Vogelgrippe

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3

»Guten Morgen. Ich will Kevin abholen.«

»Guten Morgen, Herr Franke. Die Jungs schlafen noch im Zelt. – Wie spät ist es denn?«

»Zehn durch. – Wo steht das Zelt? Ich weck die beiden Rabauken.« Kevins Vater warf einen Blick auf das große Grundstück und entdeckte das Zweimannzelt am Waldrand.

»Er kann mit bei uns Frühstücken!«, rief Mattis Mutter dem hochgewachsenen Mann hinterher. »Oder?«

»Ja, ja, Frau Semmer, dann müssen wir aber los, ich will ihn mit nach Stadtklaven nehmen, ich habe heut ein Fußballspiel. Wenn Matti Lust hat, kann er auch mitkommen.«

»Bei der Hitze?« Mattis Mutter warf einen kontrollierenden Blick auf den Terrassentisch. Kurz darauf brachte sie ein weiteres Gedeck. Währenddessen lief Kevins Vater um den Pool herum, trat zögernd auf die braune Wiese und ging zu dem kleinen Zelt, in dem tatsächlich noch Ruhe herrschte. Das Zelt stand mitten in der Sonne. Es musste erbärmlich warm und stickig darin sein. Thomas Franke zog vorsichtig den Reißverschluss auf. Warme Luft kam ihm entgegen.

Matti öffnete gähnend die Augen. »Muss ich schon aufstehen?«

»Ja, Matti. Guten Morgen. – Wo ist denn Kevin?«

Der Junge sah sich im Zelt um. Dann zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht Pinkeln?«

Franke schaute zum Waldrand. »Kevin?«, rief er einmal, dann ein weiteres Mal. »Kevin!« Vergeblich wartete er auf eine Antwort. »Wann hast du Kevin das letzte Mal gesehen?«

Matti kroch vorsichtig aus dem Zelt und streckte sich. Er trug nur die Badehose. »Wir haben uns hingelegt und Gruselgeschichten erzählt. – Dann bin ich eingeschlafen. Und heute Nacht, als ich Pinkeln war, hat Kevin hier gelegen. Für quer.«

»Das gibt’s doch nicht …« Ein paar Schritte ging Franke zum Wald. Dann legte er die Hände als Trichter vor den Mund und rief erneut: »Kevin! – Komm bitte, wir haben keine Zeit zum Verstecken spielen!«

Ein paar Vögel flatterten davon.

Mattis Mutter kam näher, rieb ihrem Sohn die Schultern. »Guten Morgen. – Was ist denn los?«

Matti sah zu seiner Mutter hinauf. »Ich glaube, Kevin ist weg.«

»Weg?«

»Vielleicht ist der sture Kerl nach Hause gegangen.« Franke holte sein Handy aus der Hosentasche, Kurzwahl. »Hallo, Miriam? – Ist Kevin bei dir? – Nein, es ist nichts, wer weiß, wo er steckt. Vielleicht am See, ein Morgenbad nehmen.«

Minuten später suchten Frau Semmer und ihr Mann mit Matti im Wald, während Franke zum See fuhr und dort nach Kevin Ausschau hielt.

Gegen Mittag wusste der ganze Ort vom Verschwinden des blondgelockten Kindes. Nach und nach entlud sich die Angst. Die Erwachsenen machten sich keine gegenseitigen Vorwürfe, um die Situation nicht anzuheizen. Doch jedem kamen Zeitungsberichte in den Sinn, nach denen Kinder verschwunden waren und ermordet wiedergefunden wurden.

Vierzehn Uhr zwanzig kam ein Streifenwagen in den Ort, zwei Beamte nahmen alle relevanten Daten auf und befuhren anschließend jeden befahrbaren Weg der Umgebung.

Am späten Nachmittag versuchte eine Hundestaffel der Polizei die Spuren aufzunehmen, die an der Hauptstraße endeten. An eben dieser Stelle hatte Jockey jaulend gesessen, bis ihn die Angst vor den Polizeihunden vertrieb. Er hatte gejault, viele Stunden lang.

Am Abend fanden sich Semmers und Frankes zusammen. Matti saß am Beckenrand des Pools und sah schrecklich leidend aus. Er hatte viel geweint, denn er gab sich die Schuld am Verschwinden des Freundes. Zu viele Fragen hatte man ihm gestellt. Die Telefone der Familien Franke und Semmer klingelten ununterbrochen, Presse, Rundfunk, Fernsehen – alle Medien hatten vom Verschwinden des Zwölfjährigen erfahren. Eine Polizistin bewachte im Haus der Frankes das Telefon, ein Aufzeichnungsgerät wurde angeschlossen. Auch am Gartentor standen Polizisten, ebenso am Haus der Familie Semmer.

»Matti, komm mal bitte her.« Mattis Vater winkte.

Der Junge erhob sich widerwillig, ging zu seiner Mutter, die ihn an sich drückte und seinen Arm streichelte. Thomas Franke sah Matti einen Moment an. Sah auf dessen zitternde Hände.

»Hat Kevin dir nicht erzählt, was er vorhat?«, fragte Thomas. Er stellte die Frage zum zehnten Mal.

Matti schüttelte seinen Kopf. »Nein, hat er nicht. – Kevin hat nichts vorgehabt.«

Franke kratzte sich am Kinn und nickte. Alle drehten sich um. Auf dem Plattenweg, zwischen den beiden Kiefern, standen mehrere Männer.

Fast lautlos hatten sie sich genähert. »Guten Abend«, meinte ein Herr, der einen langen Sommermantel trug.

»Kriminalhauptkommissar Feldmüller. Ich bin der Einsatzeiter der Einheit, die nach Kevin Franke suchen wird.«

Frau Semmer erhob sich. »Moment, ich hole ein paar Stühle.«

»Machen Sie sich keine Umstände …« Der Kommissar lächelte freundlich.

Kurz darauf brachte Mattis Mutter vier Gartenstühle und baute sie auf der Terrasse auf. »Bitte, setzen Sie sich doch.« Sie selbst nahm ebenfalls wieder Platz.

Matti stand am Rand, niemand sah, dass Tränen über seine Wangen liefen.

Zunächst stellten sich die Anwesenden vor, dann klärte der Kommissar über das weitere Vorgehen auf.

»Unser Team besteht aus fünfundzwanzig Mann. Die anderen einundzwanzig sind bereits im Einsatz. Sie fahren zu den Stellen an denen sich jugendliche Ausreißer häufig aufhalten. Wartehäuschen, Bushaltestellen, Bahnhöfe, Jugendtreffs. Eine Gruppe ist unten am See, zwei Mann befragen derzeit die Bewohner des Dorfes. Wir benötigen ein gut reproduzierbares Foto von Kevin. – Das wäre erst mal alles.«

Einer der Männer stellte eine Frage, die Mattis Hände noch kräftiger zittern ließ. »Wer hat den Jungen zuletzt gesehen?«

Viele Augen richteten sich auf Matti, dessen Schuldgefühle wuchsen.

Feldmüller erhob sich, ging zu dem Jungen. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Matti Semmer.«

»Willst du uns helfen, deinen Freund zu finden?«

Der Zehnjährige nickte.

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

»Als wir eingeschlafen sind.«

»Und wann war das?«

Matti zuckte mit den Schultern. »Spät in der Nacht. Sehr spät.«

»Und als du aufgewacht bist, da war er weg?«

»Ja.«

Auch der Kommissar fuhr über Mattis kalten Arm, dann durch die kurzen Haare. »Besser, du gehst jetzt ins Bett. – Wir werden deinen Freund finden. – Versprochen.«

Matti lief zu seiner Mutter und fiel ihr um den Hals. Die trug den Jungen ins Haus, als wäre er ein Kleinkind.

Später erhielt die Polizei das Bild, auf dem Kevin lächelte. Frau Franke hatte die Fotos machen lassen, weil Kevin einen neuen Busausweis für den Schulbus beantragen musste.

Das Foto vom großen, zwölfjährigen Sohn der Frankes entstand vier Tage vor seinem Verschwinden.

4

Kevin ging es schlecht. Er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen, doch sein Magen war leer. Überall fühlte er Schmerzen, der Körper war innerlich eine einzige große Wunde. Kraftlos kroch der Junge über den Lehmboden. Er fühlte die Nacktheit, die Hilflosigkeit und die Kälte.

»Kann mir niemand helfen?«, fragte seine Stimme, die kaum noch menschlich klang. Einen Meter kroch er, dann erfühlten seine Finger etwas Weiches. – Die Decke!

Kevin zog sie zu sich und wickelte sich ein, so gut es ging. Dann kroch er weiter. Ein Knurren war zu hören, als wäre ein Hund in der Nähe. Es dauerte bis Kevin begriff, dass sein eigener Magen die Töne von sich gab.

Mit dem Kopf stieß er gegen einen Balken. Die Hände fühlten in die Dunkelheit, bis sie die Treppe berührten. Ganz langsam kroch Kevin Stufe um Stufe hinauf, bis der Kopf erneut gegen etwas stieß. Er hob einen Arm, schwer atmend, fühlte Bretter über sich, glaubte einen Schimmer von Licht zu erkennen.

Kevins Faust schlug gegen die Bretter. Erst zaghaft, dann immer stärker. Der Junge versuchte zu schreien, doch die Stimme klang heiser und leise.

»Hilfe! Helfen Sie mir!«

Kurz darauf war nur noch das Wimmern zu hören. Kevin steckte ganz und gar in der Decke, heulte und weinte kraftlos.

Ein derbes Knirschen drang an seine Ohren, blendendes Licht traf den Zwölfjährigen. Kevin fühlte einen Stoß, fiel rückwärts die Treppe hinunter und schrie schmerzerfüllt auf.

»Da hast du Brot und Wasser!«, hörte Kevin die Stimme der Alten krächzen. »Such es dir!« Ein Krachen ertönte.

Dunkelheit. Nur der Atem des Kindes war zu hören. Hektisch und schnell. Kevin griff an seinen Arm, auf den er gefallen war, als er im Sturz nach einem Halt suchte.

Brot? Wasser? Der Gefangene fühlte mit der linken Hand den Boden ab, kroch wie wild über den Beton. Endlich fand er einen harten Kanten Brot, nicht sonderlich groß und daneben ein Plastikflasche. Der Junge nahm beides, kroch zu dem Bett, zog sich hinauf und begann an dem Brot zu knabbern. Es schmeckte alt und scheußlich. – Egal! Nur essen! Kevin erfühlte, dass die Flasche einen Schraubverschluss hatte, wahrscheinlich eine große Colaflasche war. Das Wasser roch alt und abgestanden. Außerdem gab es einen bitteren, medizinischen Beigeschmack. Trotzdem trank er hastig und mit großen Zügen. Kevin klaubte die letzten Brotkrümel vom Bett und ließ sie im Mund verschwinden. Er stellte die Flasche ans Kopfende auf den Boden und legte sich hin, immer darauf bedacht, dass nichts von ihm unter der Decke hervorschaute.

Kevin Franke zitterte. Seine Gedanken durchdrangen die Wände. War draußen Tag oder Nacht? Warum hielt man ihn hier gefangen? Suchte jemand nach ihm? Wer war die hässlich dicke Frau? Warum tat ihm alles so weh? Das Gehirn des Jungen arbeitete, ohne Antworten zu erhalten. Immer wieder ließ ihm ein stechender Schmerz im rechten Unterarm die Tränen in die Augen schießen.

 

Kevin glaubte, die Umrisse der hinaufführenden Treppe in der Dunkelheit zu erkennen.

Wieder wurde ihm schlecht und schwindlig. Schwerfällig waren seine Bewegungen, bis Kevin erneut in eine Ohnmacht fiel.

Kevin und Matti trugen Badehosen. Es war unglaublich schwül.

»Wenn ihr Gewitterwolken seht«, sagte Mattis Mutter, »dann kommt ihr so schnell es nur geht nach Hause!«

»Ja, Mutti«, antwortete Matti.

Und Kevin grinste. »Klar, Frau Semmer. Oder wir verstecken uns unter einer riesengroßen Eiche, damit wir nicht nass werden, wenn wir aus dem Wasser kommen.«

Mattis Mutter zog Kevin zum Spaß am Ohr. »Du bist ein richtiger Frechdachs, Kevin.«

Sie rannten bis zum See, in der Erwartung des kühlen Wassers. Kevin trug den Lederfußball, mit dem sie am Strand Fußball spielen wollten. Auf dem Feldweg, der zu jenem unbekannten Strand führte, an dem selten Fremde zu sehen waren, stand ein Auto.

»Mist, es ist schon jemand hier«, raunte Matti und schlich um den Kombi. »Hoffentlich sind das nicht die blöden Typen aus Stadtklaven. Dann gibt es wieder sinnlos Zoff.«

»Nee, Matti. Die wären nicht mit dem Auto da.«

Die Jungen liefen zum Wasser. Plötzlich erschraken sie. Ein Mann kam ihnen entgegen. Sein bis zum Bauch geöffnetes Hemd war voller Schweiß. Er trug einen Spaten.

»Tach«, sagten die Kinder, weil sich im Dorf schließlich alle grüßten.

Der Mann sprach kein Wort. Er blieb für einen Moment stehen, beobachtete die Kinder und stützte sich auf den Spatenstiel.

Eilig liefen die Jungen an ihm vorbei. Kurz darauf hörten sie den Motor des Autos aufheulen. Umständlich wendete der Kombi auf dem Feldweg und brauste davon, sodass eine große Staubwolke über den See schwebte.

»Was war das denn für ein Typ?«, fragte Matti und tauchte einen Fuß in das klare Wasser. »Man, ist das kalt.«

»Vielleicht ein Angler der Regenwürmer ausgegraben hat?« Kevin warf den Ball ins Wasser.

»Ohne Eimer und ohne Angel?« Matti tippte mit seinem Finger gegen die Stirn. Dann rannte er in den See, dass das Wasser aufspritzte. »Wer zuerst den Ball hat!« Kevin stürzte hinterher.

5

»Bist du fertig, Holger?« Maria Hinrich steckte sich zwei Klemmen in die Haare und betrachtete sich erneut im Spiegel.

»Seit einer Stunde etwa, mein Schatz. Können wir jetzt frühstücken? Hab ich einen Kohldampf …«

Eine Woche Urlaub gönnte sich der Kriminaloberkommissar mit seiner Frau. Bereits zum achten Mal war das Leipziger Pärchen im »Seeblick« abgestiegen. Hier, in der mecklenburgischen Prärie, wie Hinrich sich gern ausdrückte, fand er zu sich selbst zurück. Der überschaubar eingerichtete Gasthof besaß das Flair längst vergangener DDR-Tage, Hinrich schien sich sicher, dass man in den letzten zwanzig Jahren an der Einrichtung nichts geändert hatte. Am Tag unternahm der Neunundfünfzigjährige ausgedehnte Spaziergänge durch die Nadelwälder, über Felder und entlang der Seen.

»Schönheit muss gepflegt werden«, brummte die Frau und griff nach der Hand ihres Mannes.

Der gab ihr einen Kuss auf die Lippen. »Für mich wirst du immer die schönste sein. Auch ohne Haarklemmen und Puder.« Hinrich schloss das Zimmer ab, gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter ins Gasthaus.

»Guten Morgen. – Was ist denn heut hier los? Da ist doch was passiert, oder?« Erstaunt beobachtete Hinrich, dass der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt war. Der Kommissar erkannte wenigstens zehn Polizeiuniformen.

Sogleich ging er zu Ulla Kern, der Eigentümerin und Wirtin des Gasthauses »Seeblick«.

Die wirkte sichtlich nervös. »Nein, nein. Kleinen Moment, Herr Hinrich … – Stört es Sie, wenn andere mit am Tisch sitzen?«

Hinrich nahm die Frau zur Seite. »Ganz ruhig, liebe Frau Kern. Das stört uns nicht. Außerdem will ich wissen, was passiert ist. Hier sind mehr Leute, als das Dorf Einwohner hat.«

Die Kern, über deren Lippe sich ein flauschiger Damenbart gebildet hatte, flüsterte geheimnisvoll: »Kevin, der große Junge von den Frankes, der ist verschwunden. Na, die haben ja noch vier Kinder, aber …«

»Warten Sie mal, Frau Kern. – Das ist der Junge mit den blonden Locken, oder? So groß ist der aber auch noch nicht. – Verschwunden meinen Sie? Einfach so? Seit wann denn?«

»Seit gestern Morgen. Hat wohl mit dem kleinen Matti bei Semmers im Garten gezeltet. Und am Morgen war er weg.« Gewohnheitsgemäß holte Hinrich einen kleinen Zettelblock und den Bleistift aus der Hosentasche und machte sich kurze Notizen.

Währenddessen hatte die Wirtin zwei weitere Stühle an einen Tisch gestellt. »Rückt mal zusammen!«

Hinrich beugte sich zum Ohr seiner Frau. »Erzähl keinem, was ich bin. Verstanden?«

»Das beschäftigt dich … Wir sind im Urlaub, Holger.« Ein leichter Vorwurf klang in der Frauenstimme mit.

»Lass mich mal machen, Mäuschen. Ich hör mich nur so um.«

Beide setzten sich an den Tisch, an dem bereits zwei junge Männer ihren Kaffee tranken.

»Morgen«, meinte Hinrich laut.

»Morgen«, murmelten die beiden Beamten.

Während Hinrich sein Brötchen schmierte und mit Salamischeiben belegte, blickte er auf einen der beiden Männer, der recht jung wirkte. »Sie gehören wohl zum Einsatzteam? Wie viele Leute sind denn im Einsatz?«

»Fünfundzwanzig. – Stört Sie das Rauchen?«

»Nee, nee, rauchen Sie ruhig weiter. – Polizeidirektion Schwerin? – Und, gibt’s schon eine heiße Spur? Wie heißen Sie denn?«

»Sorry, ich vergaß, mein Name ist Martin Wallner. Und mein Kollege hier, das ist der Anwärter Michael Sörbig. – Nein, keine heiße Spur. Nicht die kleinste.«

»Angenehm, Hinrich. – Und das ist meine Ehefrau. Wir machen ein paar Tage Urlaub hier. Und nun diese Aufregung. Man hört ja oft, dass Kinder von zu Hause weglaufen …«

»Weglaufen?« Sörbig, der selbst noch kindlich wirkte, blickte auf. Er holte ein Bild aus der Jackentasche und legte es Hinrich neben die Kaffeetasse. »Das ist Kevin Franke, der Junge, der gesucht wird. Sieht der wie weglaufen aus?«

Hinrich nahm den Abzug zur Hand. Der blonde Junge lächelte ihn an. »Nicht direkt. – Ich kenne ihn. Wir haben ihn mal nach dem Weg gefragt. Das war unten am See. Kevin hat uns zum Fußballspielen aufgefordert. Fünf Minuten habe ich durchgehalten. Er war da mit seinem Freund, einem Jungen mit kurzen, dunklen Haaren. – Kann ich das Bild behalten? Nur für den Fall, dass …«

»Aber sicher. – Sein Freund heißt Matti. Matti Semmer. Das ist der Junge, der Kevin zuletzt gesehen hat. – Hier im Ort gibt es nur sechs Kinder. Und fünf davon heißen Franke.«

»Sie sind wohl von hier?« Hinrich goss sich Kaffee nach.

»Ja. Ich habe neben den Frankes gewohnt. Bis meine Eltern nach Schwerin gezogen sind. Das war vor zwei Jahren. Die haben den Umzug wegen mir gemacht.«

»Dann kennen Sie natürlich auch Kevin?«

»Besser, als manch anderer. Kevin war ziemlich oft bei uns. Wissen Sie, ich hatte einen eigenen Computer und er nicht.« Michael Sörbig lächelte. »Außerdem hat sich Kevin oft verkrümelt, weil er seinem Vater helfen musste. Der hat eine Werkstatt und repariert alles Mögliche, vor allem landwirtschaftliche Maschinen. Kevin ist sieben Jahre jünger als ich. Und als er acht war, hat sein Vater schon davon gesprochen, dass Kevin mal die Werkstatt übernehmen soll. Kevin will aber Kapitän werden. Bei mir hat er immer nur ein Spiel gespielt: Die Simulation einer Schiffsbrücke, auf der Kevin Kapitän sein durfte. Er beherrschte das Spiel viel besser als ich.«

»Vielleicht hat der Junge Probleme mit seinem Vater?« Hinrichs Frau mischte sich in das Gespräch ein.

Sörbig zuckte mit den Schultern. »Glaube ich nicht. – Sie waren zwar nicht immer die besten Freunde. Wissen Sie, die Miriam, das ist Kevins Mutter, die lebte mit Kevin allein. Das war noch so … als ich neun war. Ja, neun oder zehn. Dann hat sie Thomas kennen gelernt, ihren Mann. Er ist nicht Kevins richtiger Vater. Aber ich glaube, sie haben es Kevin nie gesagt. Die anderen vier Kinder, die sind von Thomas. Das letzte Mädchen wurde erst geboren, als ich nicht mehr hier wohnte. – Aber direkt Probleme mit Thomas …? Er hat seinen Großen ziemlich hart rangenommen. Aber deswegen weglaufen? Nein, das glaube ich nicht. Meine Mutter hat sich immer gefragt, wie die das machen. Fünf Kinder, und sie leben in einer Eintracht …«

»Wir müssen jetzt los«, unterbrach Martin Wallner.

»Was haben Sie denn vor?«

»Das werden wir gleich erfahren. Hauptkommissar Feldmüller, der den Einsatz leitet, lässt derzeit in alle Richtungen suchen. Favorisiert wird jedoch die Annahme, dass Kevin am Morgen das Grundstück der Familie Semmer verlassen hat, weil er Angst bekam, es könnte zu Hause Ärger geben. Er wusste nicht, dass seine Mutter mit Frau Semmer gesprochen hatte. Also ist es wahrscheinlich, dass auf dem kurzen Heimweg etwas passiert ist.«

»Was soll da passiert sein?« Frau Hinrich schüttelte ihren Kopf. »Ist es nicht eher denkbar, dass sich der Junge aus Angst versteckt hat?«

Sörbig schüttelte seinen Kopf. »Das mag man vielleicht annehmen, aus meiner Sicht ist es aber nicht so. Kevin steht zu den Fehlern, die er begangen hat. Er ist ehrlich und liebt seine Mutter über alles. Er liebt seine ganze Familie.«

Die beiden jungen Männer erhoben sich und grüßten freundlich.

»Und, was machen wir heute?« Die Frau des Kommissars wedelte Brötchenkrümel von ihrem Schoß.

»Die Augen und Ohren offen halten.«

Die Wirtin setzte sich an den Tisch. »So ein Stress«, sagte sie. »In Ihrer Stadt fällt es bestimmt nicht auf, wenn jemand verschwindet. Aber, wenn von unseren zweiundvierzig Hanseln eins fehlt, dann ist das schon bedeutungsvoll.«

Hinrich lächelte. »Nee, ganz so ist das nicht. Auch in der Stadt gibt es einen Aufruhr. Gerade bei verschwundenen Kindern. Es passiert nur häufiger als hier.« Hinrich beugte sich ein wenig zu der Wirtin. »Verraten Sie mir, wer hier im Ort als erster aufsteht. Wer von ihren zweiundvierzig Hanseln ist zuerst munter?«

»Na Sie wollen ja Sachen wissen, Herr Hinrich. – Der Kramer, der ist zuerst auf der Straße. Am Morgen sucht er seinen Hund Jockey, zum Frühstück trinkt er das erste Bier, spätestens mittags ist er besoffen und schläft ein. Darum ist er in der Nacht der erste, der wieder munter wird. – Das ist schon immer so. Außerdem ist er Frühaufsteher. Der war lang genug LPG-Vorsitzender.«

Hinrich trank seinen Kaffee aus. »Haben Sie uns wieder einen Verpflegungsbeutel gemacht, Frau Kern?«

»Aber natürlich, Herr Hinrich, warten Sie einen Moment.«

»Warum hast du es plötzlich so eilig?«, fragte die Frau des Kommissars.

»Ich will diesem Herrn Kramer einen Besuch abstatten. Bevor er besoffen ist.«

»Denkst du daran, dass wir Urlaub haben?«

»Mäuschen, glaubst du wirklich, ich kann mich erholen, wenn ich nicht sicher bin, dass ich alles getan habe, was ich tun konnte, um dem Kind zu helfen?«

»Ach, Holger, du bist und bleibst unverbesserlich.«

»Bitte! Es geht um ein Kind.«