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»Bleib unten!« Juli kam durchs Gras gekrochen, direkt auf den wesentlich kleineren Simo zu, der wie ein Häschen die Waffe in den Händen hielt, die durch den Pelz wie Pfoten aussahen. »Niemand darf wissen, dass wir miteinander sprechen.« Juli hockte dicht neben Simo, schob das EPV hoch und zog die Pelzkapuze vom Kopf. »Schau dir meinen Hals an!«, forderte er und zeigte auf eine Stelle hinter dem rechten Ohr.

Simo schaute hin. »Anschaue nichts.«

»Sieh genau hin. Ich meine den kleinen Fleck.«

»Leberfleck meinst? Was Besondres ist’s? Unverkennbar, seh ihn.«

»Was Besonderes?«, fragte Juli vorwurfsvoll. »Macula hepatica! Die ganzen Educares springen doch ständig nackt vor dir rum. Hast du jemals auf deren Haut auch nur einen Leberfleck gesehen? Oder etwa irgendeine andere Pigmentstörung?«

»Weißes nicht.« Mit der Pelzpfote berührte Simo Julis Hals. »Schau runzellose Retortenschisse nicht gern häufig an.«

»Nein, Kleiner, du wirst bei ihnen nie einen finden. Weil sie nämlich keine haben. Die Educares werden aus gereinigten Biomolekülen gezüchtet. Ihre Erbinformation ist nicht verschmutzt. Sie werden außerdem kaum krank. Und die Züchter werden immer besser. Wenn du also wissen willst, ob einer der Spunde ein Räudiger ist, dann schau dir nicht nur seinen Schwanz, sondern vor allem seine Haut an.«

Argwöhnisch zog Simo die Hand zurück. »Scheiß erzählst! Du groß und Muskeln wie Educares! Hast aber ’nen Schwanz. Räudiger ist, was ein ordentlichen Tierschwanz besitzt, kein Bürzel. Und zwei Eier. Egal mir die Leberfleck sind. Was bist wirklich?« Simo richtete die Waffe auf Juli – entsichert und schussbereit.

Der große Junge betrachtete den kleinen mitleidig. »Meinen Schwanz hast du also entdeckt, obwohl du dir die Educares angeblich nie richtig anschaust? Du glaubst mir wohl nicht, Simo? Das enttäuscht mich sehr. Ich dachte, wir könnten Freunde sein, so wie Paul dein Freund ist.«

»Paul? Freund?«, rief Simo entrüstet, fast etwas zu laut, und erhob sich. »Paul nicht Freund, nur auch Räudiger. Du aber nie Räudiger! Schwatzt zu gut. Was bist wirklich?«

Juli taumelte rückwärts, ließ sich plötzlich ins hohe Gras fallen, als wollte er sich Simo gänzlich unterwerfen. »Natürlich ist Paul dein Freund! Warum behauptest du so etwas? Du bist nicht besser als die Demokraten! Du siehst alles nur schwarz und weiß! Du siehst nur Gut und Böse! So wirst du niemals richtige Freunde finden!«

»Hab richtig Freund g’habt!«, brüllte Simo und Tränen schossen aus seinen Augen. Da war es schon wieder. Verdammtes Geheul! Warum blieb das verfluchte Tränenwasser nicht in seinem Kopf? »Hab scharenweise Freunde g’habt!«, klagte er.

»Und wo sind sie, deine angeblichen Freunde?«

»Haben’s g’glättet! So welche wie du haben’s g’glättet!« Simo drückte auf den Knopf der Waffe. Sie lud sich und feuerte gleich zweimal. Auf den Boden gepresst lag Juli da, direkt neben seinem Kopf roch es nach verbranntem Gras. Jetzt ließ Simo die Waffe fallen und rannte einfach davon.

»Warte doch, Simo!«, rief Juli, erhob sich und ergriff die Waffe. »Bitte, Simo, so warte doch!«

Doch Simo lief unaufhaltsam davon. Er atmete tief ein und aus, sprang und rannte, kletterte und sprang wieder. Seine Tränen trocknete der Wind. Immer weiter, immer weiter! Kein Sterblicher hätte ihm folgen können, so hoch hielt er die Geschwindigkeit, balancierte über Abgründe, erklomm glatte Felswände. Und obwohl die Kräfte irgendwann nachließen, rannte er noch schneller, als gehörten seine Beine einem anderen.

*

Simo hetzte durch das Unterholz, gelangte an das Ufer des großen Boddens, der nach dem Beben, lange Zeit vor Simos Geburt, entstanden war. Er hörte noch immer den Klang der Trompete, die eine aus nur einer Oktave bestehende Melodie spielte.

»Papa! Mama!«, brüllte der Fünfjährige und hörte von überall die lauten Motorengeräusche, Schreie und peitschende Salven. »Lene, Lina, Lena!«

Der Unterschlupf in seinem Dorf am Bodden wurde angegriffen! Der Winzling in den abgewetzten Kleidern, die ihm Mama zusammengenäht hatte, stürzte in einen Graben, rappelte sich auf und kroch auf der anderen Seite wieder hinauf. Er flitzte quer durch ein Feld, das die erwachsenen Männer bestellt hatten, auf dem Weizen für Brot wuchs, rannte den Feldweg hinunter, auf dem er unzählige Male an der Hand des Vaters zur Schmiede gelaufen war, in der Papa Werkzeuge herstellte, näherte sich dem Dorf und erblickte die riesigen Transporter mit den EDR-Symbolen, die der von Vater und Mutter verhassten Europäisch Demokratischen Republik gehörten. Der Junge schlüpfte durch eine schmale Öffnung zwischen zwei Katen, kletterte geschwind wie eine Ratte über eine Leiter auf den Schuppen und robbte bis zur vorderen Dachrinne. Von dort aus konnte er den großen Hof und einen Abschnitt der angrenzenden Dorfstraße sehen.

Die Angreifer trugen graue Uniformen, Helme und Handfeuerwaffen. Sie waren alle noch sehr jung, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Rabiat drangen sie in die Häuser ein, brüllten »Rauskommen!«, schlugen Scheiben ein und schossen wie zum Spaß auf die freilaufenden Tiere – Hühner und Gänse, von denen die Familien leben mussten. Auf der Straße lagen Tote aus Simos Dorf, auch Kinder waren darunter. Die kleinsten Jungen wurden wie Vieh zusammengetrieben und von EDR-Soldaten mit Schlägen traktiert.

Jetzt kamen mindestens dreißig von ihnen auf seinen Hof! Simo rutschte ein Stück zurück, um nicht gesehen zu werden, hörte sie aber alle durcheinanderbrüllen.

»Raus mit euch, ihr peinlichen Abtrünnigen! Rattenschisse, verfluchte! Sonst brennen wir das Haus ab!«

Einige Soldaten zerschlugen die Fenster, fünf drangen ins Haus ein, zehn weitere in die Nebengelasse. Simo hörte die Schüsse ihrer Waffen. Dann sah er die dreijährigen Zwillingsschwestern Lina und Lena, die von zwei Soldaten an ihren schönen, blonden, langen Haaren aus der Scheune gezerrt wurden. Bestimmt hatten sie sich zuvor im Stroh versteckt.

Einer schlug erst Lina, dann Lena die Beine weg, sodass die Mädchen in den Dreck stürzten und vor lauter Angst schrien.

Ein anderer, noch jüngerer Soldat, näherte sich, klappte das Visier seines Helms hoch und brüllte: »Los, 17, du darfst die wertlosen Weiber glätten!« Dann lachte er. »Was ist, 17, verpisster Spritzpimmel, glättest wohl nicht deinesgleichen?«

»Glätt’s doch du, haarloser Retortenbürzel!«, rief der Soldat mit der Nummer 17 und rannte wütend vom Hof. Der Jüngere legte die Waffe an, schoss zweimal auf Simos Schwestern, deren Leiber daraufhin zuckten, um dann regungslos liegen zu bleiben, während sich ihre Kleider an manchen Stellen rot färbten. Eine halbe Sekunde später wurden die beiden Körper von inneren Explosionen zerrissen.

Papa kam aus dem Haus gerannt, schlug mit einer Axt wild um sich, ohne jedoch einen der Kindsoldaten zu treffen, und flehte. Noch bevor er seine toten Zwillinge erreichen konnte, wurde er von unzähligen Schüssen getroffen. Sein Körper wurde regelrecht zerrissen.

Ein heiserer Schrei ertönte. Simo weinte nicht. Er brüllte nur.

Die EDR-Soldaten entdeckten den Fünfjährigen auf dem Schuppendach, gleich vier von ihnen erklommen das Gebäude.

Blitzschnell wie der Wind sprang Simo auf der anderen Seite vom Dach, landete auf einem Strohballen, rannte an der Rückseite des Hauses entlang und schlüpfte durch die Hintertür zur Küche. Erschüttert blieb er stehen. Er sah Mama auf dem Küchenstuhl schlafen, Lene, das vier Monate alte Schwesterchen der Zwillinge, an die Brust gequetscht. Aus einem großen Loch in Mamas Unterleib hingen Gedärme, aus Lenes Hinterkopf tropfte Blut auf Mamas Schürze.

In diesem Moment ergriffen kräftige Hände den kleinen Simo, der kurz darauf in einem geschlossenen Fahrzeug der EDR-Soldaten verschleppt wurde. In einem schwankenden Käfig zwischen all den anderen kleinen Jungen kniend fand sich Simo wieder. Er hatte aufgehört zu brüllen. Es fröstelte ihn und sein schmächtiger Körper zitterte. Innerhalb weniger Minuten hatten sie ihm alles genommen. Jeden seiner Freunde.

*

Simo schaute auf die zitternden Spitzen seiner Finger. Er hatte Pelz und Shortshirts bis zur Hüfte abgestreift, lag auf dem Rücken unter einem uralten Baum und wischte das grauenvolle Bild von Mama und Lene aus den Gedanken.

Als er das Ziel erreicht hatte, war seine Güte bis auf 84 gestiegen – so hoch wie noch nie. Er war schneller gerannt als jedes Tier! Nun musste er wieder zurücklaufen und sich bei 01-Spundgruppenführer-Elia melden. War noch Ausbildungszeit übrig, würde er zum Kampf-, Kraft- oder Ausdauersport geschickt werden. Dazu hatte der kleine Junge keine Lust. Viel lieber lag er unter diesem Baum.

Im Himmel, weit über seinem Kopf, sah Simo plötzlich einen schwarzen Punkt, der sich stetig im Kreis bewegte und mit jeder Bewegung näherkam.

Es war ein seltener Vogel, so groß, wie Simo noch nie einen gesehen hatte, und er gab schreiende Laute von sich.

»Hiob! Hiob!«, rief der Steinadler. Und nach einigen Sekunden erneut: »Hiob! Hiob!«

Blitzschnell stand Simo auf den Füßen, legte die Hände zu einem Trichter an den Mund und rief mit hoher Stimme »Hiob! Hiob! Hiob!« hinauf, als wäre dieser Vogel am Himmel sein Vater.

Der Adler flog auf eine Felswand zu und landete geschickt in einem großen Horst, den Simo kaum erkennen konnte, weil er in einer Felsspalte versteckt gebaut war.

Nach dieser Begegnung legte sich der Junge wieder auf den Rücken und schloss die Augen. Obwohl er nicht das geringste Geräusch gehört hatte, blickte er in ein Gesicht unmittelbar über dem seinen, als er Minuten später die Augen wieder öffnete. Das war Juli, der sich ebenso wie er den Pelz vom Kopf gezogen hatte.

 

»Es tut mir leid, Simo. Ich wollte dich nicht beleidigen. Mit meinen Worten wollte ich dir auch nicht wehtun. Ich wollte dir anbieten, mein Freund zu sein. Nichts anderes habe ich vorgehabt. Sag mir, was daran schlimm sein könnte!«

Simo spürte Julis Atem im Gesicht. Der musste auch sehr schnell gerannt sein, doch Simo merkte es ihm ansonsten kaum an.

»Was bist wirklich, Juli?«, flüsterte der Kleine.

Juli pustete Simo leicht ins Gesicht. »Kein Educares und kein Räudiger«, hauchte er.

»Sag was bist, nicht was nicht bist.«

Noch zögerte Juli. »Du wirst es wirklich niemandem erzählen?«

»Hab Vogel g’sehn. So autonom er.« Der Kleine blinzelte und Juli über ihm musste wegen des Wortes »autonom« statt »allein« unweigerlich grinsen.

»Autonom?«

Simo blieb todernst. »Soll Freund von dir, doch vertraust nicht«, sagte Simo und pustete zurück. »Drum schweig besser.«

Statt zu schweigen fragte Juli: »Wie kann nur ein so kleiner Junge, wie du einer bist, ewig und immer ernst und störrisch sein? Los, lach gefälligst, Simo!« Er griff dem Kleinen an die unterste Rippe und kitzelte ihn kräftig durch. »So oft habe ich dich weinen sehen, nun zeig mir, dass du auch lachen kannst!«

Mit dem ganzen Körper zuckte Simo und wand sich auf dem weichen Boden. Doch er lachte nicht.

Juli stach ihm mit den Fingern in die Seiten. »Lach endlich, du kleiner, verpisster Heulkotz! Los, lach!« Aus fünf Zentimetern Entfernung sah er wieder in Simos Gesicht. Doch Simo lachte nicht. Simo weinte. Das Heulwasser stand ihm regelrecht in den Aughöhlen.

Resignierend ließ sich Juli neben Simo fallen, drehte sich auf den Rücken und schaute ebenfalls in den Himmel.

»Warum weinst du gerade jetzt, Simo? Ich habe dich zum Spaß durchgekitzelt«, flüsterte er zwei Minuten später. »Warum lachst du dabei nicht? Jeder andere würde sich totlachen.«

»Hab Freunde g’habt!«, sagte Simo. »Papa und Mama. Hab’s aber Namen vergessen. Weiß noch von drei Kleinen. Lene, Lina, Lena. Lene, Lina, Lena. Lene, Lina, Lena.

Lene, Lina, Lena …« Wiederholt nannte Simo die Namen seinen kleinen Schwestern, bis er innehielt. »Sag’s immer wieder für mich, damit’s nicht auch vergess. Lene, Lina, Lena. Haben’s g’glättet, wehrlose Kleinen. Auch Papa. Auch Mama. Haben’s g’macht, die Spunde, die ausschau’n wie ich. Wie du. Paul ist Gefährte mir. Begleiter, Kamerad, Bruder. Paul kein Freund nicht. Ist Paul nicht Spund noch, dann möglich Paul Freund von Simo.«

»Wenn Paul so etwas wie dein Bruder ist, dann ist er mit ziemlich großer Sicherheit auch dein Freund«, widersprach Juli. »Nachts, wenn Paul die Shortshirts nicht anhat, ist er dann noch ein Spund? Oder ist er dann ein Junge? Ist Paul nachts dein Freund? Wenn am Himmel ein Gewitter aufzieht, ist der Himmel dann ein Gewitter oder immer noch der Himmel?«

Der Kleine blickte hinauf in den Himmel. Eine Weile dachte er über Julis Worte nach, sprach jedoch nicht.

»Ich will dir was sagen, Simo: Paul ist dein Freund, auch wenn du ihn als Spund siehst.«

Sekunden vergingen.

»Meinst?«, flüsterte Simo schließlich.

»Ganz sicher.«

Beide schwiegen und sahen hinauf in die Krone des riesigen alten Baumes, der einhundertzwanzig Kriegsjahre überstanden hatte.

»Vertraust mir?«, fragte Simo schließlich. »Hast vor 14-Spund-Thom schon was erlegt? Vertraust mir und sprichst nicht, was bist?«

Juli musste die Worte erst sortieren. »Ich habe noch nie jemanden getötet, Simo. Das mit Thom war ein Unfall. Und er passierte, weil ich dir das Leben retten wollte. Ich bin kein Räudiger. Ich kann keiner sein, weil ich – ebenso wie mein Familie – nie abtrünnig war. Ich bin kein Educares, weil ich aus dem Leib meiner Mutter schlüpfte. Ich bin ein Mensch, verstehst du? Nur ein stinknormaler Mensch!«

Simo hob den Oberkörper an, drehte sich und kniete plötzlich über Juli. Er drückte die Arme des deutlich stärkeren Jungen an den Handgelenken auf den Boden. »’s deucht, du erdichtest was.« Er stemmte Juli die Knie in die Seiten. »Elender Fabulant! Das gibt nur Weibsbürzel und Tierschwänze. Was sonst?«

»Es gibt noch wesentlich mehr als das, was in deinem kleinen Dickschädel ist, Simo. Sag, kennst du die Kuppelstädte?«

»Die Schneekugler?«

Der Große lachte, als machte er sich über den Kleinen lustig. »Es hat noch nie in einer der Kuppelstädte geschneit, das kann ich mit Sicherheit behaupten. Ihr Räudiger mit eurer verwunderlichen Sprache!« Juli ließ Simo gewähren und warf ihn nicht von sich herunter. »Von mir aus: Kennst du die Schneekugelstädte? Eine davon heißt Neuparis. Sie haben jede Kuppelstadt nach einer im Krieg zerstörten Großstadt Europas benannt. Die Städte unter den Kuppeln haben eigenes Wetter, eigene Luft, eigene Gesetze und eigene Menschen. Für die Demokraten sind nur die Kugelstädte die Republik. Die Menschen dort wurden ausgewählt, mussten sich zur Europäisch Demokratischen Republik bekennen und haben für sie zu arbeiten. Alle Staatseigenen sind gechippt. Sie erhalten Waren und Lebensmittel für ihren Bedarf zugeteilt und dürfen Familien gründen. Ein Paar darf zwei Kinder haben, doch die Geschlechter der Nachkommen werden nach einem statistischen Verfahren bestimmt. Ein Fötus, der nicht …«

»Was ist Fötus?«, unterbrach Simo, ohne den Griff um Julis Handgelenke zu lockern.

»Das ist das Kind im Mutterleib, das ungeborene aber bereits existierende, wachsende und fühlende Kind. Ein Fötus, der nicht der Geschlechterstatistik der Oberen entsprach, wurde abgetötet. Ich wurde in der Kuppelstadt Neuparis geboren, Simo. Mein Vater musste Staatseigener sein und meine Mutter auch. Mutter hat mich heimlich zur Welt gebracht, hat mich vor den Statistikern versteckt. Sie wollte einen Sohn und durfte nur zwei Töchter gebären. Also versteckte sie mich. Eine Kuppelstadt kann man nur zu einer anderen Kuppelstadt verlassen. Über die Röhrenbahn. Nie aber kommt jemand ohne den entsprechenden Chipeintrag hinein oder heraus. Verstehst du? Einmal in der Kuppelstadt, wirst du immer dort gefangen sein, es sei denn, die haben dich für Arbeiten in äußeren Fabriken oder auf den Feldern eingeplant.«

»Du aber hier? Wie geht’s?«

»Als ich sieben Jahre alt war, haben sie mich entdeckt. Mutter wurde bestraft und ich in ein Haus der Oberen gebracht. Sie wollten mich töten, doch ein Privilegierter Beamter schickte mich hierher. Ich wurde bei vollem Bewusstsein gechippt, wie ein Räudiger. Und weil sie sich unschlüssig waren, haben sie mich als Educares deklariert. Für mich gibt es nämlich keine eindeutige Definition. Ich bin ein Städter. Doch die gehören in die Kuppelstadt und nicht hierher. – Verstehst du mich jetzt?«

Simo schaute in Julis Gesicht. »Ist schön dort in Schneekugel?«, fragte er, ohne Julis Frage zu beantworten.

»Nein«, antwortete der Große unbeherrscht laut. »Das versuch ich dir doch die ganze Zeit zu erklären. Dort ist es nicht besser als in der Rottenschule. Die Kuppelstädte sind riesige Gefängnisse mit vielen Sklaven und wenigen Herrschern. Es gibt da nur zwei Sorten Menschen: Staatseigene und Privilegierte Beamte. Staatseigene schuften und Privilegierte Beamte genießen, weil sie von manipulierten Spundrotten geschützt werden. Wer sich wehrt, wird ohne Pardon ermordet.« Nach einer kurzen Pause meinte Juli noch: »Dort, wo du gelebt hast, war es mit Sicherheit am besten.«

»Meinst als Abtrünniger? Bist albern.«

»Ich meine dich, als freien Menschen, Simo. Kapier es doch: Bis sie dich verschleppt haben, warst du ein völlig freier Mensch. Die Bezeichnung ›Abtrünniger‹ haben Die Zehn erfunden, die mächtigsten Zehn in Europa.«

Lange schaute Simo schweigend in Julis Augen. Dann fragte er: »Warum macht alles kaputt, was am besten?«

»Weil es den Menschen eigen ist, immer wieder alles Gute zu zerstören. Die Menschheit benötigt nicht den Angriff irgendwelcher Außerirdischer, Simo, wie es in manchen alten Lettersammlungen geschrieben steht. Ich habe viele davon gelesen. Die Menschheit hat es ganz gut drauf, sich selbst zu vernichten. Es ist die Gier des Menschen nach Bedeutung, Macht und Reichtum. Und diese Gier wurde in weiter Vergangenheit aus dem einfachsten Überlebensinstinkt geboren. Sie hat sich erst mit der Menschwerdung entwickelt.« Juli flüsterte. »Kein einziges Tier wird jemals so dumm sein wie ein Mensch. Intelligent sind nur die Tiere und Pflanzen.«

»Womöglich ich Tier oder Pflanze?« Simos rhetorische Frage war äußerst ernst gemeint.

Doch Juli lachte darüber. »Du? Ein Tier? Nein, Simo. Auch du bist ein Mensch. Und ganz bestimmt wird die Dummheit sich eines Tages auch bei dir einstellen. Ganz sicher.« Eine Sekunde zögerte Juli, dann fragte er erneut: »Was ist nun, Simo? Du schuldest mir noch eine Antwort. Wollen wir Freunde sein?«

Eine Antwort gab Simo dem großen Jungen nicht. Stattdessen fragte er: »Hat’s Schlange ’nen Chip?«

»Ja«, sagte Juli.

»Weißt’s?«

Der Große blickte starr in die Augen des Kleinen. »Woher ich das weiß?«

Simo nickte.

»Sie sagte es mir. Und ich habe die Narbe gefühlt.« Die Augen Simos weiteten sich.

»G’fühlt? Wie?«

»Ich darf dir nicht alles erzählen. Ich weiß, dass der Chip da ist. Ich weiß, dass Domina Hero einen Zugriff darauf hat. Die Schlange ist ein Sklave Der Zehn.« Erneut flüsterte er: »Wie auch wir Sklaven Der Zehn sind.«

Noch immer hielt der Kleine die Handgelenke fest. In seinem Kopf arbeiteten die Gedanken, entstanden neue Fragen. Doch Simo fragte nicht.

Stattdessen ergriff Juli noch einmal das Wort: »Was nun, Simo? Wollen wir Freunde sein? Vielleicht darf ich dir dann mehr erzählen. Vielleicht bist du dann bereit dazu, ein wenig mehr von der Wahrheit zu erfahren.«

Simo zögerte kurz, kletterte schließlich von Juli herunter und zog sich rasch den Pelz über Oberkörper und Kopf. »Muss eilen zu 01-Spundgruppenführer-Elia.«

Auch Juli erhob sich, rieb sich die Handgelenke und klopfte Laub und Dreck aus seinem Pelz. »Du hast dich nie dafür bedankt, dass ich dir dein Leben gerettet habe.« Das war mit Sicherheit keine Frage.

Simo antwortete auch darauf nicht, sondern rannte unvermittelt los.

Juli hatte große Mühe, dem Kleinen zu folgen. An einem Hang sah er Simo zweihundert Schritte vor sich.

Der stand breitbeinig da, zu ihm gewandt, und rief: »Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod! Du aber, dummer Spritzpimmel, bracht’s mich zurück ins Eiskaltland! Und willst wohl jetzt noch Dank dazu?«

»Verdammt noch mal, du winziger klugscheißender Hosenfurz! Es gibt nichts Wertvolleres als das Leben, Simo! Kannst du das nicht kapieren oder willst du es einfach nicht?«, schrie Juli dem Kleinen nach, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und weiter den Hang erklomm. »Jetzt warte doch!«

Juli hetzte sich ab, doch er erreichte Simo bei diesem Test nicht mehr. Der kleine quirlige Kerl war einfach schneller und überquerte lange vor ihm einen umgestürzten Baum, der über einen tiefen Abgrund führte.

Juli folgte ihm, vorsichtig balancierend, und kletterte auf der anderen Seite eine äußerst steile Wand hinauf, die nur wenig Halt bot. Kurz bevor er das Plateau erreichte, bröselte ein Vorsprung unter seinem linken Fuß weg. Der Zwölfjährige verlor den Halt, krallte sich an einem Vorsprung fest und ruderte auf der Suche nach einem erneuten Halt heftig mit den Beinen. »Simo!«, brüllte er. »Simo, ich stürze ab! Hilf mir, Simo!« Seine Bewegungen wurden hektischer, als er bemerkte, dass der Pelz ihn daran hinderte, den Absturz mit den Händen zu verhindern. Der sichere Tod war nah. »Simo, komm zurück! Bitte!«, flehte Juli mit schwindender Kraft. »Bitte, Simo!«

In jenem letzten Moment des Halts griffen zwei Hände von oben zu und zerrten Juli mit kräftigem Schwung hinauf auf das Plateau. Übel gelaunt und um Atemluft ringend lag der Junge da und schaute hinauf in die geschminkten Augen der Rottenführerin Python, die in ihrer schwarzen, glänzenden Uniform mit den leuchtend weißen Streifen breitbeinig über Juli stand.

»Gut gemacht«, sagte die. »Doch pass besser auf dich auf. Denn tot wirst du der Sache herzlich wenig nützlich sein.« Daraufhin wandte sich die kolossal wirkende Frau ab und lief mit ruhigen Schritten über das moosige Felsgestein davon.

Juli lag am Rande des Abgrunds, blickte in den blauen Himmel und zögerte damit aufzustehen.

»Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod!«, hörte er Simos hohe Stimme rufen. Wie schlimm stand es um die Welt, wenn ein kleiner Kerl, wie Simo einer war, den Tod dem Leben vorzuziehen gedachte? Es wurde höchste Zeit, den Kleinen aus dem tiefen Wasser zu ziehen und ins Boot zu hieven. Höchste Zeit!