Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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Aus der Reihe: Veyron Swift #4
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3. Kapitel: Toms Mission

Als sich Tom vollkommen übermüdet aus dem Bett quälte und den Weg von seinem Dachspeicherzimmer nach unten in die Küche nahm, war es bereits später Nachmittag. Von Veyron war weder etwas zu hören noch zu sehen. Eine seltsame Stille herrschte im ganzen Haus. Für gewöhnlich marschierte sein Pate um diese Zeit in seinem Arbeitszimmer auf und ab, oder es dröhnte laute Musik durch alle Zimmer.

In der Küche angekommen fand Tom einen kleinen, sauber gefalteten Zettel auf dem Tisch. Veyron hatte mit dem Kugelschreiber eine Nachricht hingekritzelt.

Entschuldige, Tom, ich fürchte, ich vermag der Versuchung nicht zu widerstehen. Ich zitiere an dieser Stelle Martin Luther: »Hier stehe ich und kann nicht anders.« In ein paar Wochen sehen wir uns wieder. Für dein Auskommen ist gesorgt. Mrs. Fuller weiß Bescheid. Halte die Ohren steif.

V. S.

»Du Vollidiot, du Riesenarschloch!«, schimpfte Tom seinen nicht anwesenden Paten aus, zerknüllte den Zettel und schleuderte ihn mit aller Kraft durch die Küche.

Veyron war dieser elenden Seelenkönigin doch tatsächlich auf den Leim gegangen. Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Was sollte er jetzt tun? Ich werde auf der Stelle nach Elderwelt aufbrechen, entschied er. Sofort eilte er hinauf in sein Zimmer, packte Jacke, feste Schuhe, ein paar Ersatzhosen und T-Shirts zusammen und stopfte alles in seinen Rucksack. Ganz gleich, was er letzte Nacht zu Veyron gesagt hatte, niemals würde er seinen Paten allein nach Elderwelt reisen lassen – in ganz offensichtliche Gefahr.

Sein Smartphone piepte, schnell nahm er es zur Hand. Eine Nachricht von Jane.

Fahren jetzt durch Belgien. Veyron und mir geht’s gut. Seine Klientin macht mir echt Angst. Ich werde aufpassen.

LG, Jane

Tom klatschte die Hand an die Stirn und stöhnte entnervt. Veyron hatte Jane bequatscht, dass sie ihn begleitete. Na, immerhin war er nicht allein. Jedoch war Jane mit Elderwelt und seinen Gefahren so gut wie gar nicht vertraut. Diese Tatsache festigte Toms Entschluss, sofort nach Elderwelt aufzubrechen. Jane und Veyron brauchten seine Hilfe.

Plötzlich klingelte es an der Haustür.

»Das nicht auch noch. Ich habe weder Zeit für Mrs. Fullers Geschwafel noch für irgendwelche Klienten, die Veyron einbestellt hat. Oder gar für Inspektor Gregson, der noch ein paar Fragen hat«, murrte er. Es klingelte wieder. Aufgebracht warf er seinen Rucksack hinaus in den Flur und stürmte nach unten. Wer immer es war, er würde ihn abwimmeln. Als er die Haustür aufriss, hatte er sich schon die passenden Worte zurechtgelegt. Doch nun stutzte er überrascht.

Zwei junge, sehr attraktive Mädchen standen vor der Tür, beide im selben Alter wie er selbst, zwei wahrhaftige Schönheiten. Die umwerfende, aufregende Lilly Rodgers – und die nicht weniger bezaubernde Vanessa Sutton. Zwei wahre Engel, Lilly brünett, Vanessa blond; die beiden begehrtesten Mädchen an der ganzen Schule – mit nur einem Makel. Und der lautete Vanessa.

Ausgerechnet Vanessa, ebenso attraktiv wie durchtrieben! Das Mädchen, welches er am wenigsten leiden konnte, stand auf seiner Schwelle. Sie hatten mal was miteinander gehabt, sie und Tom. Es war nicht gut ausgegangen. Das Biest hatte ihn hintergangen – mit gleich zwei anderen Typen. Einer davon war ausgerechnet Lillys vor Arroganz platzender Bruder Stevie gewesen.

»Hi, Tom«, begrüßte sie ihn etwas verlegen.

Tom schüttelte den Kopf. Vanessa Sutton! Allein ihr Anblick trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. »Dafür hab ich keine Zeit«, schnappte er und wollte die Tür schon zuschlagen.

Doch Lilly Rodgers trat ihm einen Schritt entgegen, packte die Tür und stemmte sich dagegen. Deutliche Anspannung stand ihr im Gesicht. »Oh bitte, Tom«, flehte sie, »wir müssen mit deinem Onkel reden. Wir brauchen seine Hilfe.«

Er holte tief Luft, um den beiden zu sagen, dass sie ein andermal kommen müssten. Aber dann schaute ihn Lilly aus ihren einzigartigen, großen, grünblauen Augen flehentlich an.

»Es ist wirklich dringend. Es geht um Ernie. Nur dein Onkel kann uns noch helfen«, sagte sie. So wie ihre Stimme dabei klang, schien sie es ernst zu meinen.

Erst jetzt fiel Tom auf, dass Vanessa verunsichert auf ihrer Lippe kaute und regelrecht aufgewühlt wirkte. Da war eindeutig etwas im Gange. Okay, dachte er. Elderwelt kann noch zehn Minuten warten. Aber keinesfalls länger! »Veyron ist nicht da«, grummelte er, während er zur Seite trat, damit die beiden Mädchen ins Haus konnten. Wütend warf er die Haustür hinter ihnen zu. Wehe, wenn er seine Zeit mit diesen dummen Zicken verschwendete, während Veyron und Jane seine Hilfe brauchten!

»Dann warten wir auf ihn«, verkündete Lilly, als Tom an ihr vorbei eilte.

Er führte sie ins Wohnzimmer, wo er ihnen Platz auf der Couch anbot. »Was wollt ihr von Veyron?«

»Dein Onkel ist doch Detektiv, richtig? Er soll uns helfen, Ernie zu finden«, erklärte Vanessa halblaut.

Tom verzog kurz das Gesicht. Das Ganze mit Vanessa war zwar inzwischen zwei Jahre her –, aber es ärgerte ihn noch immer wie am ersten Tag.

»Da könnt ihr gleich zur Polizei gehen«, blaffte er die Mädchen an. »Veyron interessiert sich nur für ganz spezielle Fälle. Vermisste Jungs aufzuspüren, ist nicht sein Metier.« Am liebsten hätte er sie sofort wieder hinausgeworfen. Er musste nach Elderwelt, und sie belästigten ihn mit diesem Unsinn.

»Nein«, rief Vanessa verzweifelt. »Die Bullen werden Ernie sofort verhaften. Glaub mir, Tom: Nur dein Onkel kann uns noch helfen!«

»Redest du wirklich von dem Ernie? Von Ernie Fraud?«, fragte er verblüfft. Tom kannte den Jungen nur flüchtig. Ein hagerer Kerl, verschlossen und schüchtern. Erst letztes Jahr war Ernie neu an die Schule gekommen. Ein richtiger Außenseiter, der von allen gemieden und gehänselt wurde. Lillys Bruder, das Oberarschloch Stevie, hatte sich des Öfteren einen Spaß daraus gemacht, Ernie zu jagen und unter Druck zu setzen. Um die Lage noch schlimmer zu machen, war Ernie zu dieser Zeit unsterblich in die schöne Lilly verliebt gewesen.

»Ja, ich meine den Ernie Fraud. Gibt es denn noch einen anderen?«, maulte Vanessa und biss sich danach gleich wieder auf die Lippe.

Tom konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. »Seltsam … Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden? Erst letztes Jahr hast du Stevie doch gesteckt, dass Ernie Lilly nachstellt«, sagte er. Ein böses Triumphgefühl begann ihn zu erfüllen, als er sah, wie Vanessa sämtliche Gesichtszüge entglitten, wie sie in regelrechte Panik geriet und vor Verlegenheit glutrot anlief.

»Es war nur eine Schwärmerei von Ernie, und mein Bruder ist ein Idiot. Ernie und ich, wir haben das schon lange geklärt«, warf Lilly rasch ein, um einen Streit zu verhindern. »Sei nicht so gemein zu Vanny! Jeder macht mal Fehler!«

Tom zuckte ob dieser Kritik kurz zusammen, und ein wenig schämte er sich für seine Boshaftigkeit –, aber eben nur ein wenig.

»Tut mir leid. Also, was ist das mit Ernie? Warum ist es dir so wichtig, dass Veyron ihn sucht?«, wandte er sich wieder an Vanessa.

Sie schloss kurz die Augen und faltete die Hände, damit sie nicht zitterten. »Ich liebe ihn. Eigentlich habe ich das immer, und ich war total eifersüchtig, weil er nur Augen für Lilly hatte. Aber jetzt nicht mehr, er hat es mir gesagt. Er liebt mich auch. Oh mein Gott, wir sind wirklich total ineinander verknallt!«, sprudelte es zwischen ihren bezaubernden Lippen hervor.

»Ach was? Ich dachte, die Sache mit Stevie wäre noch aktuell«, meinte er mit einem neuen Anflug von Boshaftigkeit, was Vanessa erneut vor Verlegenheit rot anlaufen ließ.

»Lass den Scheiß, Tom! Wir brauchen die Hilfe von deinem Onkel, und wir brauchen sie jetzt! Das ist kein Spaß!«, fauchte sie ihn an, was Tom regelrecht zusammenzucken ließ. Gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt und fügte ein leises »Bitte, hör es dir zumindest an«, hinzu.

Okay, dachte er, sei wie Veyron. Immer ganz cool. Er räusperte sich und setzte sich in Veyron großen Ohrensessel. Genau wie sein Pate legte er die Fingerspitzen aneinander. »Also gut, dann erzählt mir, was los ist. Vielleicht kann ich Veyron überzeugen, euren Fall zu übernehmen«, meinte er mit dick aufgetragener Arroganz. Vor allem gegenüber Vanessa wollte er deutlich machen, wer hier das Zepter in der Hand hielt. Ganz gleich, wie sehr sich Lilly auch für ihre Freundin ins Zeug legte: Er konnte – und wollte – Vanessa einfach nicht ausstehen.

»Ernie schreibt mir Liebesbriefe, jeden Tag einen neuen. Er ist wirklich unglaublich süß. Mann, Stevie würde Ernie vor Eifersucht umbringen, wenn er das wüsste – oder andersherum. Ernie ist nicht mehr der dünne, schmächtige Kerl, der letztes Jahr an unsere Schule kam. Er ist erwachsen geworden und macht jetzt sehr viel Sport. Früher war er in Sport immer eine Null, aber jetzt ist das anders«, erzählte Vanessa.

Ein seltsames Strahlen schien sie dabei zu erfüllen, ein Glücksgefühl, das Tom noch nie zuvor an ihr beobachtet hatte. Keine Frage, sie meinte es mit ihrer Liebe zu Ernie wirklich ernst. Konzentriere dich auf die Fakten, mahnte ihn eine innere Stimme. So viel hatte er von Veyron schon gelernt: Er durfte sich nicht von seinen persönlichen Gefühlen ablenken lassen, wenn er einem Fall nachging. »Ernie macht Sport? Das wäre mir neu. Soweit ich weiß, ist er in keiner einzigen Schulsportmannschaft«, sagte er, um irgendwie zum Kern der Angelegenheit vorzustoßen. Das mit dem plötzlichen Erstarken Ernies schien ihm ein guter Ansatz zu sein.

 

Vanessa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber er hat arschgeile Muskeln entwickelt. Vielleicht macht er es heimlich. Würde mich nicht wundern. Er sieht jetzt richtig verwegen aus mit dem ganzen schwarzen Zeug, das er trägt. Leder und Stahl, sogar seine Haare hat er sich schwarz gefärbt. Niemand traut sich mehr, ihn herumzuschubsen. Er ist ein Krieger.«

Tom versuchte, sich Ernie in Erinnerung zu rufen. Viel hatte er mit ihm nie zu tun gehabt. Aber es stimmte schon, was sie sagte. Ernie Fraud hatte sich verändert, abgesehen von seiner zurückgezogenen Art. Die schien allerdings umso ausgeprägter geworden zu sein.

»Aber immer noch ein Außenseiter, stimmt’s? Oder hat er inzwischen irgendwelche weiteren Freundschaften geschlossen?«, fragte er nach.

Nun schaltete sich Lilly in das Gespräch ein. Als Antwort schüttelte sie den Kopf. »Nein. Klar, jetzt wo er gut in Sport ist und verwegen aussieht, will jedes Mädchen mit ihm gehen, und jeder Junge will sein Freund sein. Aber Ernie lässt niemanden an sich ran. Früher wär er froh und dankbar gewesen, aber jetzt …«, sagte sie und zögerte, fortzufahren. Sie holte tief Luft. »Jetzt zeigt er nur noch Verachtung gegenüber den anderen. Er hat sich echt drastisch verändert. Das ist nicht mehr der Ernie, der letztes Jahr an die Schule kam. Nur zu Vanessa ist er nett.«

Tom fand diese Informationen sehr interessant. Da war eindeutig etwas faul an der Sache. »Also, was ist denn nun mit Ernie? Warum soll Veyron ihn aufspüren?«, wollte er wissen.

»Seit vier Tagen ist er schon nicht mehr in der Schule gewesen. Niemand weiß, wo er ist«, sagte Vanessa. Tiefe Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit, und ein Schatten von Furcht huschte über ihr Gesicht.

»Was ist mit seinen Eltern? Wissen die etwas?«, fragte Tom nach, was Vanessa jedoch nur höhnisch auflachen ließ.

»Du kennst seine Eltern nicht! Sein Vater ist abgehauen, da war er gerade mal drei, und seine Mutter ist eine Alkoholikerin. Ernie ist ihr scheißegal«, schimpfte sie.

Tom lehnte sich in den Sessel zurück. Ernie wird halt ausgerissen sein, dachte er. Er erinnerte sich noch gut, wie er anfangs mit Veyron unter einem Dach ganz ähnliche Gedanken gehegt hatte. Seiner Meinung nach war Ernies Verschwinden ganz bestimmt kein Fall für Veyron. »Okay, also weiß seine Mutter nichts. Was also hindert euch daran, einfach zur Polizei zu gehen und Ernie als vermisst zu melden?« Er fragte es in einem recht unwirschen Ton, der Vanessa zusammenzucken ließ.

Lilly blieb ganz kühl. Wahrscheinlich dachte sie in dieser Angelegenheit ähnlich wie Tom.

»Lies dir das durch«, meinte Vanessa kleinlaut und reichte Tom ihr Smartphone. Sie zeigte ihm eine WhatsApp-Nachricht, die von Ernie stammte, Datum und Uhrzeit nach von heute Morgen.

Meine geliebte Ness,

ich wollte mich noch einmal bei dir melden. Dies wird unser Abschied sein. Ich gehe fort von hier, fort von dieser Welt, denn ich habe anderswo meine Berufung gefunden. Ich ziehe in den Krieg, um gegen das Unrecht zu kämpfen, gegen eine hinterhältige Bedrohung, die uns alle betrifft. Wenn ich zurückkomme, dann als ein Held, Ness. Denn ich weiß, dass ich meinen Beitrag zur Rettung der Welt geleistet habe. Lass uns dann heiraten und glücklich miteinander alt werden. Falls ich nicht zurückkehre, bin ich als Märtyrer für eine heilige Sache gefallen, und ich will, dass du mich so in Erinnerung behältst, wie wir uns zuletzt sahen und küssten. Ich werde dich für immer lieben.

Ernest

PS: Ich hab dir ein Buch geschickt. Lies es dir durch, dann wirst du alles verstehen.

Tom musste die Nachricht zweimal durchlesen, um zu begreifen, was Ernie damit meinte. Anschließend gab er Vanessa das Telefon zurück und musste tief durchatmen. »Ihr habt Angst, dass sich Ernie einer Terrororganisation angeschlossen hat? Das ist ernst, sehr ernst sogar«, sagte er.

Die Mädchen nickten stumm. Vanessa nahm ihre Handtasche und holte ein Buch heraus. Im gleichen Moment machte Toms Herz einen regelrechten Satz. Ihm blieb fast die Luft weg: Es war ein schwarz eingebundenes Buch. Zögernd nahm er es in die Hände und las vom Einband ab. Seine Nackenhärchen stellten sich auf, ihm schauderte. »Das Schwarze Manifest.«

»Es stehen lauter seltsame Sachen drin. Grauenhafte Dinge, Tom. Ich weiß nicht, was Ernie damit bezwecken wollte, als er schrieb, ich solle dieses Buch lesen, um ihn zu verstehen«, jammerte Vanessa. Sie kämpfte sichtlich gegen die Tränen.

Tom legte das Schwarze Manifest zur Seite und starrte es einen Moment an. Oh nein, dachte er. Alles, nur das nicht. Das gleiche entsetzliche Buch wie bei Henry Fowler. Ernest Fraud, der arme Ernie, auf den Spuren dieses grauenvollen Frauenmörders? Das darf nicht wahr sein!

Aber jetzt machten auch die anderen Sachen Sinn, die Ernie in seiner Nachricht geschrieben hatte. Etwa, dass er diese Welt verlassen würde. Ganz klar: Er ging nach Elderwelt und zog dort in den Krieg. Die Frage war nur, ob für die Sache des Dunklen Meisters oder dagegen. Doch darauf wollte er nicht wetten. Verflucht, dachte er verzweifelt. Ausgerechnet jetzt ist Veyron nicht da! Hab ich ihm nicht gesagt, dass er lieber die Sache mit dem Schwarzen Manifest weiterverfolgen soll? Wie schnell könnte er jetzt eine Lösung herbeiführen und dem Ursprung dieses Teufelswerks auf den Grund gehen? Doch nein, Veyron musste sich ja von dieser abscheulichen Schattenhexe bequatschen lassen!

Jetzt galt es, eine Entscheidung zu fällen, eine elementare noch dazu. Sollte er aufbrechen, um Veyron und Jane zur Seite zu stehen, oder auf eigene Faust versuchen, dem Geheimnis des Schwarzen Manifests auf die Spur zu kommen? Vielleicht könnte er dabei obendrein Ernie Fraud ausfindig machen und den Jungen vor einer unverzeihlichen Dummheit bewahren.

»In Ordnung, bleibt ganz ruhig«, sagte er an Vanessa und Lilly gewandt, die ihn besorgt anschauten. Sie hatten wohl bemerkt, wie ihn der Anblick dieses Buches in Panik versetzte. »Ich habe schon einmal ein Buch wie dieses gesehen. Als Erstes brauchen wir Hilfe«, fuhr er fort. Seine Gedanken rasten. Was sollte er nur tun? Warum war Veyron nicht hier? Aber darüber zu jammern, half jetzt auch nichts. Veyron war nicht da, also musste er allein die Entscheidungen fällen. Wäre ja nicht zum ersten Mal. Sein Instinkt riet ihm, Inspektor Gregson anzurufen. Doch der Inspektor war ein Mann des Gesetzes, und ihn zu informieren, wäre auch irgendwie ein Vertrauensbruch gegenüber Lilly und Vanessa. Zudem bezweifelte Tom, dass Gregson – so sehr er diesen Mann schätzte – in der Lage wäre, das Geheimnis des Schwarzen Manifests aufzuklären. Es bräuchte schon jemanden von Veyrons Verstand und Wesen, um das zu bewerkstelligen …

Plötzlich sprang er aus dem Sessel und eilte hinaus auf den Flur. »Ich muss nach Camden. Jetzt sofort«, rief er Vanessa und Lilly zu, die überrumpelt auf der Couch sitzen blieben.

»Sollten wir nicht besser auf deinen Onkel warten?«, wollte Lilly vorsichtig wissen, doch Tom schüttelte den Kopf.

So schnell er konnte, rannte er in sein Zimmer hinauf, schnappte sich seinen Rucksack und nahm seinen Geldbeutel mit. Dann huschte er in Veyrons Arbeitszimmer, wo er alle möglichen Dinge in den Rucksack stopfte, die ihm vielleicht noch nützlich werden könnten.

»Tom, was ist denn nur los«, hörte er Vanessa hinter sich jammern.

Er drehte sich zu ihr um. Lilly und sie standen auf der Treppe und starrten ihn entgeistert an.

»Die Sache ist ernst, Mädels. Wir können nicht auf Veyron warten, wenn wir Ernie retten wollen. Doch genau dafür brauchen wir Hilfe. Darum muss ich nach Camden«, erklärte er.

»Keine Polizei«, flehte Vanessa und hob abwehrend die Hände.

Tom nickte hastig. »Nein, keine Polizei. Habt ihr beide für heute nichts mehr vor? Gut, dann los. In Camden gibt es einen Mann, der uns helfen kann, Ernie aufzuspüren. Das ist der erste Schritt. Alles Weitere sehen wir dann schon. Auf geht’s!«

Ohne auf die Antwort der Mädchen zu warten, eilte Tom die Treppe nach unten und hinaus zur Tür. Es dauerte nicht lange, bis ihm Vanessa und Lilly folgten.

An der Bushaltestelle meinte Lilly schließlich, dass es klüger wäre, sie bliebe zurück und wartete auf Nachrichten von den beiden. Tom sah ihr an, dass sie sich fürchtete. Er konnte es ihr nicht verdenken, ihre Instinkte lagen da absolut richtig. Anders als Vanessa hatte sie sich bereits einen Reim auf das Ganze gemacht – und sie fürchtete sich zu Recht. Mit dem Schwarzen Manifest war nicht zu spaßen.

»Vielleicht ist es besser, du bleibst auch hier, Vanessa«, meinte Tom, doch sie schüttelte energisch den Kopf.

»Ich werde auf keinen Fall zurückbleiben, wenn ich Ernie irgendwie helfen kann. Ich liebe ihn, ich werde mitkommen, egal, was passiert«, sagte sie.

Tom musste lächeln. So sind die Verliebten, dachte er. Vanessa würde sich nicht aufhalten lassen. Schließlich erklärte er sich einverstanden. Zu dritt warteten sie auf den Bus, und als Vanessa eingestiegen war, wandte sich Tom noch einmal an Lilly. »Die Sache ist todernst! Wenn ich dir eine entsprechende Nachricht schicke, wirst du die Polizei anrufen. Unter dieser Nummer hier«, sagte er und drückte ihr einen kleinen Zettel in die Hand. »Die gehört Detective Chief Inspektor Gregson vom CID. Er ist ein enger Vertrauter von Veyron. Du musst ihm alles erzählen. Ich melde mich.«

Lilly nickte ernst. »Kommt nur heil wieder zurück«, verabschiedete sie sich und bemühte sich um ein Lächeln, das ihr ordentlich misslang.

Tom erwiderte ihre Abschiedswünsche so fröhlich, wie er konnte, und stieg dann ein. Ich muss verrückt geworden sein, dachte er, als er sich neben Vanessa auf den freien Platz setzte. Ohne Veyrons Wissen oder Unterstützung legte er sich mit den Kräften an, die hinter dem Schwarzen Manifest standen. Wie weit er wohl kommen würde?

Vom Underground-Bahnhof Harrow & Wealdstone ging es mit der Overground-Linie, die ironischerweise dennoch unterirdisch verlief, zum Bahnhof London Euston. Unterwegs wagte Tom Vanessa schließlich zu verraten, zu wem er wollte. Er erzählte ihr von Veyrons Bruder Wimille, der in Camden wohnte. Viel wusste er ja selbst nicht von jenem geheimnisvollen Mann, nur dass er der Einzige war, der ihnen jetzt noch helfen konnte. Vanessa nahm es mit Gleichmut auf; ihr war nur wichtig, dass sie Ernie möglichst schnell fänden. Von Euston nahmen sie die Northern-Linie nach Camden Town und mussten dann zu Fuß bis 213 Gloucester Crescent marschieren, in dessen ersten Stock Wimille Swift wohnte. Das alte, aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Gebäude grenzte nahtlos an eine Reihe gleichartiger Bauten der halbmondförmigen Straße. Im Erdgeschoss gab es ein Pub, die Fenster des zweiten und dritten Stocks waren dagegen finster und staubig, diese Etagen waren offenbar unbewohnt. Als Tom mit Vanessa die Treppe zur Haustür hochgestiegen war, konnte er am Klingelschild nur einen einzigen Namen finden. Swift. Ein plötzliches Zögern befiel Tom, ließ seinen Daumen einen Moment über dem bronzenen Klingelknopf schweben. Gerade kam ihm in den Sinn, dass es vielleicht einen guten Grund gab, warum ihm Veyron nie viel über seinen Bruder erzählt hatte.

Vanessa hielt es nicht mehr aus. Mit ihrer Hand presste sie nun Toms Daumen auf die Klingel, und ein infernalisch lautes, schrilles Geräusch hallte durch die ganze Straße. Vanessa entfuhr ein Schrei, und sie hielt sich die Ohren zu. Bevor Tom vor Schreck die Augen zukniff, sah er noch einige Passanten zusammenzucken. Wimille hatte die Klingelanlage mit einem Lautsprecher verstärkt, vielleicht, um lästige Hausierer zu verscheuchen. Er wollte offenkundig allein gelassen werden. Der Effekt war überzeugend genug, Tom hatte jedoch ein ernsteres Anliegen, als ein irgendein Abo zu verkaufen. Er klingelte wieder, worauf dieses entsetzlich schrille Geräusch erneut durch die Straße heulte.

»Hör auf damit, Junge!«, fuhr ihn einen Moment später eine helle Stimme durch die Sprechanlage an. »Sieh zu, dass du verschwindest, und nimm deine dumme Freundin mit!«

Tom war zu verdutzt, um sofort zu reagieren. Mit Veyron Swift auszukommen, war bisweilen schon nicht leicht, doch sein Bruder erwies sich als geradezu feindselig. »Mr. Wimille Swift?«, fragte er vorsichtig.

Ein wütendes Schnauben kam zur Antwort. »Ich buchstabiere es für dich: H. A. U. A. B. Hau ab! Verschwinde! SOFORT!«, donnerte es aus der Sprechanlage.

 

»Sir, ich bin Tom Packard, und …«

»Ich ruf die Polizei, wenn …«, brüllte die Stimme hysterisch und brach dann plötzlich ab.

Einen Moment lang hörte Tom nur ein gleichmäßiges Atmen durch die Sprechanlage. Verwundert drehte er sich zu Vanessa um, die ihn aus großen, entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte.

»Lass uns verschwinden. Der Typ ist ein Irrer«, jammerte sie halblaut.

Tom schüttelte den Kopf – auch wenn sie vermutlich recht hatte.

Im nächsten Moment summte der Öffner. Vorsichtig schob Tom die Tür ein wenig auf, ehe er es wagte, sie ganz aufschwingen zu lassen und in den Flur zu treten. Vanessa folgte ihm eingeschüchtert. Hinter ihnen schloss sich die Tür wieder von allein, ein Klacken kündete von einer elektronischen Verriegelung. Die Lichter im Treppenhaus sprangen flackernd an und leuchteten ihnen den Weg nach oben. Langsam, beinahe ehrfürchtig, nahm Tom die Stufen.

Im ersten Stock öffnete sich eine weitere Tür mit elektronischem Schloss, und sie traten in eine finstere, spartanisch eingerichtete Wohnung. An einem dunklen Tisch saß eine schlanke, ausgemergelte Gestalt, kleiner als Veyron und weit weniger sportlich. Wimille Swift wirkte gut und gerne zehn Jahre älter als sein Bruder. Seine dunklen Locken waren von Silber durchzogen und wichen an der Stirn schon deutlich zurück, wo sie ausgeprägte Geheimratsecken hinterließen. Zumindest die scharfe Adlernase hatte Wimille mit Veyron gemein. Tom fand, dass sie bei Wimille sogar noch markanter wirkte –, und natürlich besaßen beide den gleichen durchdringenden Blick aus eisblauen Augen.

Wimilles dünne Lippen verzogen sich zu einem schüchternen Lächeln, als Tom näher trat. Unsicher und nervös spielte der Mann mit seinen Fingern und rieb zugleich mit den Schuhen aneinander. »Tatsächlich, es stimmt«, sagte er mit schüchterner Freude. »Dieselben Augen wie Susan, auch die Wangenpartie ist ihrer ähnlich. Veyron hat nicht gelogen, seine Beschreibung war wie üblich sogar überaus exakt. Vergib mir, Tom, ich hatte es bezweifelt.« Überaus agil sprang Wimille auf und kam um den Tisch herum, um Tom zu begrüßen.

Auch Vanessa trat langsam näher, doch Wimille schenkte ihr nur ein kommentarloses Nicken.

»Ja, du bist wahrhaftig Susan Evans’ Sohn, mein Junge. Schön, dass wir uns endlich kennenlernen und …«, fuhr Wimille fort, doch plötzlich stockte er, holte tief Luft und wandte sich ab.

Tom bemerkte, wie Veyrons Bruder kurz die Fäuste ballte, ehe er sie wieder entspannte. »Mr. Swift, ich komme, weil ich Ihre Hilfe benötige. Wir haben ein kleines Problem, und ich hörte von Veyron, dass Sie gewissermaßen ein Genie sind, und …«, begann er zu erklären.

Wimille fuhr zu ihm herum, die schmalen Lippen zusammengepresst, ehe er wieder zu lächeln begann. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, meine Junge. Selbstverständlich stehen dir meine Dienste zur Verfügung. Geht es um die junge Dame da? Soll ich sie hinauswerfen?«

»Was?«, entfuhr es Tom schockiert. »Nein, das ist nur Vanessa«, sagte er. Im gleichen Augenblick spürte er ihren Ellbogen in seiner Seite. »Autsch! Sie ist meine Klientin. Ihr Freund ist verschwunden, und wir versuchen, ihn aufzuspüren. Wir haben aber keine Adresse, sondern nur eine Nachricht von ihm. Ich dachte, sie wären vielleicht in der Lage, das Handy ihres Freundes zu orten.«

Wimille warf Vanessa einen forschenden Blick zu. Plötzlich wirbelte er auf den Absätzen herum und eilte ins nächste Zimmer. Zögernd folgten ihm Tom und Vanessa. Sie fanden ihn in einem kleinen, fensterlosen Raum, dessen Wände mit Bildschirmen gepflastert waren. Auf einem runden Tisch waren mehrere Tastaturen aufgestellt. Zahlencodes rasten die Bildschirme rauf und runter, und Vanessa pfiff entgeistert durch die Zähne, als sie das alles sah.

»Was machen Sie beruflich? Arbeiten Sie beim Geheimdienst?«, fragte sie.

Tom sah ihre Augen vor Staunen regelrecht leuchten. Wimille schien sie gar nicht zu bemerken, sondern setzte sich an den Tisch und streckte ihr seine Hand entgegen. Vanessa sah Tom verunsichert an, doch er nickte ihr aufmunternd zu und gab ihr zu verstehen, dass sie Wimille ihr Smartphone geben solle. Eifrig zog Vanessa es aus der Tasche und gab es dem Bruder Veyrons. Wimille entfernte sofort den Deckel, und mit einer Geschwindigkeit, die Tom kaum verfolgen konnte, entnahm er den Akku und sämtliche Chips, steckte diese in kleine Fächer seiner Tastaturen und tippte anschließend eine Serie von Codes ein.

»Ich arbeite gar nichts, junge Miss. Vor zwanzig Jahren habe ich einige Algorithmen für eine Software geschrieben und diese patentieren lassen. Noch heute benutzen die meisten modernen Programme meine Algorithmen. Ich lebe von den Lizenzeinnahmen, keine große Sache. Nicht jeder erbt so vortrefflich wie mein Bruder«, sagte Wimille mit einer Gleichgültigkeit in der Stimme, die Tom verdächtig bekannt vorkam. Unweigerlich musste er schmunzeln.

»Veyron hat geerbt?«, fragte er interessiert.

Wimille brauchte einen Moment, bevor er antwortete. Neue Zahlencodes flogen über einen der Bildschirme und beanspruchten seine volle Aufmerksamkeit. »Ja, das Haus unserer Großeltern. Da wollte ich nicht hinziehen und hab ihm mein Erbteil überlassen, weil ich keine frei stehenden Gebäude mag. Ich hasse es, wenn man mich von allen Seiten begaffen kann. Schlimm genug, dass Häuser überhaupt Fenster haben. Ich hab alle Stockwerke angemietet, damit hier niemand sonst einzieht. Nur das Pub unten bin ich noch nicht losgeworden«, sagte er schließlich.

»Sind Sie ein Hacker? Sind Sie dafür nicht ein bisschen zu alt?«, wollte Vanessa wissen. Tom strafte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Verlegen biss sie sich auf die Lippe.

»Falls dreiundvierzig für Sie alt ist, kann ich Ihnen nicht helfen, Miss …«, gab Wimille mit Swift’scher Gelassenheit zurück. Er starrte auf den Bildschirm und verzog kurz das Gesicht. »Miss Sutton, aha. Sie kommunizieren sehr viel mit einer gewissen Miss Lilly Rodgers, wie ich sehe. Sehr unklug von der jungen Dame, ausgerechnet Ihnen zu vertrauen. Sie sind recht geschwätzig«, stellte Wimille abfällig fest. Er drückte eine Taste auf einer anderen Tatstatur. Auf zwei Bildschirmen erschien die Benutzeroberfläche von Vanessas Telefon zusammen mit den Gesprächsprotokollen aller ihrer Kontakte – und wiederum deren Gesprächsprotokolle mit all ihren Kontakten.

Tom schaute zu Vanessa, die abwechselnd glutrot und leichenblass wurde. Veyron war manchmal schon unerträglich direkt, aber Wimille zeigte überhaupt keine Hemmungen, seine Abneigung gegenüber Vanessa kundzutun. Er mochte Wimille jetzt schon.

Vanessa versuchte natürlich sofort, das Thema zu wechseln. »Wie viele Handys haben Sie da eben geknackt? Das sind ja Dutzende von Chats, die sich da öffnen«, rief sie voller Staunen aus.

»Momentan sind es einhundertvierzig, aber es werden mit jeder Sekunde mehr«, meinte Wimille beiläufig. »Mein Programm macht das ganz von allein, ich muss es nur überwachen. Das ist wirklich nicht so schwer, wenn man einmal in die Datenbanken der CIA und des MI-6 eingebrochen ist – was diese bis heute noch nicht bemerkt haben. Also, was wollt ihr zwei wissen?«

»Wir suchen Ernie Fraud. Ich hab den dringenden Verdacht, dass er sich in eine riesengroße Dummheit stürzt. Wir müssen wissen, wo er sich in diesem Moment aufhält«, sagte Tom.

Wimille war sofort am Eintippen. »Sein Telefon hat die letzten Geodaten aus dem Hafen von Felixstowe gesendet. Das war heute Morgen, so sagt mir sein Mobilfunk-Provider. Offenbar hat er anschließend den Akku aus seinem Telefon genommen oder es zerstört. Es gab nach seiner letzten Nachricht an die junge Dame keine weiteren Datenübertragungen. Hilft euch das?«

Tom versuchte, aus diesen Informationen schlau zu werden. Was wusste er über Felixstowe? Nun, es war der größte Containerhafen Großbritanniens. Die Wahrscheinlichkeit lag also hoch, dass Ernie versuchen würde, mit einem Schiff außer Landes zu kommen. Vielleicht wollte er sich ja wirklich einer Terrororganisation anschließen? »Ankert ein Schiff in Felixstowe, auf dessen Fahrtroute der Nahe Osten liegt?«, fragte er Wimille, und zu Vanessa gewandt sagte er: »Vielleicht will er erst in ein Ausbildungscamp.«