2136

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Ausgerechnet während des ohnehin brisanten Zustandes kam es zu einer weiteren Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Ursache waren extrem starke Bewegungen der tektonischen Platten in der Lithosphäre, die in der Umgebung von Japan aufeinandertrafen. Die stärksten Erdbeben seit Menschengedenken ließen fast alle japanischen Inseln im Meer verschwinden. Tsunami und steigende Wasserstände überschwemmten große Teile Asiens und Nordamerikas und veränderten das Weltklima nachhaltig, denn die Temperaturen sanken überraschend schnell. Opferzahlen konnten nicht genannt werden. Ein paar verbliebene Wissenschaftler verzeichneten jedoch insgesamt eine leichte Erholung der Erde. Häufigkeit und Stärke von Unwetterkatastrophen nahmen ab, das Poleis wieder zu, was an den rückgängigen Bevölkerungszahlen und dem Niedergang der Industrie gelegen haben durfte.

Dieser Fakt hielt die Regierungen der verbliebenen Völker jedoch keineswegs davon ab, den Dritten Weltkrieg nach einer durch die Natur aufgezwungenen Erholungspause fortzusetzen.

Ein perfider Plan des Großkalifen ließ mehrere Tausend zivile Flugzeuge gleichzeitig gen Norden starten – vollgepackt mit einer Fracht aus Bomben, Granaten und chemischen Kampfmitteln. Die Selbstmordbesatzungen leisteten ganze Arbeit, mehr als 70 Prozent von ihnen durchdrangen die löchrige Luftabwehrlinie des Nordens. Erstaunlicherweise hatte es die Morgenlandarmee diesmal auf zivile und industrielle Einrichtungen abgesehen. Mit perfider Genauigkeit wurden Kraftwerke – darunter auch Atomkraftwerke – sowie große industrielle und militärische Anlagen vernichtet. Kurz darauf übernahm die Morgenlandarmee den kompletten südamerikanischen Kontinent. Die meisten dortigen Regenten ergaben sich der Übermacht. Es waren kaum Kampfhandlungen zu verzeichnen, und doch starben von den 400 Millionen Menschen fast 80 Prozent in Vernichtungsfabriken des Großkalifats.

Da große Truppenteile der MLA nicht zugegen waren, erfolgte die taktisch klug getimte »Operation Sturmfeuer« der Europäer, in der das Wort »schlachten« Einzug hielt und schon bald gesellschaftsfähig wurde. Sturmfeuer fegte über Russland, Nordafrika und den Nahen Osten hinweg, schlachtete unzählige Zivilisten ab und geriet schließlich in den Kessel von Ar Riyad, wo die europäischen Truppen durch die eintreffenden Truppen der MLA praktisch komplett aufgerieben wurden. Nach Anweisung des Großkalifen durften keine Gefangenen gemacht werden. Nicht ein einziger europäischer Soldat kam zurück. Die meisten russischen Städte galten als zerstört und unbewohnbar.

Die Demografen prognostizierten, dass zur Jahrhundertwende auf der Erde nur noch 1,1 Milliarden Menschen leben würden, und deren Zahl sank stetig. Zu Beginn des Krieges waren es noch 8,2 Milliarden gewesen. Der Superkrebs, hervorgerufen durch nukleare und chemische Verseuchung, hatte ganze Volksgruppen dahingerafft. Da ein Satellit nach dem anderen zu Weltraumschrott wurde oder in der Atmosphäre verglühte, versagten auch die elektronischen Medien. Das Internet brach komplett zusammen, ebenso verschwanden die mobilen Verbindungsgeräte und mangels Treibstoff auch die meisten Flugzeuge, Pkws und Lkws. Sie verrotteten und verrosteten oder ihre Substanzen wurden zu Handfeuerwaffen verarbeitet. Die meisten Städte wurden unbewohnbar.

Eine geheime Konferenz in Europa folgte, bei der sich fast alle anwesenden Vertreter für die Gründung der Europäisch Demokratischen Republik aussprachen. Klare Grenzen wurden festgelegt und man entwarf Pläne zur Befestigung und Verteidigung. Zudem sollten wissenschaftliche Ressourcen in die Erbforschung und in die körperexterne künstliche Befruchtung umgelenkt werden. Standorte für neue Großstädte wurden festgelegt, die durch ein Tunnelsystem miteinander verbunden werden sollten. Die neuen Städte wurden durch gigantische Kuppeln aus meterdickem Panzerglas geschützt und konnten jeweils eine Millionen Menschen aufnehmen. Viele Jahre später existierten zwölf solcher Städte. In der Kuppelstadt mit dem Namen »Neuberlin« entstand das neue Machtzentrum »Noviregnum«, der Sitz Der Zehn, einer neuen Regierung der Europäischen Demokraten.

Jahre später waren die Armeen auf beiden Seiten auf wenige Frauen und Kinder geschrumpft und man begann damit, immer jüngere Fußsoldaten an die Fronten zu schicken.

Jenseits der Städte lebten die Abtrünnigen. Zur klaren Unterscheidung entwickelte man das Chipsystem, das zunächst zur Überwachung der Retortenkinder genutzt wurde, wobei ausschließlich männliche Kinder erzeugt wurden, die man »Educares« nannte und für Kriegshandlungen einzusetzen gedachte.

Der Krieg spielte sich nun, da es fast keine großen Waffensysteme mehr gab und diese auch offiziell nach den Gesetzen Der Zehn nicht mehr produziert werden durften, entlang der Demarkationslinie zwischen EDR und IML ab. Hin und wieder kam es zu kleineren Schlachten, sodass der Krieg ganz offiziell noch weitergeführt wurde. Die meisten Kuppelmenschen lebten im Raum zwischen dem ehemaligen Moskau und dem ehemaligen Warschau, in dem die europäischen Kuppelstädte kreisförmig angeordnet waren. Alle alten Städte Europas wurden aufgegeben und zu Sperrgebieten erklärt. In Nordamerika, Australien und weiten Teilen Asiens existierte kein menschliches Leben mehr.

Entlang der großen Gebirge wurden die wichtigsten Stellungen gebaut und das Rottensystem eingeführt, dem die meisten Educares zugeführt wurden. Diese Kindersoldaten nannte man »Spunde«, die Befehlsgewalt oblag einer Rottenmarschallin, die zu Den Zehn gehörte. Die Rottenquartiere mit bis zu jeweils zweitausend Spunden nahmen zahlenmäßig rasch zu und wurden entlang der Pyrenäen, Alpen, Apenninen, dem Balkan und dem Uralgebirge in alten und neuen Höhlensystemen aufgebaut.

Geheime Pläne der Parlamentarier bereiteten bereits einen Großangriff auf die natürlichen Ressourcen der Morgenländler vor, der erst in dem Moment gestartet werden sollte, wenn die Vielzahl der Spunde ein kampffähiges Alter erreicht haben würde.

Auch auf natürlichem Wege kamen sowohl in den Kuppelstädten als auch bei den Abtrünnigen Kinder zur Welt, wobei dort die Anzahl der Mädchen deutlich überwog.

Ältere Spunde wurden an die Brennpunkte der Demarkationslinie verlegt oder zum Schutz der Kuppelstädte vor den Abtrünnigen eingesetzt. Andere Spunde übernahmen die Treibjagden auf Abtrünnige. Anfänglich waren viele der erwachsenen Abtrünnigen, die aufgegriffen wurden, durch die Strahlung verseucht und die meisten Kinder verkrüppelt. All jene wurden sofort geglättet.

Später gab es die Anweisung, dass aufgegriffene Jungen unter acht Jahren – man bezeichnete diese als Räudiger –, die nachweislich gesund und kampffähig waren, gechippt und der Spundausbildung in den Rotten zugeführt werden sollten, wobei die Parlamentarier stets dafür Sorge trugen, dass die Räudiger ihrer Herkunft nach wie Sklaven zu behandeln waren. Daraus entwickelte sich ein allgemeines Gefühl von Hass zwischen Educares und Räudigern.

Auf einer großen, unverseuchten Halbinsel im Norden Europas, die den Namen »Schiereiland« erhielt und durch die Japankatastrophe entstanden war, schuf man die bedeutsamen Produktionszentren der EDR, darunter auch die Educares-Kultur – die Zuchtstation für Spunde – und die Beutemast, in der gefangene Räudiger aufgezogen wurden.

Im Jahr 2136 befand sich die Menschheit bereits im hundertzwanzigsten Kriegsjahr des Dritten Weltkrieges.

Juli, ein Educares?

Passus 2

Das ausschließliche Bestimmungsrecht über alle Belange der EDR liegt bei Den Zehn – den Demokraten –, wobei jeder Der Zehn für sich selbst einen Nachämter festsetzt.

Im Gleichschritt marschierten sie fast lautlos zum Terminal. Der dünne Stoff unter ihren Füßen war keineswegs mit einer festen Ledersohle zu vergleichen. Jedes Steinchen bohrte sich in die geschundenen Füße der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia lief links vorn neben der ersten Linie, das Kinn leicht angehoben, die rechte Hand schwingend, die linke am GMG. Er schnalzte im Takt der Schritte und alle richteten sich danach.

Sie marschierten in Linien zu je sechs Spunden. Eine solche Linie wurde militärisch mit »Zweig« bezeichnet. Elia gehörte keinem Zweig direkt an. Der Führer eines Zweiges, der immer links in der Linie zu laufen hatte, bekleidete den Dienstgrad »Spundzweigboss«. In der Hierarchie war also die Rottenführerin ganz oben, gefolgt vom Spundgruppenführer, Spundzweigboss bis hinunter zum Spund. Wobei die Spundzweigbosse ebenfalls immer Educares waren, allerdings wenig zu sagen hatten.

Zu Beginn des Ausbildungsjahres waren es zweiundvierzig Jungen gewesen, nur sechsunddreißig hatten bis zu diesem Tag überlebt. Die fünf Geglätteten waren ausnahmslos Räudiger gewesen, während ein Educares nach einem Sturz aus dem Bett gestorben war.

Die sechs Jungen eines Zweiges verbrachten die Nächte in einem sechsstöckigen Bett. Die Betten waren aus Kunststoff und einschließlich der Liegefläche aus einem Stück gefertigt. Jeder Spund nutzte seine raue Decke aus dem gleichen dünnen, grauen Stoff, aus dem auch die Shortshirts bestanden. Die Etagen der Betten waren über eine Leiter erreichbar, der Spundzweigboss schlief immer unten. In einem Schlafraum standen vierzehn solcher Betten mit insgesamt vierundachtzig Kojen dicht beieinander, wobei jeweils am Ende der Gruppe einige nicht mehr belegt waren. Hinzu kamen die beiden Einzelbetten der Gruppenführer. Somit schliefen zwei Gruppen mit anfänglich bis zu sieben Zweigen in einem Raum. Innerhalb der Rotte existierten dreißig solcher Schlafräume. Die Nummerierungen der Namen entsprachen nie genau der Reihenfolge der Spunde in der Gruppe, denn die leer gewordenen Kojen wurden durch sogenannte »Nachrücker« aufgefüllt, meist vom Ende der Gruppe, in anderen Fällen auch von Neuankömmlingen oder durch Festlegung der Rottenführerin. Beispielsweise war 42-Spund-Jona, ein Educares, vor etlichen Monaten an die sechste Stelle des ersten Zweiges gekommen, woraufhin 07-Spund-Davi Spundzweigboss im zweiten Zweig wurde.

 

Die tagsüber getragenen Shortshirts wurden am Abend im Sanitärtrakt in die Klappe geworfen. Am Morgen lagen sie gereinigt im Sanitärfach des jeweiligen Spundes.

Ein Spund besaß nichts. Simo aber hütete einen kleinen Schatz. Er hielt das zusammengeklappte Skalpell in einer engen Felsspalte im Spionage-Ausbildungsgelände versteckt.

*

Simo marschierte an fünfter Stelle in der dritten Linie, verbrachte alle Nächte in der fünften Etage des dritten Bettes, wusch sich stets am fünften Wasserhahn des dritten Beckens, nutzte das fünfte Sanitärfach in der dritten Reihe und saß beim Essen auf dem fünften Hocker am dritten Tisch. 13-Spundzweigboss-Linu, natürlich ein Educares, führte Simos Zweig an, in dem es nur einen einzigen weiteren Räudiger gab: 15-Spund-Seba. 15 war unterwürfig, diskutierte nicht und benutzte niemals ein Schimpfwort. Stellte Simo ihm eine Frage, dann konnte er ewig auf eine Antwort warten und bekam sie wahrscheinlich nie. Trotzdem lag Sebas Güte fast gleichbleibend bei 80 Prozent, während die von Simo erheblich zwischen 30 und 70 Prozent schwankte. 15 lag im dritten Bett. Eine Etage tiefer schlief 14-Spund-Thom, den Simo häufiger als alle anderen mit dem Schimpfwort »Weibsbürzel« titulierte und damit auf dessen praktisch nicht vorhandenes Geschlechtsorgan anspielte.

Als »Bürzel« bezeichneten die Räudiger die verkümmerten Geschlechtsorgane der Educares. Zwar waren die Räudiger oftmals körperlich schwächer und schmächtiger gebaut als ihre künstlich erzeugten Konkurrenten, doch waren deren Penisse und Hoden normal gebildet. Nichtsdestoweniger war »normal« in den Augen der Educares etwas ganz anderes, denn die hielten ihre verkümmerten Stummel für korrekt und die deutlich größeren und zudem funktionstüchtigen Geschlechtsteile der Abtrünnigen für naturwidrig. Das gegenseitige Bombardieren mit Schimpfworten unterhalb der Gürtellinie gehörte zum üblichen Sprachgebrauch der Spunde. Geschätzt wurde stets der, der ein neues, außergewöhnliches Schimpfwort erfand. Die Kreationen kannten dabei kaum Grenzen und zielten meist auf das ab, was sich unter den Shortshirts versteckte.

Zwischen Seba und Simo marschierte 16-Spund-Levi, ein außerordentlich arroganter Educares, dem Simo nur allzu gern die Kehle durchgeschnitten hätte. An sechster Stelle und somit ganz oben im Bett befand sich 18-Spund-Flor, der Simo rein äußerlich ähnlich war und von den anderen Educares regelmäßig darauf hingewiesen werden musste, dass er ein Educares sei, auch wenn er sich den Räudigern gegenüber nicht immer wie ein solcher verhielt.

Selbstverständlich gab es in den Nächten bei vielen Gelegenheiten auch Kontakte mit den Spunden der anderen Zweige und Gruppen. Die Betten standen schließlich unmittelbar nebeneinander, sodass die Jungen jeweils Kopf an Fuß lagen. Wenn Simo in seiner Koje in der fünften Etage lag, dann schliefen die beiden Educares Luka aus dem zweiten Zweig und Feli aus dem vierten Zweig unmittelbar neben ihm. Simos bester Kamerad, 34-Spund-Paul, lag im fünften Etagenbett ganz oben. In dessen Zweig gab es drei Räudiger, im vierten Zweig hingegen nur einen einzigen, nämlich 21-Spund-Samu.

Simo war so klein, dass es nur einen einzigen Spund in der Gruppe gab, der ihn nicht überragte. Dabei handelte es sich um den Räudiger 06-Spund-Mich, der im ersten Bett in der fünften Etage liegen musste und der an jedem Abend vor dem Erklimmen der Leiter in den Sanitärtrakt eilte. Morgens drohte er in seiner Eile fast von der Leiter abzustürzen, denn gleichzeitig die Leiter zu benutzen und die Beine zusammenzukneifen, das funktionierte einfach nicht.

*

Vor dem Einschlafen kam es im düsteren Schlafsektor der Spunde oft zu kindisch-vulgären Gesprächen, die schnell ausarten konnten:

»Yäh, 17, peinlicher Räudiger, schwankt das ganze Bett, weil du deinen Tierschwanz schrubbst?«, fragte Luka laut, der den kleinen Simo beleidigen wollte, und die Educares lachten höhnisch.

»Yäh, 11, Weibsbürzel, stößt dich meins Rohr – erschlägst dich. Trifft ’s dich meins Saft – ersäuft’s dich. Ich hör wohl dein Neid!«

Nun lachten all die Räudiger und stimmten Simo zu.

»Neid? Dass ich nicht lach. Wer will schon so einen spritzenden Hundeschwanz mit sich rumschleppen?«

»Yäh, 11, ich, der Simo, werd ein’s Tag’s Kinder tun. Weiber und Jungs. G’werkeln werd ich immerzu. Bestehen werd ich in Zukunft. Euerseits wird’s all ausg’löscht sein!«

»Yäh!«, rief Paul von oben und stöhnte übertrieben laut, wie bei einem Höhepunkt der Lust, obwohl er noch nie einen gehabt hatte: »Da komms! Da komms! Machs Futterluke auf, 11, du runzelloser Retortenschiss, kannst schlucken mein lecker Saft und spülen mit mein goldigen Harn runter das G’schleimte, Schwanzlutscher, verpisster!«

»Kein Weib wird dich nehmen, 17, Heulkotz du. Kannst den Arsch von 34 ficken, Spritzpimmel, auf dass dein Tierschwanz Ruhe gibt!«, warf 14-Spund-Thom, ein Educares, von unten ein.

Paul verteidigte Simo sofort: »Yäh, 14, nehm dein Schlitz zum Einspritzen, hast doch ’n Schlitz? Bist doch ’n Weib? Hab nie an dir ’n Bürzel entdeckt! Oder hat’s Python dir’s Stummelchen und ’s Keimdrüsen auffressen, du femininer Pseudognom?«

Jetzt lachten alle lauthals auf, selbst die Educares, denn »femininer Pseudognom« war ein völlig neues Schimpfwort, das Paul für den Educares Thom nutzte. Simo hatte keine Ahnung, wo Paul das herhatte, vielleicht von einem anderen Spund aufgeschnappt.

Jedenfalls machte das Lachen der anderen auch Simo Mut. »Yäh, 14-Spund-Thom, eil dich zu mir, gleich spritzt’s. Mein Schleim tut deiner ebenen Weiberschwarte wohl, sei mein versklavter Schwanzlutscher, du femininer Pseudogeist. Kriegst ganz umsonst mein Heilsamstes! Oder fürchtest, könnt’s dir ’s Antlitz wegätzen?«

Mit »ebener Weiberschwarte« war die glatte Haut der Educares gemeint, die pubertäre körperliche Veränderungen nicht kannten und sich ihrerseits über die gelegentlich bereits auftretenden Pickelchen bei einigen Räudigern lustig machten.

Der Raum war so dunkel, dass Simo nicht sehen konnte, dass 14, dem die Koje drei Etagen unter ihm zugeordnet war, mittlerweile die Leiter erklomm. Kurz darauf fühlte Simo dessen Atem, doch er konnte keinen Laut mehr von sich geben. Die Kojen boten nur wenige Zentimeter Platz nach oben, 14-Spund-Thom hatte sich auf Simo geworfen, drückte ihm augenblicklich mit beiden Händen die Kehle zu und ein Knie derb in dessen Weichteile. Dabei brüllte er: »Dafür mach ich dich glatt, 17, du peinlicher Rattenschiss!«

Simo rang nach Luft. Die Schmerzen in seinem Unterleib waren unerträglich. Zudem war Thom nicht gewillt, den Griff an Simos Hals zu lockern. Simos rechte Hand suchte das schnaufende Gesicht des Angreifers, um dessen Ohr zu ergreifen und daran zu reißen, denn die bei allen Spunden stets kurz geschorenen Haare versprachen keinen Halt. Mit einem Finger der anderen Hand stach er Thom ins linke Auge. Eine Sekunde lang konnte Simo tief Luft holen, bis Thom losbrüllte und sein Knie erneut mit brachialer Gewalt zwischen Simos Beine stieß.

Der Lärm ließ die anderen Spunde aufhorchen.

»14, Schwanzlutscher, verpisster, stromer’ aus seim Lager! Sonst glätt ich dich!«, brüllte Paul.

Erneut drückten Thoms Hände Simos Hals zu, noch derber als zuvor. Simo krümmte sich und zuckte am ganzen Körper. Fast schloss er mit dem Leben ab, denn 14 ließ ihm keine Chance zu atmen.

Dann tauchte überraschend ein Spund auf, riss Thoms Hände von Simos Hals, schlug dem Educares mehrmals mit voller Wucht in die Seite und zerrte ihn von Simo herunter. Thom stürzte dreieinhalb Meter in die Tiefe und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Betonboden auf, während Simo regungslos in der Koje verharrte.

»Mach endlich das Licht an, 01!«, rief einer der Spunde. 01-Spundgruppenführer-Elia, der auf der gegenüberliegenden Seite in einem einzelnen Bett lag, schlug auf den Lichtbutton. Es knirschte unter der Zimmerdecke, dann erhellte gleißendes Licht den Schlafraum der beiden Gruppen. Elia erhob sich und lief zu dem Körper, der mit zerschmettertem Kopf auf dem blutrot gefärbten Beton lag.

»Wer hat das mit 14 getan?«, schrie er mit hoher Stimme. »Wer?« Er schaute hinauf, sah einen Spund auf der Leiter, der einen anderen Spund zu küssen schien. »12-Spund-Juli, dreckiger Schwanzlutscher, was tust du da?«

Als Simo zu sich kam, spürte er, dass ihm jemand Luft in die Lungen pumpte. Er röchelte und hustete.

»Zum Glück lebst du, 17«, flüsterte der Spund in Simos Ohr. »Die Python hätte mir das nicht verziehen.«

Einen Moment lang sah Simo in die Augen seines Retters. »12?«, fragte er. »Warum?«

12-Spund-Juli legte einen Finger auf Simos Lippen, dann kletterte er rasch die Leiter hinunter.

Unten betrachtete er den nackten Körper von 14-Spund-Thom. Die Blutlache breitete sich weiter aus. Alle anderen Jungen schauten missmutig aus ihren Kojen, beobachteten erwartungsvoll den Spundgruppenführer, Nummer 12 und die Leiche von Nummer 14.

»Der Schwanzlose wollte 17 glätten«, erklärte Juli dem Gruppenführer. Beide standen sich nackt gegenüber.

»Na und? 17 ist ein peinlicher Räudiger.«

Juli, fast zwölf, um einiges größer als der Gruppenführer und zudem muskulöser als die meisten in der Rotte, blickte Elia stur in die Augen. »Hast du vergessen, was die Python dir aufgetragen hat?«, flüsterte er. Und laut, sodass es alle hören konnten: »17 ist unser wertvollster Spion. Du weißt es. Ich weiß es. Er war am längsten draußen. Eines Tages wirst du froh sein, dass er lebt, 01.« Mehr sagte Juli nicht. Er ging zu der gerade leer gewordenen Koje, zog die Zudecke heraus und legte sie über die Leiche von 14-Spund-Thom. Dann lief er zurück zu Elia. »Was ist los, 01? Du musst den Nachrücker bestimmen.«

»Frag mich, was mit dir los ist, 12. Warum ist das da?« Elia zeigte auf das für einen zwölfjährigen Educares ziemlich große Geschlechtsteil und Julis Schambehaarung. »Warum belebst du den Räudiger und glättest den Educares? Warum hast du das da und wir nicht?«

Überraschend schnell ergriff Juli das Kinn des Spundgruppenführers und drückte die Finger so derb in Elias Wangen, dass sich dessen Mund von ganz allein öffnete. »Weil ich keins von beiden bin, 01«, flüsterte Juli. »Ich bin ein Mensch. Ich bin ein Junge. Du solltest das auch sein als unser Gruppenführer, Elia, ob du nun einen Schwanz hast oder nicht. Und nun verpetz mich bei unserer Python! Sie wird dir die Leviten lesen, weil du dem Kleinen nicht geholfen hast!«

Elia stand da und atmete tief ein und aus. Er wollte auf keinen Fall wie ein Verlierer wirken. »Verpiss dich in deine Koje, verfurzter Rattenschiss!«, rief er eilig.

12-Spund-Juli führte den Befehl sofort aus. Während er die Leiter am zweiten Bett hinauf bis in die sechste Koje stieg, warf er Simo, der mit bleichem Gesicht in seiner Koje lag, einen lächelnden Blick zu.

»Morgen früh entsorgst du 14 im Totenschacht und beseitigst die Schweinerei in unserem Schlafsektor! Vergiss nicht den Chip!«, rief Elia Juli nach. »41-Spund-Manu, hinkender Heulkotz! Du rückst auf! In den dritten Zweig an die zweite Stelle! Der sechste Zweig schrumpft somit auf fünf Spunde. 41, du bist ab sofort ein Spion! Verstanden, du krebskranker Kotfresser? Jetzt sofort!«

41-Spund-Manu, ein gerade achtjähriger und recht ängstlicher Educares, kletterte zitternd aus der obersten sechsten Koje herunter, nahm seine Decke mit, warf einen traurigen Blick auf den leblosen Menschhaufen vor dem dritten Bett und kletterte dort in die zweite Etage. Mit seinem Gesicht zur Wand legte er sich in die ehemalige Koje des Toten und weinte leise.

Ohne ein weiteres Wort kroch 01-Spundgruppenführer-Elia in seine Einzelkoje und trat wütend gegen den Lichtbutton.

Dunkelheit herrschte. Und Schweigen.

Simos Atem ging schwer. Sein Unterleib schmerzte noch immer. Er krümmte und versteckte sich komplett unter der Decke. Er war bereits tot gewesen, wie Thom jetzt tot war, das wusste er. Doch Juli hatte ihn zurückgeholt, hatte ihn beatmet, ihm die Lunge geliehen. Juli, vor dem in diesem Raum alle Respekt hatten! Galt er doch als der beste Spundschütze der ganzen Rotte.

Thom war ein Educares gewesen! Juli hatte ihn umgebracht, bevor dieser eine Chance gehabt hätte, Simo zu glätten. Niemals durfte die Hand gegen einen Educares erhoben werden, der einen Räudiger bedrohte!

 

Der Kleine hatte ganz genau gehört, was Juli über ihn, Simo, den peinlichen Räudiger, vor allen Spunden der Rotte behauptet hatte. »17 ist unser wertvollster Spion. Du weißt es. Ich weiß es. Er war am längsten draußen. Eines Tages wirst du froh sein, dass er lebt, 01.«

*

Am Terminal rief 01-Spundgruppenführer-Elia im Takt der Schritte: »Und – jetzt – halt!« Alle blieben gleichzeitig stehen, keiner rührte sich, bis Elia rief: »Links – dreht – euch!« Bei »euch!« drehten sich alle um 45 Grad. Und dann brüllte er auch schon: »Zack, zack, ihr hinkenden Pisspimmel!«

Sogleich rannte 02-Spundzweigboss-Alex los, ihm folgte die erste Reihe, dann die zweite. Am Terminal fingen die Jungen das Paket mit der Ausrüstung für den praktischen Unterricht auf, die ein elektronisch gesteuertes Lagerfach alle drei Sekunden ausspuckte, und bildeten auf der anderen Seite des Terminals, das in die große westliche Halle des Ausbildungsgeländes integriert worden war, wieder eine wohlgeordnete Jungenrotte.

Alle Spunde wurden zum Spundschützen ausgebildet. Nur die aus dem dritten Zweig jeder Gruppe – einem solchen gehörte Simo an – wurden zum Spundspion entwickelt. Da jede der sechzig Gruppen der Pythonrotte einen Spionzweig besaß, konnten es letztendlich dreihundertsechzig Spione werden. Während die Schützen mit kleinen, automatischen Handfeuerwaffen übten, waren die Spione faktisch besser bewaffnet. Ihre eigentlichen Waffen waren Zirkler und Karte. Alle Spunde wurden zudem im Mannkampf ausgebildet, eine spezielle Kampfart, in der es ausschließlich darum ging, einen möglichen Gegner so schnell wie nur möglich zu schlachten. Kraft- und Ausdauertraining rundeten die Ausbildung ab.

Im Tunnel ließ Elia die Gruppe stoppen und abknien. Jeder Spund rollte seinen Pelz aus, einen synthetischen Anzug, der zur täglichen Ausrüstung gehörte. Das fellartige, zum Teil metallische Gewebe war elastisch, schmiegte sich an den Körper an und die Jungen packten sich von den Füßen bis zum Kopf damit ein. Der Pelz – so wurden die Anzüge genannt – war bis zu einem gewissen Maße wasser- und hitzeabweisend, war mit verstärkten Sohlen versehen, ohne dass die Bewegung der Füße eingeschränkt war, und er besaß ein lichtdurchlässiges Visier aus elektronischem Papier (EPV), das sich aus dem Kunststoffhelm über die Augen abrollte. Meist erhielt ein Zweig eine gemeinsame Aufgabe, die es zu erfüllen galt.

Linu, der Spundzweigboss, verließ sich oft auf Simos Intuition, denn Nummer 17 kam draußen wesentlich besser zurecht als die meisten Educares, die vor ihrer Rottenzeit keine natürliche Umgebung kennenlernen durften. Simo hingegen atmete auf, wenn seine Zeile den Tunnel durchschritten hatte und auf der Plattform im Gebirge stand.

Während die Rottenführerin ihre Ansprache zur Tagesaufgabe hielt, die jeden Tag mit den Worten »… eifert also jenen Spunden nach, die für die demokratische Freiheit unserer Republik in den Tod gingen!« endete, woraufhin alle Jungen kniend Beifall schlugen, genoss Simo den Blick hinunter in das herrliche Tal der Apenninen, saugte die frische Luft ein und versuchte am Horizont des weit entfernten Tieflandes den Punkt zu erreichen, wo er einen Hort der Freiheit zu erkennen glaubte.

»Yäh, 17, hast du das gehört?«

Simo schreckte auf und blickte erstaunt zu 13-Spundzweigboss-Linu. »Was meinst?«

»Du peinlicher Räudiger, hat’s dir wohl die Ohren verdichtet? Schau auf dein Display. Einzelaufgabe! Nun mach dich endlich los!«

Während Simo sein EPV herunterrollte, wandte sich Linu ab. Noch während er die Zeichen entzifferte, lief Simo bereits, stolperte mit anderen Spunden einen Pfad hinunter, weiter und weiter ins Tal, schneller und schneller, bis kein einziger der Spunde seinem Spurt mehr folgen konnte.

Mit einem geschlagenen Haken und zwei kurzen Schritten verschwand Simo hinter einem Baum, kletterte auf einen Fels, weiter hinauf, kroch über den Rand und folgte einem Bergpfad, der dicht an einem Abgrund vorbeiführte.

Schließlich erreichte er eine schmale Hängebrücke, hielt sich an den Seilen fest und lief mit großen Schritten mindestens zweihundert Meter über dem Abgrund zum anderen Ende der schwankenden Brücke.

Dort versteckte er sich im hohen Gras und nahm kauernd Zirkler und Karte zur Hand. Das EPV zeigte ein Strichmännlein, das hieß so viel wie »Einzelaufgabe«, was im Training nicht oft vorkam. Daneben standen Koordinaten, eine völlig neue Methode, welche der Morgenlandarmee angeblich unbekannt war, eine Kombination aus zehn Zeichen. Am rechten seitlichen Rand gab es drei verschiedene Zahlen, am unteren Rand zwei. Die Zahl unten links bedeutete den metrischen Abstand zum Zielpunkt. 4.719. Das war ein langer Weg im Gebirge und Simo vermutete, dass er damit fast die Randzone des Rottengebietes erreichen würde. Die Zahl unten rechts zeigte seine momentane Güte an, wobei er mit 64 über seinem persönlichen Schnitt lag. Nun nahm Simo den Zirkler zur Hand, einen durchsichtigen, aufklappbaren Fächer, auf der gesamten Fläche mit unzähligen Zeichen und winzigen geschwungenen Linien beschriftet. Er legte den Zirkler auf die Karte, suchte das erste Zeichen und legte das gleiche Zeichen auf dem Zirkler genau darüber. Nun drehte er den Zirkler so lange, bis alle vorgegebenen Zeichen übereinander lagen. Er las die drei Zahlen am rechten Rand des EPV und suchte sie auf dem Zirkler. Von jeder der Zahlen ging eine geschwungene Linie ab. Dort, wo sich die drei Linien kreuzten, befand sich der Zielpunkt seiner heutigen Aufgabe.

Simo prägte sich diesen Punkt genau ein, wusste auch, wo er im Moment war, und suchte auf der Karte einen geeigneten Weg. Der Punkt war unmittelbar neben der roten Linie der Rottengrenze, die er niemals überqueren durfte. Täte er es doch, würde Praescius, das Computersystem der Europäisch Demokratischen Republik, ihn augenblicklich glätten.

Simo lauschte. Es war sehr still, Tiere gab es hier nur wenige. Er hörte ein leises Rascheln ganz in seiner Nähe und duckte sich. Mitunter dachten sich die Führer Spiele aus, bei denen die Spione als Ziele für die Schützen herhalten mussten. Wurde ein Spion von der Übungsmunition des Ausbildungsgewehrs getroffen, dann blieb er – gesteuert über den Chip – sechzig Minuten ohnmächtig und konnte während dieser Zeit nicht die eigene Aufgabe erfüllen, was schließlich zu einer Verschlechterung der Güte führen würde.

»Simo?«, flüsterte eine Stimme in der Nähe. »Simo, bist du hier? Ich weiß, dass du hier bist. Ich muss mit dir sprechen!«

Simo hob den Kopf, verriet jedoch nicht seinen Standort. »Was fragst, Juli? Hab Monoauftrag. Kann nicht quasseln.« Juli hatte ihm das Leben gerettet und Thom das Leben genommen. Trotzdem war er immer noch ein Educares. »Was andres wirst nie sein«, sagte Simo und verriet damit die Gedanken.

»Simo, red mit mir. Was andres soll ich nie sein?«, fragte Juli und seine Stimme kam deutlich näher. »Was meinst du damit?«

»Kein Räudiger wirst sein«, antwortete Simo, der Juli durch das hohe Gras nicht entdecken konnte.

»Vielleicht bin ich aber einer und das System irrt?«

»System irrt? Verflachst mich wohl? System nie irrt. Stromer dich, muss Aufgabe tun, Juli.«

Juli sprach Simo mit dem Vierletter an, also tat es Simo auch. Zahlen waren eben nur Zahlen.

»Kein einziger Educares hätte dich ins Leben zurückgeholt. Kein einziger!« Und nach einer kurzen Pause rief Juli: »He, Simo, nimm das, dann weißt du, dass ich dir nichts tun werde!«

Ein Gegenstand kam zu Simo geflogen und landete unmittelbar vor seinen Knien. Es war Julis Waffe! Simo staunte nicht schlecht, ergriff das Übungsgewehr und erhob sich. Juli war nun unbewaffnet, es bestand keine Gefahr. Juli, der beste Schütze – wehrlos!