Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille

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Soll heißen, Marketing ist alles. Sein Blick hat langsam was von Landvermessung, wie er mich so abstarrt. Als wäre ich eine gut abgehangene Schweinehälfte, patscht er mir mal rechts, mal links an die sich allmählich rötenden Wangen und lallt mich in väterlichem Ton voll. »Wird schonn ’enny, krie’ ’mer hin. Jenug jelabert, ab morjen kann dich Delüah mal jepfleeeeecht am Hobel blasen«, spricht er und kippt dabei ein, zwei, ja drei jungfräuliche Wodka-Cola nach.

Mandy setzt uns Pommes Schranke mit optischen drei Kilo Majo vor, die Tacko als meine Henkersmahlzeit tituliert. Ob ich es glaube oder nicht: Ich bin im Begriff, Tackos Lehrling zu werden und sehe mich ihm schon Bierkästen auf seine Baustellen tragen. Wobei Bier eher Kondome sind und die Baustellen weibliche Dauermitglieder in seiner Pumperhütte. Während Tacko die pappigen Kartoffelsticks als Gleichnis für meine Oberarme missbraucht und ich den Gutschein hoch konzentriert, mit tastendender Zungenspitze an der Oberlippe, zum Flieger verbastele, fällt mir plötzlich eine seiner Eroberungen ein. Nicky! Was, wenn er recht hat und alle durchtrainierten Girls lediglich dort gefunden, gefangen und eingeholt werden müssten, ja abgefischt werden wollten. Dank Tacko hätte ich wohl die besten Connections, an sie heranzukommen, und das alles bezahlt. Ja, allein eine von ihnen wäre sicher schon perfekt. Die ideale Begleitung, ein optischer Bringer. Ich schaue Tacko tief in die Augen.

»Danke nochmals, mein Bester! Ich glaub, ich hab’s jetzt.«

Die schwerfällige, herumfuchtelnde Masse, die sich mein Kumpel nennt, reagiert jedoch nur noch eingeschränkt und gibt sich mit aller Restaufmerksamkeit der Neugestaltung meines Hemdes hin. Auf dem könnte gut lesbar stehen: »Kann Spuren von Erdnüssen enthalten«, denn Tacko hat seit einer Viertelstunde nichts Besseres im Sinn, als mich mit jenen zu bewerfen. Aber weder heiße ich neuerdings Dumbo, noch … ach egal. Auf solche Nummern, die man Viertklässlern heute als Ausdruck spielerischer Kreativität auslegen würde, muss ich nun wirklich keinen Elefanten machen. Wieso um alles in der Welt interessiert mich das jetzt überhaupt? Ja, sicher, mit Essen spielt man nicht, aber … hey, bin ich schon wieder nüchtern? Ich checke kurz meine Beweglichkeit, indem ich einmal um den Tisch flitze – oder das, was man so »flitzen« nennen könnte. Mist! Ich kann gar nicht so viel saufen, wie ich möchte, um so besoffen zu sein, wie ich sollte. Und das, obwohl ein flüchtiger Blick nach vorn ein bereits beachtliches Schlachtfeld offenbart. Die akkurat gekillten Gläser auf dem Wodka-Cola-Tablett liegen gequält auf der Seite und lechzen nach Zuwendung. Neben ihnen schlummern ihre Leidensgenossen, deren flüssige Whiskey- und Obstlerreste einen kleinen, klaren See auf der Tischplatte bilden. Tacko ist sichtlich bemüht, nichts verkommen zu lassen und mutiert zu einem menschlichen Staubsauger. Mit abgestützten Armen beugt er sich vornüber und senkt seinen karpfenmaulgleichen Mund hinab. Ein Bild, ein Moment! Anmutig wie zwei Pfund Hack! Als hätte ich Tacko in seiner Philosophievorlesung unterbrochen, lallt er mich fürsorglich voll, als ich ihm den Mund mit seinem Ärmel abwische und ihn Richtung Ausgang hieve.

»’enny, Mann! Jetzt schnapp dir de Welld. Füff Sachen … musste mach’n. Hihi, des reimd sich. Krass, ne!«

Ich hab genug intus, um ein paar Minuten mitzukichern. Mit letzter Kraft reißt sich Tacko zusammen, schüttelt sich kurz, packt mit beiden Händen meinen Kopf und diktiert mir direkt ins Gesicht: »Korrekter Body, schicke Bude, bisschen Arschloch, Vision und Macke. So machste die Mädels klar. Aber nicht so, guck dich mal an.«

Tja, würd ich gern, aber an mir hängt einer, der für sich genommen alle Kriterien erfüllt und nun hundertprozentig geschmeidig wie eine Python zu Boden gleitet. Mein soeben selbst ernannter Heilsbringer, meine ganz persönliche Task Force, die mich aus dem dunklen Tal der Einsamkeit emporheben will, braucht mich scheinbar gerade mehr als ich ihn. Mann, der sieht doch gar nicht so schwer aus? Deutschland wird am Hindukusch verteidigt und meine Rest-Ehre von Tacko. Okay, nun bin ich also in seiner Hand.

»Tacko? Taaaacko?«

Nichts zu machen, sein Sabber läuft gerade schillernd glänzend an meiner Knopfleiste herunter. In dieser Pose des innigen Zusammenhalts, wie er nur unter Männern existiert, geben wir wirklich ein süßes Paar ab, wie ein Arbeiterdenkmal im Dauerregen. Super, er hat sich mal wieder königlich selbst abgeschossen. READY FOR TAKE OFF!

RING, RING

BRRRR, KRRRR, KRRRRPPPP … SCCCHHHHHHHH! »Morgen Schmucker! Willste auch einen?«

Seidenglänzend schimmert es mokkabraun von der Wand zu mir herunter. Dem gegenüber thront ein gigantisches Bild amerikanisch gebauter Großkotzigkeit mit der New Yorker Skyline in magerem Schwarzweiß, das selbst den LED-TV über dem scheinbar staubentkernten Sideboard in strahlendem Cremeton wie ein Kinderspielzeug erscheinen lässt. Ein einzelnes Buch über die Abgründe menschlicher Psyche steht unmöglich übersehbar effektvoll postiert auf der elegant gearbeiteten Ablagefläche. Dekorativ verkatert liege ich auf der Couch inmitten eines Arrangements aus Fransenteppich, dem nussbraunen LACK-Couchtisch, umrahmt von einer nebeneinander fixierten Reihe aus NYVOLLS, über denen – etwas dezenter ausfallend – die Hepburn lasziv blickend mit langgezogener Zigarette hängt. Ja, unter der wäre ich auch gern mal aufgewacht.

BRRRR, KRRRR, CHHHHHHH … OOOCCCCCHHHH, SCHHHHHH. Tackos Espressoreaktor dampft ohrenbetäubend vor sich hin. Neu! Alles um mich herum duftet so pervers neu und unbenutzt. Unbenutzt! Also, wenn es ein Wort in Tackos Dasein wohl nicht geben würde, dann dieses. Hoch über mir zerteilen Tausende kleinster Glaskristalle das in das Zimmer hereinbrechende Morgenlicht. Unglaublich. Ich wache in der ersten Etage vom IKEA Halle-Leipzig auf. Treppe hoch, einmal rechts und dann zweite Ecke auf der linken Seite. Zumindest sieht’s hier so aus. Ich würde alles, was ich noch habe – gut, das ist auch nicht wirklich viel – darauf verwetten, dass dieser Nachbau original maßstabsgetreu sein muss. Hätte ich nach dem kleinen Bleistifthalter nebst den Notizkärtchen gesucht, ich wäre fündig geworden. Nur das spezielle Wochenendfeeling, wenn die Kleinfamilien einfallen, das würde Tacko mir nicht bieten können. Aber wer weiß, vielleicht würde eines fernen Tages ein Dutzend Halbwüchsiger klingeln und nach Papa suchen. Bei Tacko ist alles möglich.

Wann immer es darum geht, mal was Eigenes auf die Beine zu stellen, kopiert Tacko das, was ohnehin schon erfolgreich ist. Von den Chinesen lernen, heißt siegen lernen. Und so liest sich sein Steckbrief in Auszügen wie die Absicherung des eigenen Wohlgefühls.

Tacko (der; »unwiderstehlich« (laut eigenen Angaben))

• Größe: 1,85 m (gibt aber im Perso 1,89 m an, einfach um das Ego zu pimpen)

• Augenfarbe: wechselt zwischen grün, blau oder grau-blau (je nach Wetterlage und vorhandener Kontaktlinse)

• Lieblingsverein: FCB (weil man öfter mal eine Meisterschaft, den Pokal oder überhaupt was Internationales feiern will).

Völlig unnötig zu erwähnen, dass er treuer CDU-Sympathisant ist, zumindest seit Kohl die blühenden Landschaften ausrief, was bei ihm als Wendekind nachhaltig Eindruck gemacht hat. Der Einheitskanzler hat aus seiner Sicht immerhin alles richtig gemacht und Tacko die Hochglanzmagazine beschert. Wer braucht da noch den Weihnachtsmann. Nackte Tatsachen sind für Tacko eben immerhin Tatsachen. Ja, man kann auf der Sonnenseite leben, man muss es eben nur wollen. Sonne klingt gut, ein Kaffee würde es in Anbetracht des hilflosen Bildes, das ich auf seiner überdimensionalen Wohnlandschaft abgebe, für den Moment auch tun. Wie ich zu meinem Glück riechen kann, ist sein Kaffeeautomat ganz klar keine knopflose Attrappe aus dem Möbelhaus.

»Hey Schmucker, hier … deine Ration Morgenlatte.«

Mein Kopf dröhnt unerhört, als ich die heiße Kaffeetasse auf dem Glastisch neben mir aufschlagen höre.

»Danke Schatz!«, nuschele ich unverständlich zurück und bin pornoverträumt noch an Mandy plus Ex-Delia gefesselt und dabei auf, unter oder gar hinter einem anderen, nicht im verschwitzten Detail zu greifenden, aber verdammt paarungswilligen Weibchen zugange. Kacke! Besser kann ich das im halbschläfrigen Kopfkino wirklich nicht rausfühlen.

Schön, dass wenigstens meine Träume auch garantiert meine bleiben und sich Tacko dafür hoffentlich nicht auch noch interessiert und die ohne Skrupel downloaded. Es ist irgendwas kurz nach dem Morgengrauen, zumindest fühlt sich das hier alles so an. Welchen Tag haben wir eigentlich?

»Und wie bin ich überhaupt hierhergekommen?«

Fragen kostet bekanntlich nichts und hat folglich kein Anrecht auf Antwort, weswegen mir was Aufschlussreiches versagt bleibt und sich mein Gastgeber stattdessen klar und effizient mitfühlend über meine Optik auslässt.

»Junge, siehst du scheiße aus!«

»Danke, ich tue ja auch was dafür, Mr. Tacko.«

Meine Wimpernjalousien sind noch völlig schlafverklebt. Das weiß ich nicht nur, das merke ich auch deutlich. Wenn er mir Sekundenkleber untergejubelt hätte, ich würd’s glauben. Es ist mir nicht vergönnt, weitere drei Stunden in der so furchtbar gemütlichen, flauschigen Bettwäsche zu verweilen. Nein, meine Blase hat spürbar was dagegen. Und wenn ich mich schon mal aufraffe, um was wegzubringen, kann ich auch noch was Frisches in den Rachen schütten, denke ich und ziehe mir den Kaffee runter. Komisch, er hat besser gerochen, als er schmeckt, aber einer geschenkten Latte schaut man nicht auf die Röstung, oder so.

Was auch immer man inhalieren muss, um morgens überhaupt so super drauf zu sein, Tacko würde darin baden, so sehr strahlt er zu mir herüber, als wäre er in direkter Linie ein Nachfahre des Sonnenkönigs.

 

»Henry! Mann, Ladychecker! Bin echt beeindruckt. Die Nummer gestern hat sich ja gelohnt, wie?«, schallt es mir fröhlich entgegen.

Leider kann ich mich nicht erinnern, was er damit meint. Eine genauere Analyse will ich gar nicht angehen, da mir plötzlich speiübel ist und ich überlege, ob ich mich spontan in die fassungsvermögende Dekoschale erleichtere oder mich auf den Weg Richtung Bad aufmache. Unter den Schilderungen meiner gelallten Story aus der Nacht – Tacko hatte mich scheinbar nach allem befragt und ohne Fingernagelextraktion die pikantesten Details der letzten Monate entlockt –, schlurfe ich aufs Klo und platziere mich – so formschön, wie es mit entsprechend Restalkohol auf dem Topp geht – auf dem unbenutzt wirkenden Toiletten-Thron. Ich hab ja nichts gegen Reinlichkeit, aber wenn selbst das Badezimmer aussieht wie die Musterauslage bei Schöner Wohnen, dann macht mich das schon stutzig. Der wird doch wohl wirklich hier wohnen, oder? Hätte ich mein Handy zur Hand, würde ich gnadenlos meine Position checken, ob ich mich nicht doch gerade in die Musterauslage einer Badezimmerinstallation im Möbelhaus erleichtere. Und Wasser marsch! Okay, ist doch alles echt. Schwein gehabt. Mit dem leiser werdenden Rauschen fließt auch meine Hoffnung das Rohr hinab, dass Tacko mal das Thema wechselt. Selbst durch die geschlossene Tür kann ich ihn noch hören, wie er sich selbst hypt, dass ich nun Speed-Date-technisch mit seiner Hilfe entjungfert worden bin. Als wäre das alles nicht genug, schiebt er theatralisch die Bergformationen vor die Klotür, die ich bis zum Ehemaligentreffen mit ihm als Kaiser aller Sherpas noch überwinden müsse. Und in mir sammelt sich schon alles für die nächste Verstopfung.

»Aus deinem Job machen wir einfach ›Position in einem lokal ansässigen US-amerikanischen IT-Unternehmen, Sektion Customer Service & Development‹. Ich besorg dir noch ’ne Blanko-Visitenkarte von ganz oben. Und irgendein Mädel finden wir schon, zur Not buche ich dir eine, von mir aus eine mit horizontalem Happy End, verstehste.«

Ich kann mir seinen süffisanten Blick nur zu gut vorstellen.

»Henry, irgendwie ist das alles viel zu dünn. Da muss mehr Fleisch, verstehste! Ey, deine Speckrolle zählt da nicht.«

»Danke für die Blumen, du Arsch!«

»Sag mal, du schreibst doch noch … na hier … deine komischen Gedichte, oder?«

Achtung Tacko! Das Eis wird dünn.

»Hör mal. Ich hab ja nie verlangt, dass du das lesen sollst. Aber ich hab damit immerhin was ausdrücken wollen.«

»Ausdrücken? Pickel! Pickel haste zerquetscht und deinen Teenie-Depri-Herzschmerz ausgekotzt. Und gebracht hat’s bis jetzt jawohl nichts, wie?«

Das kann ich so nicht stehen lassen.

»Und was ist mit der Eins in Deutsch? Geliebt hat die Mehlich mich dafür, geliebt. Die ist gar nicht wieder fertig geworden.«

»Alter, die wollte nur deinen Arsch. Na, fürs Schultheater. Die hat billig eingekauft. Eiskalt aus dem Klassenlager. Wie auch immer. Mach doch mal was Lustiges, nicht immer diesen Weltschmerzschnodder, das zieht doch nur runter. Da schmeiß ich mich doch hintern Zug. Nee, was zum Lachen, dann flutscht das mit den Tussis auch. Die sollen sich nicht umlegen, sondern sich für dich hinlegen. Ich hab mich jedenfalls weggeschmissen. Ey, was ich in deinen Schränken gefunden hab. Mann, ’ne ganze Kiste mit Texten. Gold wars nicht, aber für ’ne Sitzung auf dem Klo schön kurz und flüssig.«

Die letzten Auswürfe habe ich da, wo ich gerade hocke, akustisch nicht ganz gefangen, da ich einfach mal zwischendurch den Wasserkasten hinter mir geleert habe, einfach um sein Gesabbel kurz zu übertönen, das aber unvermindert weiterdudelt.

»Okay, ich hack mal kurz was in deinen Account.«

Damit ich auch bald wieder was zum Hacken habe, wird er gleich stilvoll nachlegen. Gedacht von mir, ausgeführt von ihm.

»Na, damit du auch bald wieder was zum Hacken hast!«, höre ich ihn eine gefühlte Hundertstel später frohlocken. Tja, toll, wenn man sich blind versteht.

»Ich brauch die Scheiße nicht!«, brülle ich in die weiß gekachelte Stille der Nasszelle, was sein Gequassel in keiner Weise unterdrückt.

Und so redet er und redet und redet. Doch plötzlich ist er stumm, dafür rattert was. Vermutlich stupst er im Fratzenbuch online gleich noch was für die nächsten Abende an. Planung ist alles. Was auch immer er da gerade abzieht, irgendwie findet das einen Platz in mir, und das sicher nicht, weil ich etwas weiter unten in mir gerade Platz schaffe. Vielleicht hat er recht und ich muss einfach nur machen. Nicht denken, eiskalt durchziehen, was immer das aus Tackos Sicht heißen würde. Und das alles pronto rapido, die ganz schnelle Nummer? Da ist es wieder. Ich habe einfach keine Zeit. Gut, es ist ja nicht so, dass der Termin ganz überraschend einfliegt. Dörte hat schon vor Monaten in der Stadt herumgestalked und abgefragt, wer alles Lust hat. Aber mit jedem Tag, den die Neuauflage dieses Schmierentheaters näherkommt, realisiere ich die absolut bescheidene Bilanz dieses Jahres. Ziemlich mau für einen gestreckten Abend im Kerzenschein in der glattgebügelten Hotellobby. Nur um sich mit den fulminanten Präsentationen zu »Meine Yacht, meine Anlagestrategie, mein Herpes und meine Golftrainerin« die schmierige Feuchte zu reichen. Das alles kenne ich bereits so intensiv, dass bei mir schon bei der bloßen Vorstellung dieser fleischgewordenen Freundebuch-Show der Würgreflex einsetzt. Allein bei der Premiere dieser Zurschaustellung überschlugen sich die Eindrücke und somit hing ich im besten Wechselbad der Gefühle, in dem ich locker hätte ertrinken können. Vielleicht war es auch einfach purer Neid, dass nicht ich es gewesen bin, der einem gemieteten Helikopter samt Messe-Hostess entsteigen und den ganzen Abend über nicht nur von seiner ersten Weltumseglung schwärmen, sondern sich ebenso bewegt über den ekelhaft hohen Salzgehalt des Meerwassers vor Puerto Baquerizo Moreno auslassen durfte. Ja, Neid muss man sich verdienen. Gratulation, das hatte der Klassendepp vom Dienst geschafft. Hut ab, Georg! Bei der Fortsetzung vor fünf Jahren war es dagegen angenehm erträglich, weil ich damals als erfolgreicher Single locker baumelnd und beschwingt mitspielen konnte. Ich hatte gerade meinen Job bei SolViSun, einem aufgehenden Stern in der Produktion von Solarmodulen, angetreten und schwebte auf einer Welle des Glücks, die mich an diesem Abend direkt in die Fänge von Delia trug. Verdammte Scheiße, ich war ’ne gute Partie! Wie gesagt, ich war. Und wo bin ich jetzt? Verkatert auf der Toilette eines Kumpels, während meine vier Wände wie mein Herz leergefegt vor sich hin vegetieren. Der Typ im Spiegel hat nur noch entfernt Ähnlichkeit mit dem glücklichen Henry, der mir wie ein Ehemaliger aus meinem eigenen Leben wortlos gegenübersteht. Nicht ganz so still ist der Architekt meines neuen Ichs draußen, der unaufhörlich weitersabbelt, als ich frisch geleert wieder zu ihm ins Wohnzimmer gehe.

»Noch ’ne Latte, Henry?«

Ich nicke stumm mit dem Kopf und der Rest meines Ichs lässt sich aufs Sofa fallen.

Sein Couchtisch macht sich als Frühstücksecke nicht sonderlich gut. Wenn ich mich auf die Knie packen dürfte, dann hätte er die optimale Höhe. Da wäre ich in passender Greifposition für Kaffeetasse und Brötchen mit Marmelade, eben für alles, was da so liebevoll arrangiert ist. Das muss ich ihm lassen, ein guter Gastgeber war er schon immer. Nicht ganz so zielsicher ist er, wenn es um einen sanften Einstieg in den Tag geht, ganz so, als würde man sich bei Cornflakes und Milch erst einmal die Missbrauchsfälle auf der letzten Seite der Tageszeitung reinziehen. Als ich das stilvoll platzierte Netbook vom Frühstückstisch nehmen will, um mich nicht schon jetzt wie im Job zu fühlen, fällt mir fast das Brötchen aus den Zähnen.

»Wasssnnn dessss!«, nuschele ich überrascht.

»Das, mein lieber Henry, ist der noch geilere Henry, der Schnitten-Henry. Tuning, Alter! Tuning! Der ›Ich leg euch alle flach‹-Henry, der, der nicht allein schläft, also … sieh das mal sportlich. Wer will schon den Typen von nebenan, ne!«

Wenn ich eines Tages meinen Kindern erzählen müsste, wie das anfing, müsste ich mir spätestens dann eingestehen, dass es Tacko gewesen ist. Er hatte mich damit endentjungfert, zumindest was den damit tausendprozentig weltfremden Profileintrag im virtuellen Universum angeht. Der gepimpte Input von gestern ist bereits wieder Geschichte zugunsten eines rundum erneuerten Total-Updates. Ich bin mir echt nicht sicher, dass mir ausgerechnet diese Darstellung eines Typen, für den ich als Frau garantiert einen gerichtlichen Abstandsbeschluss erwirken würde, unter meinem Klarnamen gefällt. Danke Tacko! Jetzt hab ich jeden Tag einen Programmpunkt mehr. Nun würde ich zusätzlich auch noch ein Ladenhüter im Onlineshop sein, der völlig frustriert im Vierundzwanzig-Stunden-Modus nach Dateanfragen lechzt. Spitze! Es reicht also nicht mehr, die Mails abzurufen, den AB zu checken und, wenn es sein muss, auch noch in echt zu kommunizieren. Nun habe ich also noch was auf dem Tablett, das alles durcheinanderwirft. Okay, mein Profilfoto gefällt mir komischerweise ziemlich gut, was zugegeben durchaus daran liegen könnte, dass ich mich selbst nun so rein gar nicht mehr erkenne, in der Hoffnung, dass es dem Rest der Welt ebenso ergeht. Kann genauso gut aus dem letzten Quellekatalog stammen. »Herrenhemden – nur neunzehn Euro fünfundneunzig von S bis XXXXXL«. Aber hey, keine Pickel, keine Falten, kein Gesichtsausdruck, aber ’ne verdammt geile Sonnenbrille. Gut, dass die Tacko gehört, muss ich ja nicht in die Fußnote pressen. Zeile für Zeile gehe ich im Benutzerkonto die Angaben zur Person durch. Gerade als ich in einem moderaten Anfall von Aufrichtigkeit herauszufinden versuche, wie ich das mir angedichtete Geburtsdatum korrigiere – der Drecksack hat mich doch tatsächlich liebevoll sechs Jahre jünger gemacht –, gibt mein selbst ernannter Lebensretter den Drill Sergeant, der ernüchtert die Mission einleitet, der wir uns in wenigen Minuten todesmutig im Callcenter stellen müssen.

»Nu lass doch mal den Online-Scheiß. Wir müssen!«

Moment, so schnell schalte ich um die Uhrzeit noch nicht, was ihm völlig egal ist. Hat der nicht eben noch selbst …?

»Alter, der Schmitz! Also, der ist ganz megamäßig stinksauer. Der hat allein in den letzten zwei Wochen vier Leute rausgehauen. Und als er deine Karte aus der Dom-Rep in seinen Wurstfingern hatte, tja, ich sag mal so, Originalzitat: ›Wenn der Henry wieder im Office auftaucht, weht ein ganz anderer Wind, nicht so lau wie in Samana Beach.‹«

Wind, ja das ist mein Antrieb. Der kommt seit knapp einem Jahr mit ganz steifer Brise. Wind, hätte nie gedacht, dass ich nach meinem Rauswurf bei SolViSun wieder mit erneuerbaren Energien zu tun hätte. Der harte Westwind von Schmitz hat aber rein gar nichts Zukunftsweisendes. Der ist einfach nur von ganz oben zusammengekippt und beim Durchreichen in die unteren Führungslinien nach eigenem Credo unter Zugabe diverser Duftnoten und Beigeschmack verstärkt worden. Viele Köche kochen besser! Ach, SolViSun, das war noch was. Lohn weit über Tarif, Kollegen, die für ihren Job auch mal die Familie aufkündigten und samstags lieber für die Firma an neuen Konzepten werkelten, als mit ihren Lieben daheim ein paar Würstchen zu grillen. Ja, da stimmte einfach alles. Bezahlte Überstunden, Incentives auf Mallorca mit den Partnern. Natürlich war Delia dabei und ich gab ihr einen Henry von dem Format, den sie wollte. Einen, der alles für sie tun würde, der ihr ein eigenes Sonnensystem mit ihr als leuchtendem Mittelpunkt erschaffen würde, wenn sie sich nur traute, ihn danach zu fragen. Als alles perfekt ausbalanciert schien und die Bodenplatte für unser Häuschen fast gegossen war, erschien der übermächtige Chinese mit seinem auf Kosteneinsparung fixierten Konsortium auf der Bildfläche und zertrampelte das junge Pflänzchen des Firmenerfolgs. Die Dumping-Machete, die sich durch alle Einheiten schlug, wurde mein Dumping zwischen mir und Delia, bis ich ganz unten angekommen war, dort, wo ich sonst jeden Morgen meine Chipkarte als Schlüssel in die strahlende Zukunft zog – am Eingang, nur eben nun mit Blick nach draußen in die arbeitslose Ferne. Bestückt mit einer minimalen Abfindung und einem feuchten Händedruck der auf einen ganzen Mitarbeiter geschrumpften Abteilung schlich ich mich zu meinem in edles Schwarz gehüllten Mustang, der mich wie ein fieser Schatten meiner jungen Zweisitzer-Vergangenheit anstierte. Dass ich diesen Persönlichkeitsverstärker wegen eines Karibiktrips an einen zahlungswilligen Emporkömmling der Stadtsparkasse Filiale Nord verhökern würde, will ich auch heute noch nicht wahrhaben. Zugegeben, wann immer ich zufällig an ihm vorbeilaufe, komme ich nicht umhin, mit der flachen Hand sanft über die mich magisch anziehenden Seitenspiegel, die einmaligen formvollendeten Felgen und die elegant geführte Linie von der Motorhaube zum Heck zu streichen. Eines Tages gehörst du wieder mir. Eines Tages! Für den Moment hatte ich es mit dem Verkauf jedoch geschafft, Delia die nicht mehr vorhandene Sonne an meinem Karrierehimmel in den Alltag zu holen. Mit Geld geht alles. Ich buchte für schlappe viertausend Euro zwei Tickets für das Jammerspiel am weißen Strand, mit Vollverpflegung und Folklore, und verlor mit jedem Tag nicht nur angespartes Geld, sondern auch die Achtung vor mir selbst. Einen Ersatzjob hatte ich ohnehin sehr schnell gefunden. Ja, ich war Tacko sogar extrem dankbar dafür, dass er für mich im Callcenter ein gutes Wort einlegte. Gerade mal drei Tage später saß ich an einem neuen Platz, an dem gute Worte bares Geld brachten, Worte in den Ohren der ahnungslosen Neukunden, Flüssiges für mein ausgeblutetes Girokonto.

 

Und nun sehe ich mich gedanklich einem Boss gegenüber, den ich niemals wollte und nicht ernst nehmen kann, in diesen Hochwasserjeans, in diesem mit feinen Streifen übersäten, transparenten Vertreterhemd und einer täglich neu, aber kreativ bekleckerten Krawatte. Danke, das Frühstück ist für mich vorbei. Jetzt bin ich definitiv satt.

Tacko steht bereits an der Wohnungstür, als ich aus meinem Tagtraum erwache und noch immer nur spärlich bekleidet in den geliehenen Boxershorts auf der Couch hocke. Das Übrige an sauberen Klamotten liegt zusammengelegt rechts neben mir. Würde ich es anziehen, dann wäre auch das geliehen. Aber was soll ich sonst überstreifen? Mangels Alternative erhöhe ich meinen Schuldenberg bei Tacko und folge ihm nach unten zu seinem Auto.

Fünf Minuten später starre ich in die Mercedes S-Klasse neben uns und sehe einem kleinen Mädchen auf dem Rücksitz beim Popeln zu, während sich seine Mama vor dem Rückspiegel streckt und sich hochkonzentriert einen Pickel aus der Stirnfalte drückt, der sein Inneres geladen an das Spiegelglas schießt. Die Ampel zeigt Rot. Für einen Moment gebe ich mich der Illusion hin, dass ich der Mann auf dem Beifahrersitz sein könnte, mein Ich in geschätzten sieben Jahren, wenn alles anders gelaufen wäre. Ist es aber nicht, und so hocke ich stattdessen in einem handelsüblichen 94er Vectra mit Bassrolle und Ledersitzen auf dem Platz neben Tacko, der, sich gerade mit Eau de Clossette eindieselnd und noch immer an der Kreuzung wartend, den Verkehr hinter sich abcheckt.

»Warte mal!«, sagt er plötzlich und verschwindet mit langen Schritten im Coffeeshop gegenüber, während hinter mir die Tante vom Pflegedienst aufgeregt mit den Armen fuchtelt und das mir bekannte Repertoire an Beleidigungen um zwei beachtenswerte Beiträge erweitert.

So asoziale Gesten von der häuslichen Pflege! Lieber Gott, lass mich bloß nicht alt werden. Mit zwei Bechern in der Hand schlängelt sich Tacko durch den aggressiven Vormittagsverkehr zurück, lächelt die Pflegetante mit der Lockenmähne flüchtig, aber nachhaltig charmant an und schiebt mir einen extrem heißen Kaffee rüber.

»Wir hatten doch erst welchen bei dir. Soll ich dir ins Handschuhfach machen? Weißte doch, dass das bei mir durchschlägt.«

»Mann, checkst du’s nicht!«

»Nee!«, scheinbar nicht.

Aber schön, dass er fünf Euro sechzig für zwei zugegebenermaßen perfekt mit Haselnussflavour abgerundete Latte abgedrückt hat.

»Das ist Lifestyle. Mach, was du machen kannst, und nicht, was du brauchst. Wenn alle wie du wären, gäb’s nur blasse Toastschnitte mit Margarine und Kamillentee. Und bis das mal ›in‹ wird, da gehen noch ’ne Menge Hartz-IV-Kunden durch die Agentur wieder raus.«

Sein Charme ist entwaffnend, obgleich ich immer noch nicht ganz verstanden habe, was er gemeint hat.

»Raus hier! Und nehmen Sie Ihre beschissenen Fotos gleich mit!«, fährt es aus der Box und ich weiß, der Schmitz, mein Boss, würde den Rest des Tages exakt dieses Mindestmaß an guter Laune haben.

Wann immer er einen rauskanten kann, er tut es, weil er mal etwas tun muss. Und das lässt sich in der Chefetage super als innovativ fluktuierendes Personalmanagement verkaufen. Wie singt Grönemeyer so einprägsam: »Stillstand ist der Tod.« Ja, dann geht’s hier aber sehr lebendig zu.

»Glauben Sie ja nicht, dass Sie je wieder einen Job oder ’ne Tasse Kaffee bei uns bekommen. Was glauben Sie, was wir hier machen? Rumdödeln?«

Rumdödeln heißt bei Schmitz, sich beim täglichen Soll von zwanzig Neuverträgen nach dreiundzwanzig hintereinander eingefangenen Abschlüssen mal für gewagte fünf Minuten aufs Örtchen zu stehlen.

Peter hatte nun in selbiges gegriffen und ich kann mir eindrucksvoll vorstellen, wie er vor Schmitz winseln würde. Rückgrat, das kennt er nur aus »Was wäre, wenn ich die Millionen beim Samstagslotto gewinne«-Träumen. Mit vierundfünfzig Sommern auf dem Buckel, einer regnerischen Herbstsaison im Blick und einer langjährig geschaffenen Sammlung an Bandscheibenvorfällen im Rücken sieht das bestimmt nicht nach Neustart aus. Das Einzige, was in Fluss käme, sind die Schweißbäche auf seiner faltigen Stirn und die muchligen Winkel seiner Achseln. Totale Stille. Der atomare Erstschlag aus dem Chefbüro lässt die Pappwände noch immer zittern. Mit feuchten Händen und knallrotem Haupt schleicht Peter über den abgewetzten Flur. Wieder einer weg. Und wieder einmal eine spontane Besprechung, in der mit weihnachtlich getränkter Harmonie gleich neue Arbeit aus dem Sack verteilt wird. Meinen Schichtplan kann ich wohl vergessen. Ich frage mich echt, wie ich das alles packen soll. Die Wohnung, die Mädels und Tackos Coaching.

Tacko hat gerade noch an seinem Morgenlatte genippt und checkt nun am Rechner hockend die Neuzugänge für seinen One-Night-Stand-Kalender. Okay, zwei gebucht! Der Abend ist gerettet! Jetzt kratzt er sich, wo sonst kein Licht mehr hingelangt, und sichtet seinen Schreibtisch, während er, wie er es nennt, auf seine Art Geschäfte macht. Geben und nehmen! Ich schaue zu ihm herüber und sehe, wie er sich in den Poppschutz seines Headsets hineinkuschelt. Dieses merkwürdige Lächeln! Wie eine kleiner Junge, der ganz brav seine Pumpernickelschnitte herunterschlingt, weil er noch Nachtisch möchte. Sicher drängelt er einer vergreisten Kundin, nennen wir Sie mal Walburga Ahnungslos, eben ein DSL50000-Paket auf und hängt als Bonus ein Megatastenhandy für Totalblinde mit dran. Ja, das würde passen. Ich muss kurz grinsen, denn seine Masche ist durchaus clever. Schema F mit E wie Erfolg auf ganzer Linie.

RING, RING! Irgendwo in Deutschland klingelt ein unbeflecktes Telefon, eines, durch dessen Hörer noch niemals die Stimme von Tacko Seelenhändler gedrungen ist. Bis jetzt!

»Hi Oma, du, ich hab nicht viel Zeit, bin grad im Büro. Ja, ich mach mir echt Sorgen wegen deiner Blasen-OP. Aber ich schaff’s heute echt nicht mehr ins Krankenhaus …«

Dann lässt er Raum für die Kunstpause. Fein gemacht! Tacko hat sich mittlerweile eine ausgefeilte Story zurechtgelegt. Als ich in seinem Team aufschlug, hat er es noch mit geklauten Dialogen aus Billigsoaps probiert und die Nummer bis heute verfeinert, sodass nun ein perfektes Drehbuch vor ihm liegt. Eine Bibel für alle Eventualitäten. Obwohl ich da meine eigene Statistik führe, schaue ich gespannt zu, wie es diesmal ausgeht. In acht von zehn Fällen bemüht sich das angerufene Opfer aufzuklären, dass hier keinerlei bucklige Verwandtschaft am anderen Ende rumhockt, was dennoch nicht verhindert, dass nun ein intensiver Talk über Besagte beginnt und die Details des geplanten Eingriffs ausgebreitet werden. Danach steht Tackos vermeintliche Oma, Jahrgang 1921, vor ein paar monumentalen Einschnitten an der Scheidenwand, durch welche im Schambeinbereich ein beachtlich fettes Band gezerrt würde, das mittels zweier Nadeln um die Harnröhre zu legen ist. Dabei kann natürlich einiges schiefgehen, was er mehrmals nachdenklich klingend betont. Aus der Ohrmuschel von Tackos Headset dringt ein brüchiges »Ja, ja, und bei den Ärzten von heute, da geht ja auch immer was schief …« zu mir herüber, während er seinerseits die Schlinge enger zieht.

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