Vogelgrippe

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6

Matti Semmer kroch in das Zelt, in dem tropische Temperaturen herrschten. Es war zehn Uhr und die Sonne sorgte wieder für unerträgliche Hitze.

Der Junge legte sich auf die Iso-Matte. Tränen standen in seinen Augen. Kevin fehlte ihm. Er war sein bester Freund und meist das einzige Kind, das sich mit ihm beschäftigte. Nur selten hatten die beiden Streit miteinander.

Am Morgen waren viele Leute vor dem Haus. Matti sah sie von seinem Kinderzimmerfenster aus. Auf den unbefestigten Straßenrändern der Dorfstraße standen unzählige Autos. Ständig versuchten Fremde, mit Vater oder Mutter zu sprechen. Sie wollten Berichte für die Zeitung oder für das Fernsehen. Einige hatten Matti heimlich fotografiert.

Warum war Kevin nur verschwunden?

Vorsichtig steckte Matti den Kopf aus dem Zelt. Stimmen waren zu hören. Als er nach oben schaute, blickte er in unbekannte Gesichter. Fremde Leute schauten Matti an.

»Guten Morgen«, flüsterte der Junge und wischte sich die Tränen von den Wangen. Einige der Erwachsenen nickten. Alle hatten Uniformen an.

»Okay!«, rief ein Mann. »Von hier aus verteilen wir uns. Es wird in Linie gesucht. Schaut hinter jeden Strauch, unter jede Wurzel. Alles, was nicht in den Wald gehört, wird mitgenommen und ausgewertet. Auf mein Signal sammeln wir uns hier am Ausgangsort. Wird etwas Ungewöhnliches gefunden, will ich sofort informiert werden. – Und Abmarsch!«

Matti beobachtete, dass sich die Leute daran machten, den Wald abzusuchen. Langsam entfernten sie sich von seinem Zelt.

Nur der Mann, der gerade gesprochen hatte, setzte sich ins Gras, gleich neben Matti, der noch halb im Zelt steckte, und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an.

»Guten Morgen«, meinte er nach einem Weilchen und blies Qualm aus seinem Mund.

Matti kroch aus dem Zelt und setzte sich neben den Mann. »Sind Sie von der Armee?«, fragte er und sah den Mann kontrollierend an.

»Ja. Die Leute hier sind alle vom Bund. Sie helfen mir. – Wie heißt du?«

»Matti Semmer.«

»Und Kevin Franke ist dein Freund?«

»Mein bester Freund. – Werden Sie ihn finden? – Ich will, dass Kevin wieder hier ist!«

»Das wollen wir alle, Matti. Und wir wollen, dass er gesund und munter ist. Verstehst du?«

»Hm. – Meinen Sie, Kevin kann was passiert sein?«

Der Mann rauchte stumm weiter.

Matti sah ihn lange an. Dann erhob sich der Junge und ging zum Haus zurück. Niemand kümmerte sich um ihn, deshalb lief Matti auf die Straße und sah sich um. Noch mehr Autos hatten sich versammelt, am Ortseingang standen Armeelaster. Matti schlich dahin, träumte, wäre fast gegen einen älteren, kräftigen Mann gestoßen, neben dem eine Frau lief.

»Na, junger Mann.«

Matti schaute hinauf. »Guten Morgen«, sagte der Junge.

Jockey kam angelaufen und kroch durch die Beine des Jungen. »Jockey, lass das. – Haben Sie die Abkürzung gefunden?«

Der Mann lächelte. »Ihr habt es uns richtig gut erklärt. – Du bist ein kluger Kopf, Matti. Erinnerst du dich an meinen Namen? Ich bin Holger Hinrich. – Wir haben gehört, was mit Kevin passiert ist.«

Matti nickte. »Sie suchen jetzt den Wald ab«, flüsterte er. »Die von der Armee.«

»Und …«, der Mann ging in die Hocke, »meinst du, dass sie deinen Freund dort finden? – Ich habe gerade mit Michael Sörbig gesprochen. Kennst du den?«

»Natürlich kenn ich den Michael. – Ist er zurück?«

»Er will helfen, deinen Kevin zu finden.«

Matti schaute sich um. »Ich glaube nicht, dass Kevin sich im Wald versteckt. Niemals einen ganzen Tag und eine ganze Nacht.«

»Was denkst du dann, Matti?«

»Dass er nach Hause gegangen ist, am Sonntag, ganz zeitig. Kevin hatte Angst, weil seine Mutti nicht wusste, dass er bei mir geschlafen hat. Die wusste das aber doch. Von meiner Mutti.«

»Sag mal, hat Kevin denn was mitgehabt? Einen Rucksack oder so?« Kriminaloberkommissar Hinrich griff nach einer Hand des Jungen, spürte, dass sie ganz kalt war.

Matti schüttelte den Kopf. Aber er dachte nach. Dann berichtigte er sich selbst. »Doch. Kevin hatte eine gelbe Tüte für die Badehose. Die lag nicht mehr im Zelt. Er hat sie gestern Abend in mein Zelt geworfen. Das weiß ich genau. Dann sind wir in den Wald gegangen. Das war gruselig.«

Der Kommissar holte seinen Notizblock heraus, machte kurze Notizen. »Weißt du, Matti, das bleibt aber unser großes Geheimnis, es darf niemand wissen, denn so erfahre ich vielleicht Dinge, die manche Leute der Polizei nicht erzählen wollen: Ich bin aus Leipzig und arbeite bei der Kriminalpolizei. Ich habe schon viele Kinder wieder gefunden.« Hinrich zeigte dem Jungen seine Polizeimarke.

Matti sah den Mann mit großen Augen an.

»Und manchmal waren es ganz kleine, unwichtige Dinge, die uns auf die richtige Spur geführt haben.« »So wie die gelbe Tüte?«

»Wie die gelbe Tüte. – Was meinst du, kann es sein, dass jemand Kevin was Böses antun will? Du kennst Kevin viel besser als ich. Gibt es jemanden, der Kevin eins auswischen will?« Hinrich rieb die Hand des Jungen.

Matti zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht.«

»So, so. Du glaubst es nicht. – Hör zu, Matti, wenn dir etwas einfällt, dass es jemanden geben könnte, der was mit der Sache zu tun haben könnte, irgendetwas, was dir nicht ganz geheuer vorkommt, auch die kleinsten Dinge, sag es mir einfach. – Okay?«

»Hm, okay.« Matti lächelte.

»Holger …« Hinrichs Frau war es nicht wohl zumute, denn zwei Männer näherten sich.

»Guten Tag«, sagte der eine. »Was wollen Sie von dem Jungen? Sind Sie von der Presse?«

Hinrich begab sich wieder in die Senkrechte. »Seh’ ich so aus? – Angenehm, Holger Hinrich, derzeit Urlauber von Beruf. – Und das ist meine Frau.«

»Was wollte dieser Mann von dir?« Kommissar Feldmüller schaute Matti fragend an.

»Er … er hat mich nach dem Weg gefragt.«

»Nach dem Weg? – Du solltest besser zu Hause sein, Matti. – Und lass dich nicht mit fremden Männern ein.« Feldmüllers Stimme klang fordernd und belehrend.

Matti drehte sich um. »Sie sind doch auch ein Fremder«, rief er und lief zurück zu seinem Elternhaus.

»Wir wohnen im Seeblick, Matti.« Hinrich winkte dem Jungen hinterher. – »Einen Superumgang haben Sie mit Kindern.« Vorwurfsvoll richtete sich Hinrichs Stimme an Feldmüller. »Haben Sie eine Ahnung, was der Junge gerade durchmacht?«

Der Schweriner sah den Leipziger kontrollierend an. »Was mischen Sie sich ein? Es bringt mir nichts, wenn wir am Ende des Tages nach zwei Kindern suchen, Herr Hinrich. – Was wollten Sie von dem Jungen? – Ich leite hier die Ermittlungen, nicht Sie. Ich bin nämlich von der Kripo.«

»Ach …« Hinrich biss sich auf die Zunge. »… sind Sie das wirklich? Haben Sie auch einen Namen?«

»Feldmüller. – Und nun verschwinden Sie besser.«

Hinrich grinste. Jockey, der Hund, der einen heruntergekommenen Eindruck machte, hatte sich auf Hinrichs Schuh gelegt und kratzte sich am Hals. »Sie sehen ja, ich kann gerade nicht weg hier. – Sagen wir … Ich bin Hobbykriminalist. Ich weiß, Kommissare wie Sie, die mögen das nicht hören. Doch häufig sind die Untersuchungsmethoden der Kripo etwas eingefahren. – Haben Sie schon nach der gelben Plastiktüte gesucht?«

»Was für eine Plastiktüte? – Verarschen Sie mich?«

»Das liegt mir fern, Herr Feldmüller. Es geht um das Leben eines Kindes. Glauben Sie mir, in solchen Fällen verbietet sich mir jede Art von Verarschung. – Es sollte Kevins Badehose in der gelben Tüte sein. – Und warum wurden die Straßenränder nicht abgesperrt? – Nehmen Sie an, Kevin wollte nach Hause, dann musste er genau hier lang laufen. Doch da, wo seine Spuren eventuell sein könnten, stehen die Fahrzeuge der Polizei und der Medienvertreter.«

Feldmüller lief rot an. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und wandte sich dem »Seeblick« zu, in dem die nächste Lagebesprechung stattfinden sollte. Anschließend stand eine Pressekonferenz auf dem Plan. Unzählige Medienvertreter lungerten vor dem Gasthaus herum, selbst die Öffentlich-Rechtlichen Sender waren vor Ort.

Der zweite Mann, Stellvertreter Boger, folgte ihm, nachdem er einen prüfenden Blick auf den eigenen Mercedes geworfen hatte. Das S-Klasse-Schiff passte nicht so recht zum Straßenrand von Zellerau.

Hinrich schaute den Männern nach, dann umgriff er die Schultern seiner Frau. »Der hat ja noch Eierschalen hinter den Ohren. – Kein Glücksgriff für diesen Fall.«

»Komm Holger, du hast auch so angefangen. – Was hat denn nur der Hund?« Hinrichs Frau schaute zu Jockey, der heulend zwischen den geparkten Fahrzeugen herumkroch.

Hinrich lief zu Jockey und kraulte ihn hinter den Ohren. »Ich glaube fast, der könnte uns viel erzählen.« Der Kommissar kniete auf dem Boden und schaute unter einen dunklen Audi. »Wenn das mal nicht …«

Am rechten Hinterrad des Fahrzeuges war eine gelbe Tüte zu sehen, eingeklemmt zwischen Reifen und Sandboden. Sofort erhob sich Hinrich, warf einen Blick auf das Nummernschild.

Dann lief er, ohne weitere Worte zurück zum Gasthaus und platzte in den Gastraum. Feldmüller wollte gerade die Lagebesprechung eröffnen.

»Herr Kriminalhauptkommissar, erlauben Sie mir, eine Frage zu stellen?« Hinrichs Stimme klang außerordentlich arrogant.

Die Anwesenden betrachteten den Leipziger erwartungsvoll. Martin Wallner, der am Rand stand, lächelte.

Feldmüller erhob sich ruckartig. »Wenn Sie weiterhin unsere Arbeit behindern, organisiere ich persönlich, dass Sie den Rest Ihres Urlaubes im Thüringer Wald verbringen, Herr Hinrich. Oder noch weit dahinter.«

Hinrich ging durch die Reihen, baute sich vor Feldmüller auf, Aug in Aug. »Soll ich wirklich raus gehen?«, flüsterte er. »Die Presseleute wären begeistert, wenn ich ihnen mitteile, wie leichtfertig Sie mit den wenigen Spuren umgehen. So werden Sie den Jungen niemals finden, Herr Kriminalhauptkommissar.« Hinrich trat zwei Schritte zurück. Mit lauter Stimme fuhr er fort: »Wem gehört der schwarze Audi mit dem Kennzeichen Otto Viktor Paula Strich Anton Sieben Sieben Sieben?«

 

Feldmüller lief dunkelrot an. »Was soll das?«

Hinrichs Gesicht verzog sich zu einem bösen Grinsen. »Nein, das gibt’s doch nicht! Ist es Ihr Fahrzeug? – Gratulation. Wahrscheinlich haben Sie die einzigen Spuren vernichtet, die Ihnen weiterhelfen könnten. – Folgen Sie mir einfach.« Mit den letzten Worten machte Hinrich kehrt und verließ den Gastraum.

Der Einsatzleiter warf einige Blicke in die Runde. Augen waren auf ihn gerichtet. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dann folgte er Hinrich. »Ich bin gleich wieder da! – Sie warten hier!«

Keiner wagte es, dem Kommissar zu folgen, als der hinaustrat, sich einen Schweißfilm von der Stirn wischte und mit kurzen, raschen Schritten zu seinem Audi lief.

Hinrich stand auf dem Asphalt der Straße, ein paar Meter entfernt wartete seine Frau.

»Bewegen Sie Ihr Auto auf die Straße und machen Sie die Warnblinkanlage an. Lassen Sie anschließend fünfzig Meter des Straßenrandes sperren, damit hier nicht noch mehr Menschen durchtrampeln.« Die Stimme des Leipziger Kommissars hatte ihren beruflichen Befehlsklang angenommen.

Mit der Fernbedienung öffnete Feldmüller sein Fahrzeug, trat an die Tür. »Hinrich, wenn Sie mich verarschen, dann werde ich …«

»Nun machen Sie schon«, forderte der Leipziger.

Feldmüller stieg ein, startete den Wagen und rangierte auf den Asphalt der Bundesstraße.

Hinrich, der auf der Straße stand, rückte keinen Zentimeter zur Seite, obwohl die Stoßstange des Audis seine Hosenbeine streifte.

Wenige Sekunden später stand Feldmüller neben Hinrich. »Und?«

Hinrichs Zeigefinger deutete in den Dreck. »Wenn mich nicht alles täuscht, stand ihr Fahrzeug auf der gelben Plastiktüte, in der sich die Badehose von Kevin Franke befindet, Herr Kriminalhauptkommissar. Eben die Tüte, von der Sie während Ihres Einsatzes nichts erfahren haben, weil Sie den kleinen Matti nicht danach fragten.«

Feldmüller sah Hinrich einen Moment lang an. »Kann es sein, dass Sie für einen Unbeteiligten etwas zuviel wissen? – Haben Sie für den Sonntagmorgen ein Alibi, Herr Hinrich?« Während Feldmüller redete, hatte er eine Packung Gummihandschuhe aus der Gesäßtasche gezogen. Er nahm die Handschuhe aus der Folie und zog sie umständlich an.

Hinrich lächelte erneut. »Mein Alibi steht dort.« Er zeigte auf seine Ehefrau. »Reicht das?«

Feldmüller sah ernst auf, hob mit spitzen Fingern die Tüte auf, öffnete sie.

Neugierig warf Hinrich einen Blick hinein. »Sieht aus, wie eine zusammengeknüllte Kinderbadehose. Oder?«

Wieder blickte Feldmüller den Leipziger lange an. Dann nahm er die Badehose aus der Tüte. »Ja, sieht so aus. – Passen Sie auf, dass niemand diese Stelle betritt. Ich bin gleich zurück.«

Hinrich nickte. Während sich Feldmüller im Laufschritt zum Gasthaus bewegte, öffnete er den Kofferraum des Audis, den Feldmüller nicht verriegelt hatte. »Kommst du mal?«, rief der Leipziger Kommissar seine Frau. »Komm her, Maria und mach dich nützlich.«

Hinrich nahm eine Rolle Absperrband aus dem Kofferraum und warf anschließend die Klappe zu. Dann lief er einige Meter die Straße hinunter, knotete das Band an einem Zaun fest, rollte es auf, und lief zum Audi. Er legte das Band provozierend um das Fahrzeug und wickelte es um den straßenseitigen Außenspiegel. Sodann gab er die Rolle seiner Frau in die Hand. »Geh schön weit runter. Bis zu dem Halteverbotschild. Und dann zum Zaun.«

Kurze Zeit später war ein großer Bereich des Weges abgesperrt. Als die Frau des Kommissars zurück war, meinte der: »Sag ihm, mir ging es durch den Bauch. Oder lass dir sonst was einfallen. Ich bin gleich zurück.«

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eine ältere Dame an einem Zaun und beobachtete aufmerksam das Treiben auf der Straße. Ein Mann, mit einer von riesigen Objektiven gekrönten Kamera am Hals, näherte sich.

Hinrich beobachtete dies alles. »Sie können fotografieren, aber betreten Sie keinesfalls den abgesperrten Raum. – Verstanden?«

Der junge Journalist nickte und begann den Randstreifen und Feldmüllers Audi zu fotografieren.

Hinrich ließ mehrere Fahrzeuge durch, dann lief er auf die andere Straßenseite zu jener älteren Dame. »Hinrich, guten Tag.« Nach dieser Vorstellung kam der Leipziger sofort zur Sache. »Sagen Sie mal, stimmt das, dass der alte Kramer immer der erste ist, der am Morgen auf der Straße erscheint?«

Die Frau nickte. »Eine Schande ist das, der arme Junge. – Ja, ja, der Kramer ist noch vor dem Zeitungsmann draußen und lange vor den Hähnen wach. Treibt sich immer nachts rum und sucht seinen Köter. – Was die nur mit dem Kind gemacht haben? Eine Schande ist das, die Eltern müssen aber auch aufpassen, ständig sieht man die Kinder allein … – Meinen Sie etwa, der alte Kramer hätte was damit zu tun?«

»Unterstehen Sie sich! Er war als erster wach, vielleicht hat er was gesehen. – Sie wissen wohl, was mit dem Jungen passiert ist?«, unterbrach Hinrich den Redeschwall der Frau.

»Irgend so ein Kinderschänder wird ihn mitgenommen haben. Die Welt ist schließlich voll von denen, jeden Tag kann man in der Zeitung lesen, was los ist, die schießen in Schulen mit Pistolen, dann die Rechten überall, ständig werden alte Leute überfallen, nein, nein, und die Polizei tut nichts, aber die Gesetze sind viel zu harmlos, die haben doch keine Angst mehr, die …«

»Wo wohnt denn der Kramer?«

»Der Kramer? – Von dem werden Sie nichts erfahren, der Schnaps hat doch seinen Verstand zerfressen, das ist nicht die Mühe wert, der Kramer bekommt nichts mit, der lebt in einer anderen Welt, seit sie ihm die LPG weggenommen haben. Wissen Sie, der war LPG-Vorsitzender, über dreißig Jahre, und dann haben Sie ihn rausgeschmissen, seitdem ist er so, nein aus dem bekommen Sie kein vernünftiges Wort heraus …«

»Verraten Sie mir trotzdem, wo er wohnt?«

»Aber sicher. Das vierte Haus, auf unserer Straßenseite, aber nicht das große Wohnhaus, nein, der lebt im ehemaligen Stall, die Günthers haben ihn ein bisschen ausgebaut. Geld wird der Kramer wahrscheinlich nicht bezahlen, aber manchmal hilft er auf dem Hof oder bei der Ernte, na, das kann er ja ganz gut …«

Während die Frau noch sprach, entfernte sich Hinrich bereits. »Danke, liebe Frau …«

Vom Gasthaus her näherten sich verschiedene Personen, darunter Kommissar Feldmüller. Eine Minute später hielt mitten auf der Straße ein Polizeibus, der die Technik der Spurensicherung brachte.

7

Kevin öffnete erschrocken die Augen. Noch immer umgab ihn die abscheuliche Dunkelheit. Sein Magen spielte verrückt, er atmete schwer, dem Jungen ging es schlecht. Es dauerte längere Zeit, bis er auf dem Bett saß, eingehüllt in die Decke, die nach der Alten roch. Allmählich kehrte seine Besinnung zurück. Die Treppe! Es gab eine Treppe. Kevin kletterte aus dem Bett, barfüßig berührte er den Boden, der sich noch immer anfühlte, als bestände er aus Eis. Der Junge stützte sich mit dem rechten Arm ab, wollte sich erheben. Stechende Schmerzen durchfuhren ihn. Kevin rieb den Arm. Schon einmal hatte er einen solchen Schmerz empfunden, damals war er noch sehr klein, war beim Kirschenpflücken von einem Ast gerutscht. Ein wenig blieb in seinem Gedächtnis die Erinnerung an den Gips, auf den er mit Buntstiften Bilder gemalt hatte. Kevin schlich zur Holztreppe, kniete sich auf die erste Stufe, die Decke über dem Rücken. Stufe für Stufe erklomm er, bis er den Widerstand der Klappe erfühlte, durch die die Alte in den Kellerraum gekommen war. Kevin lauschte. Es schien ihm, als würde Licht durch die Ritzen zwischen den Brettern scheinen. Oben war es ruhig. Lange Zeit verharrte der Junge. Vorsichtig drückte er mit dem linken Arm gegen die Bretter. Die Luke ließ sich nicht öffnen. Kevin atmete tief ein und aus, versuchte klare Gedanken zu fassen.

Er untersuchte die Treppe. Das Brett der vierten Stufe von oben war locker. Doch entfernen konnte Kevin es nicht. Mit den Fingern fühlte er es ab. Auf einer Seite war es nicht mehr richtig befestigt. So hatte es ein wenig Spiel. Kevin rutschte Stufe um Stufe hinunter und ging zum Bett. Er setzte sich darauf und dachte nach. Wenig später erhob er sich erneut, lief zu seinem Toilettenstuhl, klappte ihn auf, nahm die Schüssel heraus und stellte sie auf den Boden. Nun warf der Junge die Decke von seinem Rücken, hob den Stuhl an und trug ihn zur Treppe. Es war anstrengend, bis er mit dem Stuhl oben angekommen war. Die Treppe hatte kein Geländer. Nur an den Seiten waren Bretter, von denen die Stufen gehalten wurden. Kevin schob ein Stuhlbein unter die vierte Stufe und versuchte das Brett mit der Hebelkraft des Stuhles zu lockern. Er drückte aus Leibeskräften, achtete darauf, nicht von der Treppe zu fallen. Sein größtes Problem war der schmerzende Arm. Fest biss der Junge die Zähne zusammen. Minuten später war er kraftlos. Der Stuhl entglitt seinen Händen und rutschte Stufe um Stufe die Treppe hinunter. Kevin hielt erschrocken inne und lauschte. Es blieb ruhig. Die vierte Stufe hatte nun noch mehr Spiel. Der Junge setzte sich darüber und trat mit der Ferse gegen das Brett. Die Schmerzen in seinem Körper wurden sofort unerträglich. Mehr passierte nicht. Auf den Knien rutschte Kevin stöhnend Stufe um Stufe nach unten, fiel kraftlos auf das Bett, eingewickelt in die Decke. Die Ferse schmerzte nun auch noch. Kevin atmete schwer. Nach einer langen Pause erhob sich der Junge, holte den Stuhl, stellte die Schüssel wieder hinein, schwappte mit dem eigenen Urin, der über seine Füße lief. Er kletterte zurück ins Bett, es drehte sich ihm, fast wie damals, als er heimlich eine Flasche Bier getrunken hatte.

Kevin hörte das Lachen der Mutter, als ihn der Vater ins Bett trug. Der Junge hatte schlafend auf dem Fußboden in der Werkstatt des Vaters gelegen.

»Wir alle haben das probiert.«

Kevin hüpfte durch das seichte Wasser.

»Was ist, wollen wir morgen Angeln gehen?« Matti besaß zwei gute Angelruten.

»Ich muss erst meine Eltern fragen.« Kevin ging davon aus, dass der Vater es verbieten würde.

Doch später, daheim beim Abendessen, war Kevins Verwunderung groß.

»Wir müssen aber spätestens vier Uhr aufstehen«, sagte er. Mama hatte den Vater lange angesehen. Doch der schwieg. »Kevin, kommst du dann mal in die Werkstatt? Du musst mir helfen«, meinte er endlich.

Der Junge holte tief Luft, protestierte jedoch nicht. Zunächst half er, seine kleinen Geschwister ins Bett zu bringen. Kevin kümmerte sich meist um die beiden vier- und fünfjährigen Schwestern, während die Mutter Henry, den zweijährigen Bruder und anschließend das Baby versorgte.

Nachdem Kevin den Schwestern eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, ging er in das zweite Kinderzimmer, das er sich mit seinem kleinen Bruder teilte.

»Mama, ich geh jetzt zu Vati. Es wird ja nicht lange dauern.«

»Das wird es bestimmt nicht.« Die Mutter lächelte.

Als Kevin in die Werkstatt kam, glaubte er seinen Augen nicht. Auf der Werkbank lagen zwei Angelruten. Nicht so neu, wie die von Matti, aber völlig in Ordnung.

Der Vater strahlte, als Kevin die kürzere Rute in die Hand nahm und die Sehne auf der Rolle prüfte.

»Früher, als ich so alt war wie du jetzt, und auch später noch, da habe ich leidenschaftlich gern geangelt«, sagte der Vater und stellte Kevin eine Flasche Brause hin. Er öffnete sich eine Bierflasche. »Weißt du, Kevin, als ich zehn war, sagte mein Vater, dass ich mit ihm Angeln gehen darf. Das war ein großes Erlebnis. Mitten in der Nacht sind wir raus, haben Würmer ausgegraben und sind mit einem Kahn auf den See hinausgefahren. Wir haben viel geredet. Mein Vater sagte, Angeln, das ist nur was für Männer. Frauen haben dafür keine Geduld.«

Kevin nippte an der Brauseflasche.

Der Vater legte eine Hand auf die Schulter des Sohnes. »Und manchmal, wenn sie angebissen haben, sind wir am Morgen am Strand geblieben, haben ein kleines Feuer gemacht und die Fische gegrillt. Wir saßen da und beobachteten die aufgehende Sonne.« Der Vater machte eine Pause, trank sein Bier. »Es war schön. – Was ist, nimmst du mich mit, wenn du mit Matti Angeln gehst?«

 

Kevin lächelte und kuschelte sich an den Vater. Kurz darauf rief er Mattis Eltern an.

Nachts, gegen drei, wurde Kevin geweckt und war sofort hellwach.

»Komm, Kevin, es geht los«, flüsterte der Vater, damit Henry nicht geweckt wurde. Sie legten sich die Angelruten über die Schultern und marschierten zu Mattis Haus. Anschließend ging es zum See. Da kein Boot zur Verfügung stand, nutzten sie den alten Bootssteg, der wacklig war, aber weit in den See reichte. Es war kalt und dunkel. In der Nähe des Steges gruben sie Würmer aus. Bald trieben die Schwimmer ruhig auf der glatten Seeoberfläche, auf der sich das Mondlicht spiegelte. Ausgerechnet Kevin fing den ersten Fisch! Nicht sonderlich groß, aber eben der erste.

Am Morgen sammelten die Jungs trockenes Holz und kurz darauf flackerte am Strand ein Lagerfeuer. Kevin lag glücklich und müde im Sand, sein Kopf auf dem Bauch des Vaters. Mit glänzenden Augen beobachtete er die aufgehende Sonne. In jener Nacht, in der Kevin zehn Jahre wurde, lernte er seinen Vater kennen, obwohl sie schon acht Jahre zusammengelebt hatten.

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