schwarz und Weiß.

Und je stärker die entsprechende Ausrichtung ausfällt, desto mächtiger ist dein Avatar, sowohl in konstruktiver, aber auch destruktiver Hinsicht. <<

>>Wenn ich also tief in mir einen bösen Kern hätte, dann wäre mein Avatar ein Kinder fressendes Scheusal, richtig?, << erwiderte Duncan.

>>Nicht ganz genau so, aber es trifft den Kern der Sache ziemlich gut.

Da es nur zwei Seiten gibt, kann die Auswahl auch nur aus diesen beiden bestehen.

Niemand kann sein Herz beeinflussen, und niemand wird dafür verurteilt.

Wenn jemand also einen destruktiven Avatar besitzt, dann wird man versuchen, ihn nutzbringend für die Gemeinschaft einzusetzen. Das Universum verschwendet nichts, und so halten wir es hier in der Schattenbreite in solchen Fällen auch. <<

>>Selbst, wenn es sich dabei um ein aggressives Monstrum handelt? , <

>>Es gibt immer einen noch stärkeren Avatar, << antwortete Piper, >>also mach dir darum keine Sorgen. Ich spüre, dass viel Gutes in dir steckt. <<

Duncan konnte darauf nichts erwidern, denn sie erreichten nun den Eingang des Gebäudes.

Schweigend traten sie in die Empfangshalle, einen mit Marmor und dunklem Holz ausstaffierten Saal.

Ihnen gegenüber stand ein Pult, neben einer breiten Flügeltür, hinter dem eine hagere Frau zu sehen war, die völlig gleichgültig abwartete, bis sie näher getreten waren.

>>Sie wünschen? , << fragte sie mit hoher und näselnder Stimme.

>>Wir möchten zu Mr. Frankenstein, << antwortete Piper.

Die Frau hüstelte künstlich.

>>Mr. Frankenstein ist in einem Meeting, << sagte sie, >>und ist derzeit unabkömmlich.

Wenn sie ihm eine Nachricht….! <<

Piper unterbrach die Frau.

>>Jonathan Miller schickt mich, sagen sie ihm das. Er erwartet uns, also lassen sie uns passieren. <<

Die Frau zuckte erschrocken zusammen, als sie den Namen Miller hörte.

>>Ich werde schauen, ob er sein Meeting beendet hat und Zeit für sie findet. <<

Die Frau öffnete die Flügeltür nur einen Spalt weit, huschte hindurch und verschwand, während die Tür sich langsam wieder schloss.

Piper wirkte angespannt, wie Duncan feststellte.

Nervös ging sie auf und ab, warf ständig einen Blick auf die Flügeltür und gab leise Verwünschungen von sich.

Duncan, der im Grund mit allem rechnete, trat gelassen zur Tür und wollte daran lauschen.

Plötzlich öffnete sich diese.

>>Ach du Scheiße, << entfuhr es Duncan erschrocken und er sprang zurück.

In der Tür stand ein Mann, groß und sehr kräftig gebaut. Er trug ein graues Baumwollhemd und eine Jeans, doch der Grund für Duncan’s Schreck rührte von den Narben her, die sich über das Gesicht und den Hals des Fremden zogen.

Er sah aus, als hätte man ihn zusammen genäht, denn seine linke Gesichtshälfte passte absolut nicht zu der rechten. Seine Ohren waren auch unterschiedlich groß und saßen nicht dort, wo sie sitzen sollten. Und auf seinem Schädel war nicht etwa Haar oder eine Glatze zu sehen, sondern eine glänzende Metallplatte.

>>Guten Tag, << sagte der Mann freundlich.

>>Ich darf sie zum Büro meines Meisters geleiten. Wenn sie mir also bitte folgen würden? <<

Der sanfte Tonfall seiner Stimme und die höflichen Umgangsformen wirkten an diesem wandelnden Flickwerk von Mensch völlig deplatziert, doch Piper nahm Duncan etwas von seinem Schrecken, in dem sie sagte:

>>Das ist ein Avatar. Man kann es erkennen, wenn man in der Lage ist, die Zeichen zu deuten. <<

>>Der sieht aus wie Frankensteins Monster, << stöhnte Duncan und schüttelte sich vor Grauen.

Das Buch von Mary Shelley hatte er noch im Waisenhaus gelesen, was schon einige Jahre zurücklag.

Danach hatten ihn wochenlang Albträume nachts wachgehalten.

Der Unhold blieb stehen, um eine weitere Tür zu öffnen, wandte sich aber vorher an Duncan und lächelte milde.

>>Sie scheinen neu zu sein, << stellte er fest.

Duncan nickte nur, denn die Furcht schnürte seine Kehle zu.

>>Ja, dachte ich mir, << sagte der Avatar, >>daher möchte ich sie auf etwas hinweisen.

Was sie eventuell auf der anderen Seite gelesen oder gehört haben, muss nicht zwingend der Wahrheit entsprechen. Ich habe noch nie Kinder erwürgt oder Bräute in ihrer Hochzeitsnacht gemeuchelt. Das ist übelste Propaganda, gegen die ich mich hier deutlich aussprechen möchte.

Solch Rufmord kann üble Folgen nach sich ziehen.

Sie sind ein Neuling in unseren Reihen, daher will ich nachsichtig sein.

Wenn sie mir nun bitte weiter folgen würden? <<

Er öffnete die Tür und gab so den Blick auf einen langen Flur frei, an dessen Seiten abgetrennte Bürobereiche zu sehen waren.

Einige der Anwesenden hoben kurz ihren Kopf und sahen über die Trennwände hinweg zu ihnen hinüber, wandten sich dann aber wieder ihrer Arbeit zu.

>>Darf ich sie etwas fragen, Sir? << sagte Duncan, während er dem Unhold weiter folgte.

>>Natürlich dürfen sie, << antwortete dieser.

>>Wie heißt ihr Meister? <<

Der Mann blieb erneut stehen und drehte sich zu Duncan um.

>>Er könnte jeden Namen haben, << verkündete er etwas lauter als nötig, >> das wir uns da richtig verstehen. Das er rein zufällig

wirklich

Frankenstein lautet, das sollte nicht von Belang sein.

Die üble Nachrede, der er zum Opfer fiel, verdankt er nur einer jungen Dame, die extrem nachtragend war.

Er hätte darauf achten sollen, bevor er sich mit ihr einließ. <<

>>Von wem sprechen sie? <

>>Von Mary Shelley natürlich, << erwiderte der Avatar sofort.

Duncan blieb abrupt stehen und starrte den Unhold an.

>>Sie wollen mir erzählen, dass die Geschichte von Frankenstein’s Monster entstand, weil sich Mary Shelley an ihrem Meister rächen wollte? Weil er sie hat abblitzen lassen? <<

Der Unhold schien kurz zu überlegen, dann erwiderte er:

>>So ungefähr war es tatsächlich. Er musste sie verlassen, es hätte ja niemals mit den beiden klappen können, und das wollte Miss Shelley nicht wahrhaben.

Sie zog sich zurück, verbrachte viel Zeit auf dem Kontinent bei ihren obskuren Freunden und verrannte sich in Rachegedanken. <<

>>Sie scheint das in keinster Weise zu belasten, << sagte Duncan.

>>Oh, ich stehe über solchen Dingen, aber mein Meister konnte sich für Jahre nicht auf der anderen Seite blicken lassen. <<

>>Wir sind nicht hier, um alte Geschichten aufzuwärmen, << sagte Piper und trat zwischen die beiden.

Der Unhold nickte nur und führte sie durch den Büroraum, hin zu einer schwarzen Tür, auf der ein goldenes Schild angebracht war.

Zu lesen war darauf:

Viktor Frankenstein

Büroleiter

Artefakt-Archivar

>>Was sind das für Artefakte, <>von denen da die Rede ist?<<

>>Sie werden es bald erfahren, << erwiderte der Unhold und klopfte an.

Man hörte ein Poltern, dann das Rascheln von Papier.

>>Herein, << rief schließlich eine Stimme.

Piper öffnete die Tür und trat in das Büro dahinter.

Es war ein kleiner Raum voller Aktenschränke. In der Mitte stand ein altmodischer Schreibtisch, der mit grünem Filz bezogen war und auf dem sich etliche Aktenstapel türmten.

Dahinter saß ein Mann in einem Ohrenbackensessel und blickte die Neuankömmlinge erwartungsvoll an.

Er trug eine dicke Nickelbrille, die seine Augen unnatürlich groß aussehen ließen, hatte langes graues Haar, welches fettig und ungepflegt wirkte und ein rundes und pausbäckiges Gesicht.

>>Ah, endlich, << verkündete er freundlich.

>>Danke, Igor, du kannst jetzt gehen. <<

Duncan’s Lippen wiederholten stumm den Namen Igor, und er warf Piper einen fragenden Blick zu.

Diese zuckte nur mit den Schultern und trat näher an den Schreibtisch heran.

>>Sir, ich bringe ihnen hier den Jungen, den mein Meister ausfindig gemacht hat.

Er soll vor der Aufnahme in die Agentur auf jeden Fall im Raum der Artefakte geprüft werden.

Mister Miller wies mich an, dafür Sorge zu tragen. <<

>>Ist seine Abstammung denn nicht bekannt?, << fragte der Büroleiter.

>>Nicht gänzlich, wie es scheint, << antwortete Piper.

Frankenstein erhob sich und trat um den Schreibtisch herum.

Er war von kleinem Wuchs und ging leicht gebückt, was ihn jedoch nicht zu behindern schien.

>>Sie sind also Mister Miller’s neuestes Wunderkind, << stellte er in sachlichem Ton fest.

>>Hat man ihnen erklärt, was sie hier sollen? Hat dieser Avatar ihnen den Sinn und Zweck ihres Hierseins genau erläutert? <<

Dieser Avatar, wiederholte Duncan’s zweiter Gedanke, klingt nach einer gewissen Abneigung ihnen gegenüber.

>>Nicht ganz, << erwiderte Duncan ernst. Er mochte Frankenstein schon jetzt nicht, wenn er so mit Anderen umging.

Piper schien sich an dieser Bemerkung nicht zu stören und schwieg.

>>Aha, ich dachte es mir fast schon. Sie können zu ihrem Meister zurückkehren und ihm mitteilen, dass ich den jungen Mann zuerst genau unter die Lupe nehmen werde. <<

Die letzte Anweisung galt natürlich Piper, doch diese schüttelte nur den Kopf.

>>Meine Anweisungen sind klar formuliert worden von…, << begann sie, doch Frankenstein schnitt ihr mit einer jähen Handbewegung das Wort ab.

>>Ich bin hier zuständig, nicht Jonathan Miller, << sagte er mit harter, kalter Stimme.

>>Ich sagte, sie können gehen. Ich hätte auch sagen können, dass man sie hinaus geleitet.

 

Welche Form des Aus-dem-Raum-Bewegens ziehen sie vor, junger Avatar? <<

Piper schnappte zornig nach Luft, doch sie widersprach kein zweites Mal, sondern nickte nur.

Sie trat wortlos an Duncan vorbei und verließ das Büro.

Frankenstein nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Ärmel seines khakifarbenen Hemdes.

>>Wie lautet ihr Name, junger Freund?, << fragte er.

Duncan antwortete ihm und verschwieg dabei nicht, dass er ein Heimkind gewesen war.

>>Sie zweifeln daran, dass Dafoe ihr richtiger Nachname ist?, << hakte der Büroleiter nach.

>>Es gab gewisse Andeutungen, die man mir gegenüber gemacht hat, << entgegnete Duncan.

Frankenstein setzte seine Brille wieder auf und griff nach einer Akte, die auf seinem Schreibtisch lag.

>>Andeutungen, soso, << wiederholte er.

>>Dann lassen sie sich eines gesagt sein, junger Mann.

Trauen sie nie den Worten eines Avatar’s. Sie verkörpern all das, was wir nie sein können und nie sein

wollen

! <<

>>So wie Igor?, << erwiderte Duncan.

Frankenstein starrte ihn wütend an.

>>Werden sie nicht frech, << schnauzte er ihn an.

>>Ich halte hier ihre Akte in Händen, und sie enthält nichts, absolut nichts über sie.

Entspricht es ihrem Wunsch, dass das erste Dokument darin eine Rüge für schlechtes Benehmen ist?

Sie wissen nichts über unsere Welt, rein

gar nichts

!

Sie befinden sich hier nicht im Märchenland, wo niedliche Elfen über grüne Wiesen hüpfen.

Ihnen wurden die Augen geöffnet, aber sie haben noch nicht einmal einen kleinen Teil dessen gesehen, was unsere Welt ausmacht.

Ich finde es erschreckend, dass Jonathan Miller sie nicht aufklären ließ.

Er hätte es besser wissen müssen, aber nun fällt mir die undankbare Aufgabe zu, sie ins Bild zu setzen. Nehmen sie dort Platz bitte. <<

Er deutete auf einen Stuhl in der Ecke des Raumes und setzte sich selbst auf die Kante seines Schreibtisches.

Als Duncan sich gesetzt hatte, verschränkte Frankenstein die Arme vor der Brust und blickte nachdenklich zur Decke hinauf.

>>Sie stammen von jemandem ab, dessen familiäre Wurzeln hier, in unserer Welt, zu finden sind.

Noch wissen wir nicht, aus welcher dieser Familien sie stammen, aber das wird sich im Laufe unseres Treffens aufklären.

Insider

werden solche Sprösslinge genannt, weil sie beiden Seiten zugehörig sind.

Manche benutzen auch die Bezeichnung Wandere oder Springer, aber ich bleibe lieber bei der ersten Bezeichnung, denn sie hat mehr als nur eine Bedeutung.

Sie haben einen kleinen Einblick in unsere Welt erhalten, und sicher sind sie fasziniert.

Aber sie sind nicht Alice, und das hier ist nicht das Wunderland.

Es gibt hier genauso viel Schatten, wie es auch Licht gibt.

Diese Agentur ist ein Bollwerk, die einzige Grenze zwischen dieser Welt und der, aus der sie gerade kommen. Wir sorgen dafür, dass unsere Welt geheim bleibt, was auch zum Schutz der anderen Seite beiträgt. Es gibt hier vieles, was jeden normalen Menschen an Leib und Leben gefährden würde, wenn es auf die andere Seite vordringen könnte. Unsere Mitarbeiter verhindern dies.

Sie haben eine Frage dazu? <<

Duncan hatte vorsichtig die Hand gehoben und sagte nun:

>>Sir, mir wurde schon erklärt, dass diese Agentur zum Schutze beider Seiten geschaffen wurde.

Ist sie eine Art Geheimpolizei? Und warum wäre es gefährlich, wenn die andere Seite Bescheid wüsste? <<

>>Weil sie dann versuchen würde, ihre Probleme mit unseren Möglichkeiten zu beseitigen.

Stellen sie sich ruhig einmal vor, was das Militär mit einem Avatar machen würde, wenn sie seiner Habhaft werden würden. Und es entstünde Unfrieden.

Die Menschen sind untereinander spinnefeind, wie sollten sie da erst auf uns reagieren?

Die Existent der Schattenbreite muss ein Geheimnis bleiben, zum Wohle aller.

Und da kommen Menschen wie sie ins Spiel, junger Freund.

Ich nenne es Schicksal, dass es Menschen wie uns gibt. Die Aufgabe, eine Welt zu schützen, kann nicht jedem auferlegt werden. Unsereins ist vom Schicksal dazu ausersehen, dieser Aufgabe nachzukommen. Wir sind durch unsere Fähigkeiten dazu prädestiniert, diesen Job zu erledigen.

Wir sind Kinder beider Welten, wenn sie so wollen.

Und das befähigt uns dazu, das zu tun, was getan werden muss. <<

>>Und der Preis dafür ist was ?, << fragte Duncan misstrauisch.

Der Büroleiter glitt vom Tisch herunter und kam auf ihn zu.

>>Der Preis ist gering im Vergleich zu den Möglichkeiten, die man erhält.<<

>>Das beantwortet nicht meine Fragen, Sir,<< erwiderte Duncan.

Der Büroleiter blickte ihn eine Zeit lang an, dann nickte er.

>>Ja, stimmt, das war keine richtige Antwort. Sehen sie es als Angewohnheit eines alten Mannes, ständig um den heißen Brei herum zu reden.

Sie wollen wissen, wie hoch der Preis ist? Dann möchte ich ihnen nur eine Frage stellen.

Wie alt, schätzen sie, bin ich? <<

>>Wenn sie Mary Shelley kannten, dann würde ich sagen, sind sie sehr alt, << antwortete Duncan sofort.

Frankenstein wirkte verblüfft, dann aber lachte er laut auf.

>>Sehr gut, mein Freund, << rief er und kehrte zu seinem Stuhl zurück.

>>Und damit kennen sie fast schon die Antwort auf ihre Frage.

Sie werden sich entscheiden müssen, auf welcher Seite sie stehen.

Entweder bleiben sie ein Mensch, der altert und irgendwann stirbt, oder aber sie entscheiden sich dafür, ihre dunkle Seite als Gabe anzunehmen.

Sie werden zwar weiterhin älter, aber das wird sehr viel langsamer geschehen.

Während all die Menschen, die sie kennen, weiter altern und irgendwann vergehen, werden sie jung bleiben und ihre Aufgabe wahrnehmen. Das ist der Preis, junger Freund, und ich weiß aus eigener Erfahrung, wie hoch er in Wirklichkeit ist. Überstürzen sie ihre Entscheidung nicht.

Sie haben hier ein Zuhause gefunden, aus dem wir sie nicht vertreiben werden, wenn sie sich für die erste Möglichkeit entscheiden. Aber bedenken sie, welches Leben sie führen können, wenn sie sich für die Aufgabe und den Dienst in dieser Agentur entscheiden.

Sie werden jedem normalen Menschen überlegen sein, körperlich und geistig.

Und wir werden dafür sorgen, dass ihre Fähigkeiten zur vollen Geltung gelangen.

Es ist ihre Entscheidung! Ich gebe ihnen Zeit bis morgen früh. Bei Sonnenaufgang werden wir uns wieder treffen, dann können sie mir ihre Entscheidung mitteilen. <<

>>Und dann erfahre ich, aus welcher Familie ich stamme?

Ich habe Fragen, die ich gerne vorher stellen würde. <<

Frankenstein lehnte sich in seinem Stuhl zurück und winkte gelassen mit der rechten Hand.

>>Nur zu, << erwiderte er.

Duncan überlegte einen Moment, dann fragte er:

>>Wie viele von uns gibt es? Was genau meinen sie damit, wenn sie von meinen Fähigkeiten sprechen? Und gibt es noch andere Neulinge wie mich? <<

>>Menschen wie uns gibt es nur sehr wenige, << antwortete Frankenstein,>>denn wir sind rar gesät.

Zwar können wir uns Partner auf der anderen Seite suchen, doch Kinder zeugen sollte man nicht mit ihnen, zumindest als Mann. Frauen der anderen Seite, die die Kinder von Insidern austragen, sterben immer bei der Geburt. Es ist nicht ganz klar, warum das so ist, aber es ist eine unumstößliche Tatsache. Außerdem gibt es Belege dafür, dass die Nachkommen solcher Verbindungen sich stets der dunklen Seite zuwandten und eher früher als später ein verbrecherisches Wesen an den Tag legten.

Damit komme ich auf ihre zweite Frage nach den Fähigkeiten.

Wie sie genau beschaffen sind, kann ich nicht sagen, denn jeder Insider verfügt über besondere Begabungen, die meist kein Zweiter besitzt. Sie werden aber bald feststellen, was ich meine, sobald sie volljährig geworden sind.

Und sie sind in der Tat nicht der einzige Neuling, der zu uns gestoßen ist.

Es gibt auf der ganzen Welt Springer, die nur eine Aufgabe haben, nämlich das Ausfindig machen von Jungen und Mädchen, die vom Schicksal ausersehen sind.

Wir erwarten heute einen Neuling aus Frankreich.

Dort ist die Agentur zwar auch tätig, aber unsere Ausbildungsmöglichkeiten hier sind besser. <<

>>Sie sprachen von der dunklen Seite, << sagte Duncan.

>>Meinen sie damit Verbrecher? <<

Frankensteins Gesicht schien sich zu verfinstern.

>>Es ist von immenser Wichtigkeit, dass sie sich eine Sache bewusst machen, << verkündete er in düsterem Ton.

>>Es gibt auch hier verbrecherische Elemente, die unser System zum Kippen bringen wollen, die Macht an sich reißen möchten oder noch Schlimmeres beabsichtigen.

Diese Kriminellen sind nicht wie die Räuber, Mörder und Terroristen auf der anderen Seite!

Bedenken sie stets, aus welcher Welt diese stammen.

Diese Individuen brauchen keine Pistolen, keine Messer oder Knüppel, um jemanden umzubringen.

Bei manchen genügt schon ein Wink oder ein Wort, um einen Unvorbereiteten auf der Stelle zu töten.

Ihnen entgegen zu treten ist unsere oberste Pflicht!

Sie auszumerzen oder hinter Schloss und Riegel zu bringen ist unser Ziel. <<

Als Duncan wenige Minuten später das Büro verließ und auf die Straße trat, war sein Kopf angefüllt mit neuen Fragen, Gedanken und mit neuen Sorgen.

Es war inzwischen heller geworden und der Verkehr hatte zugenommen.

Pferdekarren polterten an ihm vorbei, beladen mit Fässern, Kisten oder auch Passagieren.