Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau

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Moskau 13. April

Der knapp vierjährige Pechvogel der kleinen Wolkow-Fami-lie, dem an jenem Tag – wie an jedem anderen – mehrere kleine Unglücke geschahen, hatte im simpel eingerichteten Wohnzimmer seinen Suppenlöffel unter dem Tisch aufgeklaubt, der ihm infolge seiner immensen Müdigkeit aus der Hand geglitten und auf den Boden gefallen war. Das Verlorengehen eines seiner geliebten Gegenstände löste das Herunterklappen seiner Unterlippe aus. Ein fragender Blick zur Mama folgte, die mit dem sanften Satz »Heb ihn auf, mein Schatz« das folgende Unglück auslöste. Anton glitt vom Sofa unter den Tisch, ergriff den Löffel und wollte sich erheben. Dabei stieß er deutlich vernehmbar mit dem Kopf an der Tischkante an. Begleitet von einem Schrei tauchte sein Gesicht wieder auf und vergrub sich sogleich im Schoße der Mama, die auf dem kurzhaarigen Kopf vergebens nach einer Beule suchte. Anton weinte zwar in herzerweichenden und ohrenbetäubend schrillen Klängen, doch waren wohl Schreck und Müdigkeit die Auslöser des Kraches.

Antons Schwester drehte derweil die Zöpfe zwischen ihren Fingern und wartete gespannt darauf, wie die Mutter reagieren würde. Natascha war bereits fünfeinhalb Jahre alt und fühlte sich oft sehr erwachsen, vor allem wenn es darum ging, dem kleinen Anton Befehle zu erteilen. Heute wurde Natascha enttäuscht, denn nichts passierte, außer dass die Sirenen plötzlich verstummten und Anton im Schoß der Mutter auf dem Fußboden kniend einschlief.

Im Grunde genommen war es Jekaterina Ruslanowna Wolkowa, die hätte heulen können. Sie kraulte den Hinterkopf des Söhnchens, beendete das Abendmahl und wartete, bis Natascha fertig wurde. Sie lebten in einfachsten russischen Verhältnissen, das meiste Geld verschlang die kleine Wohnung, um die die Preisexplosionen der Moskauer Mietpreise keinen Umweg gemacht hatten, zudem sie ganz in der Nähe der Metrostation Tushinskaya gelegen war. Der marode Zustand der Mietwohnung wirkte sich nicht mindernd auf den Mietpreis aus, schließlich gab es genügend andere Bewerber, die sofort zahlen und einziehen würden.

Alles in ihrem Leben war so verflixt kompliziert. Jekaterinas geliebter Mann, Jurij Jewstignejewitsch Wolkow, ruhte auf dem Friedhof Trojekurowo, weil er von einem betrunkenen Beamten bei einem Verkehrsunfall getötet worden war. Der Unfallverursacher hatte der zweifachen Mutter und jungen Witwe lebenslange Hilfe versprochen, vorausgesetzt, sie zog ihre Anzeige zurück und schwieg zum Unfallhergang. Jekaterina Wolkowa hatte in diesem Vorschlag das klügste Vorgehen für ihre Kinder gesehen, also war sie den Pakt mit dem Teufel eingegangen. Nun schuldete der Mann ihr bereits drei Monatsraten aus dem ungeschriebenen Kontrakt und die mühsam zurückgelegten Ersparnisse hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst. Bevor sie sich ernsthaft um einen Job kümmern wollte, musste die Mutter einen Tagesplatz für beide Kinder in einem Kindergarten finden, die in Moskau eher Vorschulcharakter hatten. Doch genau dort lag das Problem. Die Wartezeiten für staatliche Einrichtungen waren extrem lang, alle anderen kosteten zwischen 500 und 2.000 Rubel monatlich! Anton, den Unglücksknaben, konnte sie unmöglich allein zu Hause lassen, Natascha vielleicht. Zudem war ihre frühere Arbeitsstelle in einem Labor längst wieder vergeben. Und Laborantinnen gab es in Moskau wie Sand am Meer.

Also schlug sie zunächst einen Weg ein, den sie an sich dringend hatte vermeiden wollen. Sie setzte sich mit dem Moskauer Nachrichtenblatt Moskowskie Nowosti in Ver-bindung. Als sie den Namen des Unfallverursachers erwähnte, erhielt sie innerhalb weniger Stunden Besuch von einem Mann, dem sie nicht so recht vertrauen wollte: Nikita Schirjajew, Redaktionschef der Moskauer Seiten des Blattes. Schirjajew war jung, dynamisch und ein mit allen Wassern der Moskwa gewaschenes Schlitzohr. Er entlockte ihr innerhalb von dreißig Minuten die gesamte Geschichte rund um den Unfall und schrieb drei Seiten mit Notizen voll. Jekaterina Wolkowa konnte ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen, wenngleich ihre Sorge um das eigene Wohl und das der Kinder zunahm. Dem ersten Schritt musste trotz allem der zweite folgen. Sie kämpfte sich telefonisch von einem öffentlichen Telefon bis ins Vorzimmer von Boris Jewgenij Jerchow, ihrem Widersacher und einem engen Berater des russischen Präsidenten, durch und setzte einen Sekretär davon in Kenntnis, dass sie erste Maßnahmen einer Gegenwehr ergriffen habe. Die erhoffte finanzielle Antwort blieb aus. Ängstlich erwarb die Wolkowa täglich ein Moskauer Nachrichtenblatt, in großer Sorge, Schirjajew könne das Versprechen des vorläufigen Schweigens brechen. Erst im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass das Nachrichtenblatt, eine regierungstreue Zeitung, vielleicht nicht die sinnvollste erste Adresse gewesen war.

»Geh dich waschen, Natascha. Ich bringe deinen Bruder ins Bett.« Im engen Zimmer der Kinder legte sie Anton vorsichtig an die Wandseite des Bettes, das er sich mit der Schwester teilen musste, nachdem sie ihn umständlich für die Nacht eingekleidet hatte, ohne dass Anton erwacht war. Sie drückte dem Söhnchen seinen Mischkabären in den rechten Arm und gab ihm einen sanften Kuss auf das rote rechte Bäckchen. »Schlaf schön, mein Schatz.«

Wie an fast jedem Abend, wenn Anton bereits schlief, kontrollierte Jekaterina Wolkowa die Abendwäsche der Tochter, führte sie ins Wohnzimmer, schloss leise die Zimmertür und setzte sich auf einen Stuhl. Natascha suchte sich aus den wenigen Kinderbüchern im Regal eines aus, setzte sich auf den Schoß der Mutter, wählte die passende Geschichte und ließ sie sich vorlesen. Zwischendurch stellte das Mädchen unablässig Fragen zu den Illustrationen, die sich Abend für Abend wiederholten.

Nach einer guten Stunde gähnte Natascha lang und ausdauernd und kuschelte sich an die Mutter an. Die nahm eine Haarbürste zur Hand, stellte das Mädchen auf die Füße, löste die beiden Zopfhalter und kämmte nun in aller gegebenen Ruhe Nataschas lange Haare. Schlussendlich machte sie einen Zopf daraus und flüsterte – wie an jedem Abend: »Nun ist es Zeit fürs Bett, meine Prinzessin.«

Sie schob das Mädchen vor sich her, öffnete die Stubentür und beide betraten den Flur und kurz darauf das Kinderzimmer. Nun machte Jekaterina Wolkowa das Licht an, damit Natascha ihren Platz im Bett finden konnte.

Das Mädchen brüllte jedoch wie am Spieß! Jekaterina Wolkowa stand fassungslos und ohne Regung da, während der kleine Anton erwachte, das Umfeld erblickte und ebenfalls kreischte, denn sein Teddybär lag in unzählige Einzelteile zerfetzt neben ihm im Bett und auf der Zudecke! Die Füllung von Mischka war im gesamten Kinderzimmer verteilt und unter Antons Kopfkissen schaute ein kleiner Zettel hervor.

Nachdem sie ihre Angststarre überwunden hatte, riss Mutter Wolkowa den Zettel an sich.

»Heute der Teddy. Morgen dein Kind?«

Ein Schluchzen durchfegte das Kinderzimmer.

*

Konstantin Bobrow saß in einem der vielen Moskauer Parks und biss herzhaft in einen Hamburger, den er gerade an einem Schnellimbiss erstanden hatte.

Den ersten Auftrag des Abends hatte er erfüllt. Die Wolkowa jedenfalls würde Augen machen! Er war wie ein Mäuschen in die Wohnung eingedrungen, hatte sie lesen hören und das Kinderzimmer betreten. Der Kleine hatte tief und fest geschlafen, während er den Teddy genommen und seine Aufgabe gewissenhaft erledigt hatte. Dann war er ebenso leise aus der Wohnung verschwunden, hatte die Tür sogar wieder von außen verriegelt.

Mit der rechten Hand griff er zur Brusttasche der Jacke und erfühlte den Umschlag. Er hätte das Geld nehmen und verschwinden können. Mehrfach suchte dieser Gedanke sein Gehirn heim. Doch kannte Bobrow die Beziehungen seines Arbeitgebers zur Genüge. Er würde damit wahrscheinlich nicht weit kommen.

Bobrow schaute sich um. Drei Gestalten näherten sich. Zwei der Männer setzten sich zu ihm auf die Bank, einer rechts und einer links von ihm. Der dritte blieb unmittelbar vor ihm stehen. Nikita Schirjajew vom Moskauer Nachrichtenblatt! Wer in Moskau kannte dessen Pockennarben-Visage wohl nicht?

»Du hast etwas für mich?«, fragte Schirjajew. »Zeig her!«

Bobrow würgte den letzten Bissen hinunter, ließ das Papier des Burgers fallen und zog den Umschlag aus der Jackentasche. Er hielt ihn hoch.

Sofort griff Schirjajew zu, erfühlte die Dicke des Kuverts, riss es auf und zog einige Scheine heraus. Dann packte er das Geld in die eigene Jackeninnentasche und holte aus einer weiteren Tasche einige lose Blätter, die er dem jungen Bobrow vor die Nase hielt. Der nahm ein Feuerzeug aus der Hosentasche, wobei die beiden Kerle neben ihm kurz zuckten, und hielt die Flamme an die Zettel, die sofort Feuer fingen. Bevor die Flammen Schirjajews Finger erreichen konnten, ließ der die Überreste der Zettel fallen. Er nickte seinen Männern zu und alle drei verschwanden in der Dunkelheit.

Bobrows linke Schuhsohle wischte die Asche auf dem Boden auseinander, dann verließ er den Ort des Geschehens. Rapport würde er seinem Arbeitgeber erst am nächsten Morgen erstatten.

*

Etwa zur gleichen Zeit telefonierte Jerchow von zu Hause aus mit einem Herrn vom Inlandsgeheimdienst FSB, auch Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation genannt. Oberst Daniel Leonidowitsch Schestakow, wusste sein Gehalt seit Jahren durch Zahlungen aus dem Umfeld des Präsidenten aufzubessern.

»Ihr Name ist Jekaterina Ruslanowna Wolkowa. Ich will, dass diese Frau rund um die Uhr überwacht wird. Falls sie mit einem Radio- oder Fernsehsender oder gar mit der Novaya Gazeta oder irgendeiner anderen Zeitung in Kontakt treten will, wird sie festgenommen. Verstanden?«

»Sie können sich auf mich verlassen, Boris Jewgenij. Wie immer.«

Leipzig 14. April

»Was ist nun, Hans, kommst du morgen mit?« Paul Meisner, der die Amtsbezeichnung »Kriminalobermeister« tragen durfte und seit einigen Monaten wie eine Klette an seinem Vorgesetzten Hans Rattner – Hauptkommissar der Mordkommission in Leipzig – heftete, klang keinesfalls vorwurfsvoll, eher erinnernd.

 

»Morgen?« Rattner stellte den leeren Kaffeebecher weg. »Was ist morgen?«

»Mein Gott, Hans, hat dich Alzheimer voll in Beschlag genommen?« Der nur wenig jüngere Mann blätterte – ohne zu fragen – in Rattners Tischkalender, dessen Seiten einige Wochen nicht umgeschlagen worden waren. »Mensch, siehste? Da steht es: Hochzeitsfeier, Pauls Tochter Ulrike, im Neuen Löwen, 18 Uhr. Deine Klaue. Und, steht es da?«

Bei einem Versäumnis ertappt, ließ der Hauptkommissar nur einen kurzen Blick über seinen Kalender schweifen. »Wenn du das sagst, Paul, dann wird es ganz bestimmt dort stehen. Tatsächlich morgen schon?«

»Du bist gemeinsam mit deinem Weib eingeladen. Weiß Hannelore wenigstens davon?«

Vorsichtig schüttelte Rattner den Kopf. »Woher denn?«

Meisner zupfte an seinen gepflegten Bartspitzen. Innerlich war er der Verzweiflung nahe, äußerlich ließ er sich nichts anmerken. »Also, kommt ihr? Meine Ulrike läuft Amok, wenn ihr morgen nicht da seid.«

»Ich rede mit meiner Frau.«

»Jetzt gleich.«

Rattner verzog das Gesicht, dann griff er nach seinem Handy. Er blickte nochmals auf: »Was wünscht sie sich denn?«

»Geld. Für die Hochzeitsreise. Damit machst du ihr die größte Freude.«

»Aha.« Rattner wählte die heimische Nummer. »Hannelore? Sag mal, kann es sein, dass du vergessen hast, mich daran zu erinnern, dass ...«

Moskau 14. April

»Was denn, das da soll Fedor sein? Nein, das will ich beim besten Willen nicht glauben!«

Es geschah gegen 10 Uhr Moskauer Zeit, dass Sorokin und dessen Sohn Fedor mit zwei Reisetaschen das kleine Hotel am Fili-Park, das unweit der Moskwa lag, betraten und auf den alten Piotr Gussew trafen, der sogleich hinter seinem Tresen hervorgekrochen kam, Sorokin sträflich missachtete und stattdessen den Jungen drückte, herzte und dessen Wangen abwechselnd küsste. Fedor wehrte sich nicht, er ließ lediglich die Tasche fallen.

»Niemals ist das der gleiche Fedor, den ich im vergangenen Jahr gesehen habe! Was bitte essen die Kinder in Deutschland, dass sie über Nacht so gewaltig wachsen können?« Nochmals küsste Gussew Fedors Wangen, dann wandte er sich Sorokin zu und begrüßte den großen Mann ebenso herzlich, allerdings reichte er nicht an dessen Wangen heran. »Ich bin glücklich, euch beide gesund und munter hier begrüßen zu können. So glücklich bin ich. – Wollt ihr gleich frühstücken oder wollt ihr erst euer Zimmer begutachten? Wie sieht es aus, entscheidet ihr euch? Hier ist wegen des Länderspiels alles ziemlich voll.«

Fedor drehte sich einmal und klickte durch den Raum. Dann ging er drei Schritte und berührte einen alten Waffenschrank, in dem einige Attrappen historischer Armbrüste hingen. »Herr Gussew? Dieser Schrank ist aber neu. Der stand sonst nicht hier«, raunte er.

»Sag bitte nicht ›Herr Gussew‹ zu mir. Mit ›Herr‹ angesprochen zu werden, ist in Russland eine Strafe. Sag einfach Petja. Oder sag von mir aus Piotr Mitrofanowitsch. Mein Vater – Gott hab ihn selig – hieß Mitrofan, weißt du, deshalb der in deinen Ohren vielleicht merkwürdig klingende Vatersname. Ach was, sag lieber Petja, so nennen mich schließlich alle. Oder sag Onkelchen.« Erstaunt klopfte Gussew Sorokin auf die rechte Schulter und flüsterte: »Mein Gott, nun sag schon, Tolik, ihr wart im vergangenen Jahr gerade zwei Tage bei mir und er weiß das immer noch? Hast du ihm das Sehen beigebracht? Was hat der Junge nur für ein Gehirn?«

Sorokin lächelte. »Fedor merkt sich viel zu viel. Und seine Klicksonar-Technik hat sich deutlich verbessert. Richtig deutlich verbessert.«

Gussew beobachtete Fedor, der zielgerichtet in den Frühstücksraum lief, und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s im vergangenen Jahr schon gesagt. Ein Wunderknabe ist der Junge. Ein richtiger Wunderknabe.«

»Wenn’s denn nur so wäre«, flüsterte Sorokin.

»Das habe ich gehört, Papa«, war sofort aus dem Frühstücksraum zu hören. Und dann rief Fedor erstaunt: »Wir haben hier sogar WLAN!«

Sorokin und Gussew betraten den Frühstücksraum. Fedor saß allein an einem Tisch, vor ihm sein Android-Tablet, an das die schmale Blindentastatur angeschlossen war. Ein Ohrhörer steckte in Fedors linkem Ohr.

»Im Grunde genommen ist er wie alle Jugendlichen in seinem Alter«, raunte der Vater.

Gussew betrachtete das Tablet. »Nein, was du da für ein modernes Ding hast! Weißt du, Fedor, meine Enkel haben mich gezwungen, im Hotel Internet einrichten zu lassen. Und das ist sehr kostspielig, musst du wissen? Jetzt geht es hier manchmal zu wie in einem der WiFi-Läden in der Stadt. Sie kommen mit ihren Laptops und veranstalten regelrechte Partys«, berichtete der Hotelbesitzer mit unverkennbarem Stolz.

Fedor benötigte nur wenige Worte, um den Mann von seinem hohen Ast zu holen. »Ehrlich gesagt ist dein WLAN ziemlich lahm. Ich kann nicht glauben, dass damit eine richtige Internetparty möglich ist.«

»Ein Wunderknabe«, sagte Sorokin und grinste Gussew an. »Du sagst es, Piotr Mitrofanowitsch.«

»Ich bin von diesem ganzen Cyber-Kram nicht begeistert. Was machen denn die jungen Leute? Sie treffen sich nicht mehr auf der Straße, sondern sitzen daheim vor ihrem Rechner. Das nennen sie dann Kommunikation. Und die Kinder kommen an allen möglichen pornografischen Schweinkram ran, den die Hunde von der Pornomafia im Internet veröffentlichen. Nein, das finde ich nicht gut.«

»So etwas kann man doch sperren«, sagte Fedor beiläufig.

»Wie – sperren?«

»Du kannst deinen Rechner so einrichten, dass Pornos gar nicht erst angezeigt werden.«

Gussew staunte. »Sind sie denn bei dir gesperrt?«, fragte er.

»Nein, Onkelchen Petja«, Fedor griente, ohne den Kopf zu heben. »Warum auch? Ich höre eh nur das eklige Gestöhne.«

»Untersteh dich!«, rief Sorokin. »Über dieses Thema hatten wir doch geredet!«

Fedors Grinsen ließ nach. Er sprach deutsch: »Eh Papa! Das war ironisch gemeint. Kapierst du das nicht?«

Ein wenig beschlich Gussew das Gefühl, die Vater-Sohn-Situation könnte eskalieren. »Ich bring euch gleich das Frühstück«, sprach er und verschwand hinter einer Flügeltür.

Sorokin setzte sich. »Ich möchte nicht, dass du in einem solchen Ton mit mir redest, Fedor. Schon gar nicht, wenn Fremde dabei sind.«

»Aber Papa, wenn du einfach nicht kapierst, was Spaß ist ... Außerdem ist Onkel Petja kein Fremder.«

»Du hast mich schon verstanden. Sind wir uns einig, Fedor?«

Der Junge schwieg mit ernstem Gesicht und lauschte der synthetischen Stimme auf seinem Tablet, erzeugt von einem modernen Programm für blinde Nutzer.

Nun stand Sorokin wieder auf, musterte einige Sekunden lang seinen Sohn und ging schweigend zur Terrassentür, die er öffnete, um draußen zu rauchen.

Kaum hatte er die Zigarette angezündet, da kam Fedor hinzu, schlich sich an seinen Vater heran und umschlang ihn. Er zeigte auf ein Fenster neben der Terrassentür und flüsterte: »Genau dort habe ich mich letztes Jahr versteckt.«

Sorokin drückte den Kopf des Jungen an sich. »Versteckt? Warum?«

»Ich bin hoch ins Zimmer, über den Balkon wieder runtergeklettert, an der Hauswand entlang und habe dich und Artjom belauscht.« Fedor sagte nichts als die Wahrheit.

Bedächtig blies der Vater den zuvor eingeatmeten Qualm aus der Lunge. »Und warum hast du uns belauscht? Du bist vom Balkon geklettert? Du hättest dir den Hals brechen können!«

»Immerhin hattest du mir alles verschwiegen und ich musste mich selbst um meine Informationen kümmern«, klärte Fedor auf. »Und außerdem: Hätte ich mir tatsächlich den Hals brechen können, dann wäre ich nicht hinuntergeklettert.«

»Es gibt Informationen, die einen Dreikäsehoch ganz einfach nichts angehen!«

»Ich bin kein Dreikäsehoch.«

»Letztes Jahr warst du noch einer. – Versprichst du mir was?«, fragte Sorokin mit ernstem Gesichtsausdruck.

»Das kommt ganz darauf an, was ich dir versprechen muss, Papa. Also was?« Fedor lauschte.

»Keine gefährlichen Aktionen dieses Mal. Wir sind Touristen in Moskau und wollen einfach nur unseren Spaß haben. Okay?«

»Okay.« Fedor löste sich vom Vater. »Und welchen Spaß meinst du?«

*

»Warum der Friedhof?« Fedor trug einen Blumenstrauß und roch ständig an den Tulpen. Er folgte dem Vater ohne Blindenstock. Sorokin betrachtete die alten Gräber auf dem Friedhof Trojekurowo, von denen einige teuren Denkmälern glichen. »Als Spaß würde ich den Friedhof nicht unbedingt bezeichnen, Papa.«

»Denk nach, Fedor.« Sorokin ging nun langsamer. Sie standen vor der kleinen Friedhofskapelle, deren goldenes Zwiebeltürmchen die Sonnenstrahlen reflektierte, wenn es die Sonne denn schaffte, zwischen den Wolken hindurchzulugen. Als Fedor zu reden begann, lief Sorokin weiter.

»Es ist wegen Katies Mann, nicht wahr? Katie besucht jeden Samstag sein Grab, meistens nach dem Mittagessen. Er hieß Jurij, stimmt’s? Warum sind wir nicht zu ihr gefahren?«

Deutlich hörbar atmete Sorokin aus. »Weil ich das nicht will.«

»Was willst du nicht?«

»Einfach so bei ihr zu Hause aufkreuzen.«

Fedor stolperte über einen vorstehenden roten Wegstein aus Beton, strauchelte jedoch nur ein wenig. »Und warum nicht?«

»Pass auf die Blumen auf! – Sie könnte längst wieder verheiratet sein. Vielleicht ist sie umgezogen. Aber hierher ... Sie wird immer wieder hierher kommen.«

»Jekaterina hat gesagt, Tote vergisst man schnell. – Bist du verknallt in sie?«

»So ein Blödsinn, Fedor! Was soll das?«

»Das war nur eine Frage. Bist du verknallt in Jekaterina? Ich mag sie jedenfalls.«

Sorokin legte den rechten Arm über Fedors Schultern und blieb stehen. »Hier ist ein sehr imposantes Grab«, stellte er fest. »Es ist das Grab von Dmitri Jurjewitsch Cholodow.«

»Du lenkst ab, Papa. – Wer war denn dieser Cholodow?«

»Sie haben ihm ein Relief geschaffen. Es ist ein großer roter Grabstein, an dem das Relief befestigt ist. Oben im Relief ist sein Kopf zu sehen. Er war sehr jung, als er ermordet wurde.«

»Ermordet? Ich habe noch nie etwas über Cholodow gehört.«

»Wir haben oft darüber gesprochen. Über die Korrupten in Russland. Menschen, die böse Dinge tun, wie damals, als deine Mutter zu Tode kam.«

»Und warum wurde dieser Mann ermordet?«

»Auf dem Grabstein steht, dass er 1967 geboren ist. 1994 starb er durch eine Kofferbombe, die jemand in seinem Schließfach auf einem Bahnhof versteckt hatte. Also starb Dmitri Jurjewitsch mit siebenundzwanzig Jahren. Er war einer großen Korruption in der russischen Armee auf der Spur, deshalb musste er sterben.«

»Wer waren denn die korrupten Leute?«

»Offiziell war es selbstverständlich niemand. Fünf Offiziere des Armeegeheimdienstes wurden wegen Mordes angeklagt, jedoch wurde kein einziger von ihnen verurteilt. Es war wie Hohn gegen die Eltern von Dmitri Jurjewitsch. Alle Verfahren gegen seine vermeintlichen Mörder wurden eingestellt. Es wurde auch viel über einen General namens Gratschow diskutiert, der aber nur als Zeuge vorgeladen war und im Gerichtssaal mehr Macht ausstrahlte als die Militärgerichtsbarkeit.«

Fedor ließ nicht locker. »Und was waren das für Korruptionen?«

Sorokin antwortete beflissentlich. »Es hatte auch was mit unserer neuen Heimat zu tun. Damals, als die DDR zu existieren aufhörte und die Sowjetarmee Deutschland verließ, soll Gratschow fleißig mitverdient haben. Es hieß, er hätte seine Mitarbeiter angewiesen, Cholodow die Beine zu brechen und seinen Mund zu verschließen, weil der Informationen hatte, die er besser nicht gehabt haben sollte.« Absichtlich machte Sorokin eine kurze Pause. Er führte Fedor, der in diesem Moment schwieg, derweil weiter. »Gratschow führte die Russische Armee als Verteidigungsminister im ersten Tschetschenienkrieg – ziemlich unkompetent, wie die meisten Leute meinten. Doch war er ein Held der Sowjetunion. Er unterstützte Jelzin gegen den Oktoberputsch 1993. Er durfte zu Lebzeiten nicht bestraft werden. Im gleichen Jahr 1993 garantierte Russland dem nach Autonomie strebenden Georgien vor den Vereinten Nationen einen Waffenstillstand. Abchasische Freischärler brachen diesen Waffenstillstand, erstürmten die Stadt Sochumi, in der kaum noch georgische Truppen waren, jedoch viele zivile Georgier, die sich auf den Waffenstillstand verließen. Die angreifenden abchasischen Freischärler wurden definitiv von russischen Offizieren angeführt! Die Überlebenden haben es bezeugt.« Sorokins Stimme war etwas laut geworden. Zu laut für diesen Friedhof. Er unterbrach sich selbst.

 

»Was genau ist dort passiert?«, flüsterte Fedor.

»Abchasische Milizen und ihre Alliierten durchkämmten die Stadt und trieben alle Zivilisten zusammen, die sie fanden. Mehr als siebentausend Männer, Frauen und Kinder wurden ermordet, viele wurden vorher gefoltert, Frauen zu Tode vergewaltigt. Es hieß, sie haben erst die Kinder erschossen und erschlagen, deren Eltern zuschauen lassen, um auch sie anschließend zu ermorden. Überall lagen die Leichen: in Vorgärten, Läden und öffentlichen Einrichtungen. In den Krankenhäusern die toten Ärzte und Schwestern neben den abgeschlachteten Patienten. Auch in Höfen und Wohnungen. Selbst die demokratisch gewählten Führer der Georgier wurden niedergemetzelt. Sie nannten das eine ethnische Säuberungsaktion. Nie – wirklich absolut nie – wurde auch nur eine einzige dieser mordenden Bestien bestraft. Du musst bedenken, das fand nicht im Mittelalter statt, nein, es war 1993, am 27. September! – Dmitri Jurjewitsch berichtete jedenfalls detailliert über dieses und andere Massaker in Georgien und behauptete, Gratschow hätte das alles mitzuverantworten.« Sorokin holte tief Luft. »Wie dem auch sei, Gratschow starb im Jahr 2012, wurde vierundsechzig Jahre alt und mit allen erdenklichen Ehren beigesetzt.«

Lange lief der Junge neben seinem Vater, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Dann öffnete er erneut den Mund. »Als was hat Dmitri Jurjewitsch Cholodow denn gearbeitet? Er muss ja ziemlich viele Informationen gehabt haben, weil sie ihn ermordet haben.«

»Dmitri Jurjewitsch war Journalist der Zeitung Moskowski Komsomolez.« Sorokin blieb plötzlich stehen.

Fedors linke Hand hielt sich verkrampft an der Jacke des Vaters fest, der nun die Hand vorsichtig löste.

»Jedenfalls kann ich mir jetzt alles vorstellen«, flüsterte der Junge. Und einige Momente später fragte er deutlicher: »Sind wir da?«

»Ja, wir sind da. Hier ist das Grab von Jurij Jewstignejewitsch Wolkow. Er wurde dreißig Jahre alt und hatte nicht wesentlich mehr von seinem Leben als Cholodow. Er sah seine beiden Kinder nicht aufwachsen. – Warte, Fedor, da ist eine Erdvase für die Blumen. Es ist genügend Regenwasser drin. Soll ich oder willst du ...?«

Fedor reichte dem Vater die gelben Tulpen. Der wickelte den kleinen Strauß aus der Zeitung, hockte sich nieder und steckte ihn in die stark verwitterte Kunststoffvase. Dann erhob er sich, betrachtete einen Moment lang die zusammengeknüllte Zeitung in seiner Hand und daraufhin den einfachen Grabstein. »Du wirst es nicht glauben«, flüsterte Sorokin.

»Was werde ich nicht glauben?« Fedor starrte Löcher in die Luft.

»Die alte Blumenverkäuferin an der Metro, sie hat die Tulpen in eine Moskowski Komsomolez eingewickelt. Was für ein dummer Zufall ...« Sorokin blickte auf die Uhr und schaute sich um. »Komm mit, da drüben ist eine Bank, wir setzen uns ein bisschen.«

Es war kurz vor 14 Uhr. Samstags um diese Zeit waren Jekaterina Wolkowa und ihre beiden Kinder Anton und Natascha immer auf dem Friedhof gewesen. Und erst recht an einem schönen Apriltag wie diesem!

Schweigend saßen Vater und Sohn nebeneinander. Fedor lauschte dem Rauschen der Bäume, die bereits erste Knospen zeigten.

»Vielleicht hat sie ja doch geheiratet und ihren ersten Mann vergessen.« Fedor griff nach einer Hand des Vaters und hielt sie fest, als wollte er den Vater trösten. Innerlich verarbeitete er die neuen Informationen und wusste bereits, dass er demnächst im Internet nach dem Massaker von Sochumi suchen würde, um mehr darüber zu erfahren.

»Vielleicht.« Sorokin schaute den schnurgeraden Friedhofsweg hinunter. Ein älteres Mütterchen mit Kopftuch und Gießkanne tauchte auf, ging freundlich grüßend an beiden vorüber und verschwand zwischen den Grabstätten. Dicke Wolken begannen die Sonne einzuhüllen, der Wind frischte merklich auf.

»Was wirklich ist, wirst du nur herausfinden, wenn wir zu ihr fahren«, flüsterte Fedor. Vom Handy ließ er sich die Zeit ansagen: 14:34 Uhr.

»Wir werden sehen. Wir warten noch bis 15 Uhr. Okay?«

»Ist schon okay, Papa.« Fedor lauschte weiter. Er hörte und roch, dass der Vater sich eine Zigarette anzündete und von der Parkbank aufstand. Doch blieb er in unmittelbarer Nähe.

Wenige Minuten vor 15 Uhr schreckten beide auf. Sorokins Handy summte. Er nahm es aus der Hosentasche und fragte: »Da?«

Die Ohren des Jungen spitzten sich, er zog den Ohrhörer seines eigenen Handys aus dem Ohr.

Sorokin sprach schnell und mit russischen Worten. »Sascha? Hallo!«

Es war Sorokins Schulfreund Alexander Wladislawowitsch Komsomolzev, der in Moskau beim Inlandsgeheimdienst FSB arbeitete und von Sorokin bereits vor vier Tagen eine E-Mail mit der Ankündigung des geplanten Urlaubs und der Angabe der verfügbaren Handynummer erhalten hatte.

»Tolik! Schön, deine Stimme zu hören. Wir geht es dir und dem Jungen? Wie war der Flug?«

»Khorosho. Ja, der Flug verlief bestens.«

»Wo seid ihr im Moment? Ich dachte, wir könnten uns irgendwo treffen und einfach nur reden.«

»Jetzt? Wir sind draußen, auf dem Friedhof Trojekurowo. Wir haben Blumen am Grab von Jurij Jewstignejewitsch Wolkow niedergelegt.«

»Du hast gehofft, sie dort zu treffen?«

»Sie?«

»Du weißt schon, wen ich meine. Ist sie nicht aufgetaucht?«

»Nein, das ist sie nicht.«

»Das ist merkwürdig. Katie hat feste Regeln, die sie niemals bricht.« Mehr sagte Komsomolzev zu diesem Thema nicht. »19 Uhr zum Abendessen bei Piotr Mitrofanowitsch im Hotel? Ist das okay für euch?«

»Ich denke ja. Bis dann, Sascha.« Sorokin packte sein Handy weg. »Ist der Abend also auch verplant.« Während er noch wartete, ging Fedor langsam und vorsichtig zum Grabstein Wolkows, kniete sich nieder und erfühlte die Schrift auf dem Stein. Er sagte kein Sterbenswörtchen, zehn Minuten lang.

»Komm, Fedor, wir gehen!«, rief Sorokin plötzlich.

*

Der Junge erinnerte sich bestens an diesen Weg von der Metro-Station Tushinskaya zur Wohnung von Jekaterina Ruslanowna Wolkowa und ihren beiden Kindern. Er hörte den üblichen Moskauer Verkehr. Fedor klickte häufig und unablässig produzierte sein Gehirn Bilder aus den Klicksonar-Echoreizen. Den Langstock hatte er nicht dabei, der lag im Hotel am Fili-Park auf seinem Bett. Trotzdem lief er geschickt um einen mobilen Händler herum, simulierte gar einen Blick auf die ausgestellten Waren und lauschte den vielen verschiedenen Stimmen. An der Hand des schweigsamen Vaters lief er rasch über eine breite Straße, achtete darauf, nicht über die Bordsteinkante zu stolpern, die an dieser Stelle so hoch war, dass er sie mit dem Sonar deutlich identifizieren konnte, ebenso das schräg stehende Straßenschild unmittelbar dahinter. Noch einmal mussten sie abbiegen, um die Straße zu verlassen und zwischen Hecken und Büschen auf einem Stolperweg aus kaputten Betonplatten parallel zu dem großen Wohngebäude zu laufen, woraufhin sie schließlich den richtigen Hauseingang erreichten. Zum Glück war Sorokin so groß gewachsen, dass es nicht ganz so befremdlich wirkte, dass sein vierzehnjähriger Sohn noch an der Hand lief. Einige Leute betrachteten die beiden trotzdem skeptisch.

Kurz vor dem Stolperweg verringerte Fedor die Länge seiner Schritte und hielt die Hand des Vaters zurück, so dass der automatisch langsamer lief und schließlich stehen blieb. Sorokin schwieg noch immer. Er wusste, dass sein Sohn lauschte. Angesichts der Tatsache, dass Fedor darauf erpicht war, Jekaterina endlich wiederzusehen, musste ein wichtiger Grund vorliegen, dass der Junge innehielt.