Pilgern mit Paddel

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Aus der Reihe: Abenteuer & Fernweh
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5. TAG: MUTRIKU BIS MUNDAKA

Pilgerreisen dauern heutzutage nicht mehr Jahre. Mittlerweile sind wir nur noch ein paar Wochen, vielleicht Monate unterwegs und haben das Ziel immer klar vor Augen. Wir nutzen Google Maps und alle möglichen Apps, um uns bloß nicht zu verlaufen, keine lästigen Überraschungen zu erleben oder gar jenseits unserer Pläne zu pilgern. Wir halten permanent Kontakt zu den Lieben in der Heimat, verfolgen die Nachrichten und haben gar keine Chance mehr, eine Pilgerreise so zu erleben wie die Menschen früher.

Auf dem Wasser ist das ein bisschen anders. Wir können nicht ständig aufs Handy schauen, denn es ist wasserdicht verpackt. Das Herausholen nervt und birgt immer das Risiko, es an die gierige Biskaya zu verlieren. Wir haben da draußen auch keine Möglichkeit zum Austausch mit anderen Pilgern, denn wir sind die einzigen Peregrinos de la mar, Meerespilger. An Land haben wir noch keine Mitpilgernden getroffen, da wir uns in der Nähe der Marinas aufhalten und diese bisher nicht auf dem ansonsten klar kartografierten Camino del Norte, dem nordspanischen Küstenweg, eingetragen sind.

Nachdem uns die ersten beiden Tage völlig überfordert hatten, verwöhnt uns das Wetter jetzt sogar mit Rückenwind. Wir waren heute sechs Stunden auf dem Wasser und haben fast 30 Kilometer geschafft. Zwischendurch haben wir Mondfische gesehen, riesige Fische, die vor uns in die Luft sprangen, sind an Felswänden vorbeigepaddelt, die Hunderte von Metern ins Meer stürzen, haben uns Zeit genommen, fast zwei Kilometer von der Küste entfernt zu baden und uns gegenseitig unter Wasser zu filmen. Der Tag auf dem Wasser fühlte sich fast wie ein richtiger Urlaubstag an. Lebensglück zu teilen, ist für mich im Moment wertvoller als alle Erkenntnisse, die ich auf meinen Soloabenteuern gewonnen habe.

Als wir schließlich in Mundaka einlaufen, spüre ich die sechs Stunden auf dem Wasser in jeder Faser meines Körpers. Wenn das ein Wochenendausflug wäre, müsste ich mich jetzt erst einmal drei Tage lang erholen. Aber dies hier ist eine Pilgerreise. Daher muss die Erholung beim Pilgern stattfinden. Direkt vor dem Hafen von Mundaka bricht die perfekte Welle. Sie baut sich vor einer kleinen Sandbank auf und läuft dann etwa 500 Meter in einen Meeresarm hinein. Selbst wenn unsere Tourenbretter für Wellen geeignet wären, könnten wir keinen einzigen Paddelschlag mehr machen. Es bleibt uns nur, den Surfern beim Wellenreiten zuzuschauen, was ich allerdings stundenlang machen könnte. (BILD 20)

In Mundaka gibt es sogar ein Hostel, allerdings ist der Wirt ein solcher Griesgram und das Zwanzigbettzimmer vollkommen unattraktiv, dass wir enttäuscht ablehnen. Ich fühle mich übermüdet, habe keine Lust, einen Zeltplatz zu suchen, Zelt, Isomatte und Schlafsack herzurichten und frage den Hostelwirt in meinem erbärmlichen Spanisch, warum er denn so unfreundlich sei. Er blafft sofort zurück, dass er eben kein besseres Zimmer hätte und das nichts mit Unfreundlichkeit zu tun hätte. Ich bin ziemlich genervt und frage ihn, warum er kein Englisch könne, wo er doch in einem internationalen Hostel arbeite. Das bringt das Fass zum Überlaufen, und er schreit mich an, dass wir uns hier in Spanien befänden – den Rest kann ich nicht verstehen. Turtle geht dazwischen, sagt »tranquillo« und der Herbergsvater wird tatsächlich still. Ich ärgere mich über mich selbst: Warum kann ich nicht mal den Mund halten? Und mit meinen Sprachkenntnissen eine solche Diskussion auf Spanisch zu beginnen, ist sowieso bescheuert.

Direkt neben einer uralten Kirche auf einer Klippe mit Meeresblick schlagen wir fünf Minuten später unsere Zelte auf und sind uns einig, dass es keinen besseren Platz für Pilgerreisende wie uns geben könnte. (BILD 21) Zum Glück sind wir nicht in der Herberge gelandet. Ich muss an die Freundin und ihre Ratschläge denken: Nimm alles an, was dir auf diesem Weg begegnet. Zum Glück ist der Weg noch lang und ich habe genügend Zeit, ihre Ratschläge zu verinnerlichen.

Auf meiner Donaureise vor drei Jahren, die ich auch als Pilgerreise empfinde, war lange Zeit Einsamkeit der Weg, auf dem mich diese Tour zu mir selbst geführt hatte. Ich war nicht abgelenkt von Gedanken, Sorgen oder Nöten eines Mitpilgers. Ich konnte mich einzig auf mich konzentrieren und beobachten, wo mich diese Reise hinführen wollte. Nach der Hälfte der Strecke traf ich jedoch einen jungen Belgier, der mich über weite Abschnitte begleitete. Dies gab mir eine perfekte Mischung aus Einsamkeit und Austausch. Auf dieser Reise ist das anders: Ich habe Turtle an meiner Seite – und es ist ein Segen. Mitten auf dem Meer gibt er Lieder von Adriano Celentano zum Besten, stößt Jubelrufe aus und verbreitet eine solch kindliche Freude an unserer Tour, dass mir zwar die Erkenntnisse aus der totalen Einsamkeit fehlen, dafür aber ein Mensch an meiner Seite ist, der für mein Seelenheil wie Medizin wirkt. Allein die ersten beiden Tage hätte ich ohne ihn nicht überstanden. (BILD 22)

Eine weitere geplatzte Tour hätte ich nicht verkraftet. Erst kam im vergangenen Jahr die wegen meines lädierten Fußes abgebrochene Pilgerreise. Und dann musste ich in diesem Jahr die Umrundung Sri Lankas mit dem SUP schon nach einem Tag beenden, da mein Mitpaddler nach drei Kilometern aufgegeben hatte. Wir hatten uns im Internet kennengelernt, weil ich nach Menschen recherchierte, die den Ganges gepaddelt sind. Dabei stieß ich auf einen Inder namens Buktu, der die 2.500 Kilometer des heiligen indischen Flusses auf einem Wanderkajak in drei Monaten heruntergepaddelt ist. Er riet mir dringend von einer Paddeltour auf dem Ganges ab. Der Fluss sei völlig verseucht von der Industrie und voller Leichenteilen, die von Beerdigungsritualen herrührten. Ob ich nicht lieber mit ihm eine Paddeltour rund um Sri Lanka machen wolle.

Die Idee begeisterte mich sofort. Im März, April gab es ein gutes Wetterfenster, um die 1.300 Kilometer zu meistern, und Buktu stellte sich als großartiger Organisator heraus. Er schrieb Excel-Tabellen über Packlisten, arbeitete Tagesetappen aus und beschaffte uns eine Genehmigung vom High Commissioner Sri Lankas, dem höchsten Beamten des Landes, um die Erlaubnis für die Umrundung der Insel zu erhalten. Er organisierte ein Tuk-Tuk mit Fahrer, der uns bei der Tour an Land begleiten sollte und sorgte für Kontakte zur Marine, die drei Schnellboote für unsere Rettung alarmieren würde. Als Höhepunkt seiner Organisationskunst veranstaltete Buktu eine Pressekonferenz im besten Hotel der Insel. Dutzende von TV-, Hörfunk- und Pressevertretern kamen, um über unsere waghalsige Tour zu berichten. Buktu legte eine perfekte Power-Point-Präsentation hin, sonnte sich im Licht der medialen Aufmerksamkeit und versprach, ein großartiges Buch und einen noch besseren Film über unsere Tour zu produzieren.

Schon im Vorfeld hatte ich mich über meinen indischen Mitpaddler gewundert, aber zu wenig auf meine Bedenken gehört: In seinem Blog schrieb er, dass wir uns morgens von der Ebbe fünf Kilometer heraustragen und dann abends von der Flut wieder an Land spülen lassen würden. Ich kenne den Indischen Ozean recht gut und weiß, dass in den meisten Regionen kaum Strömung herrscht und die Ebbe wie auf allen Ozeanen eher nach unten geht und die Flut nach oben, aber nicht fünf Kilometer raus aufs Meer und wieder rein wie bei vielen Flüssen. Vor allem nicht regelmäßig morgens raus und abends rein. Wir haben ja auch nicht immer Vollmond. Auch alle Strömungstabellen Sri Lankas sagten ein solches Phänomen nicht voraus.

Als wir uns kurz vor Tourbeginn in Colombo, der sri-lankischen Hauptstadt, trafen, stellte sich heraus, dass Buktu absolut nicht durchtrainiert war. Mit seinen 58 Jahren brachte er gute 120 Kilogramm auf die Waage. Aber auch das schreckte mich noch nicht ab, denn manche Menschen tragen unglaubliche Kräfte in sich.

Als wir am Tag nach der Pressekonferenz unsere Gefährte zu Wasser ließen, zog er sich eine Schwimmweste an, was mich endlich stutzig machte. Es herrschte kein Wind, die Sonne brannte mit mehr als 30 Grad auf uns herab und die Wellen waren keine 50 Zentimeter hoch. »Aus Sicherheitsgründen«, meinte er und ich zuckte mit den Schultern. Sein Kanu und mein SUP lagen hinter einem Felsen in einem ruhigen, natürlichen Bassin. Trotzdem trieb Buktus Kanu sofort ab, da er es entgegen meiner Warnung zu tief ins Wasser gezogen hatte. Ich rannte hinterher und zog es zurück an Land.

Als unsere große Reise schließlich losging, paddelte Buktu parallel zum Ufer, bis ihn die erste Welle seitlich erwischte, sein Boot kenterte, seine 70 (!) Kilogramm Gepäck aufs Meer trieben und er selbst wie ein Käfer auf dem Rücken lag und paralysiert schien. An dieser Stelle war das Wasser jedoch keinen Meter tief. Ich lief zu ihm, richtete sein Kanu auf, sammelte seine Sachen ein und fragte ihn, warum er nicht aufstehe. Erst da erkannte er, wie flach das Wasser war, und erhob sich umständlich. Irgendwie schaffte er es zurück in sein Kanu, ich erklärte ihm, dass man brechende Wellen – und seien sie nur einen halben Meter hoch – von vorn nehmen müsse, gab ihm einen Schubs und brachte ihn somit hinter die Brechzone.

Zwanzig Minuten später hatte es Buktu keine 500 Meter weiter geschafft. Ich kehrte um und fragte ihn, ob er ein Problem habe. Ja, in seinem Boot stehe ein Fuß Wasser. Warum er dieses nicht herausschöpfe, fragte ich ihn. »How – wie?«, war seine bizarre Antwort. »Mit einer Schöpfkelle, mit den Händen, keine Ahnung«, sagte ich.

»Wie hast du das denn auf dem Ganges gemacht?« »Da hatte ich kein Wasser im Boot.« Ich legte neben ihm an, kniete mich auf mein Brett, schöpfte das Wasser mit den Händen aus seinem Kanu und paddelte weiter. Eine weitere halbe Stunde später war Buktu erneut weit zurückgefallen. Eigentlich hätte er mit seinem fünf Meter langen Kanu sehr viel schneller als ich auf meinem SUP sein müssen, aber irgendwie wollte es bei ihm nicht laufen. Ich wartete fast eine Stunde auf ihn, legte mich auf mein Brett und ließ mich vor Colombo treiben. Als er mich endlich eingeholt hatte, meinte er, dass er sich ganz langsam an das Meer gewöhnen müsse. Ich fragte, wann er zuletzt auf dem Meer gewesen sei. »Noch nie«, war seine frappierende Antwort. »Du willst um eine Hochseeinsel paddeln und warst noch nie auf dem Meer?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. Ich auch und paddelte konsterniert weiter. Als ich den riesigen Hafen von Colombo umschifft hatte, klingelte mein Handy: Buktu. Er sei immer noch vorm Hafen, sei erneut gekentert, habe dabei seine GoPro verloren, beide Knie verletzt und breche die Tour nun ab.

 

Im Nachhinein vermute ich, dass er noch nicht einmal schwimmen konnte – daher die Schwimmweste. Ich war auf einen Hochstapler hereingefallen. Damals lag ich eine ganze Nacht wach, wägte alles ab, zermarterte mir mein Hirn und konnte und wollte nicht wahrhaben, was geschehen war und vor allem, wie dumm ich gewesen war. Aber konnte ich das ahnen? Wenn mich jemand fragt, ob ich mit ihm auf einem Kamel durch eine Wüste reiten möchte, gehe ich doch nicht davon aus, dass der Kerl noch nie in seinem Leben auf einem Kamel gesessen hat und noch nie in einer Wüste war. Nach langem Grübeln war klar, dass ich diese Tour nicht allein fortsetzen wollte. Das Risiko war nicht kalkulierbar und meine Angst vor Krokodilen zu hoch. Es sollte nicht sein. Damals kam ich mir feige vor, wie ein Versager. Im Nachhinein war es mutig, die Tour abzubrechen. Für mich gehört ungeheure Größe dazu, Niederlagen einstecken zu können.

Zwei große Touren hintereinander waren also gescheitert, und ein drittes Scheitern hätte mich in ein ziemliches Tal geworfen. Zu häufiges Scheitern birgt die Gefahr in sich, wie ein Träumer, oder gar wie ein Idiot dazustehen. Dann schaltet irgendwann der Schalter um, die Angst vor dem Scheitern gewinnt die Oberhand und Träume werden nicht mehr zu Ende geträumt. Jeder Traum, jede Möglichkeit birgt immer auch das Risiko der Niederlage in sich. Gleichzeitig ist es immer leicht, Mut zu zeigen, wenn am Ende eine Belohnung wartet.

Und deshalb liege ich jetzt in meinem Zelt und bin unendlich dankbar, dass dieses Abenteuer – zumindest im Moment – einen phänomenal guten Verlauf nimmt, dass mich ein echter Freund begleitet, auf den Verlass ist, dessen Stimmung fast immer positiv und der ein echter Wassermensch ist. Wie wenig Raum unsere Bretter einnehmen, wenn wir über dieses gewaltige Meer SUPen. Und doch stünden uns Millionen von Biskaya-Quadratkilometern zur Verfügung.

Manchmal bin ich dem Meer unendlich dankbar, dass es uns passieren lässt, dass es uns trägt, erträgt. Wir hinterlassen keine Spur, müssen uns nicht einordnen, haben nur den Rhythmus unserer Paddelschläge. Alle drei Meter stechen wir zu, hinterlassen kurze Wirbel, wechseln alle paar Schläge die Seite und gleiten permanent einem fast heiligen Ziel entgegen. Noch 100.000-mal – dann sind wir da.

Anfangs empfand ich unsere Langsamkeit als resignierend. Ich tröstete mich damit, dass ich immerhin schneller bin als ein Spaziergänger. Aber langsamer als ein Jogger. Mittlerweile spüre ich, dass unser Schneckentempo hilft, präsent voranzukommen. Wir benötigen keine Eingewöhnungszeit wie nach langen Flügen oder Autofahrten. Wir steigen an Land und sind da. Als gehörten wir schon immer dorthin.

6. TAG: MUNDAKA BIS GALDAKAO

Jeden Morgen wache ich mit einem Ohrwurm auf. Es dauert immer eine gewisse Zeit, bis das Lied aus den flirrenden Tiefen meines Unterbewusstseins an die Oberfläche wabert. Dann macht es sich ganz leise in meinem Kopf breit und findet irgendwann den Weg bis wenige Millimeter vor meine Lippen. Stumm summt es heute früh durch meinen Kopf: »Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück, und ich träum davon in jedem Augenblick« von den Comedian Harmonists aus den Zwanzigern des vergangenen Jahrtausends.

Ich höre mir das Lied auf YouTube an und bekomme Tränen in die Augen. Wonach suche ich denn? Warum suche ich immer noch? Habe ich nicht längst alle Winkel dieser Welt erkundet, alle Ecken meines Seins durchforstet, alle Träume erfüllt? Lässt sich diese Sehnsucht nie stillen? Wann sitze ich endlich wie Hesses Siddhartha an einem Fluss und bin einfach nur zufrieden?

Wieder habe ich meine Heimat verlassen, meine Lieben, mein kleines bisschen Glück – dabei habe ich mehr Glück im Leben gehabt, als ich mir je hätte erträumen können – und paddele über Wellen und Untiefen, durch unpaddelbares Wabbelwasser, an Strömungen entlang, mit Ebbe und Flut, nenne das Ganze auch noch Pilgern und versuche, etwas zu finden, das ich längst gefunden habe und immer wieder verliere: mich, oder das, was davon übriggeblieben ist. Was immer wieder abtreibt wie ein Stück Holz auf diesem riesigen Ozean. Die Flüchtigkeit der Momente aus Glück, Unglück, Gnade, Verzweiflung, Erschöpfung oder Freude wechseln auf dieser Reise weiter im Stundentakt: Ich bin vollkommen entkräftet, meine Schultern sind schwer wie Beton, denn ich suche ein Leben jenseits unserer überzivilisierten Welt, jenseits der Smartphones, der WLAN-Welt, des Konsumismus, der Altersvorsorge, der Versicherungen, der Eintönigkeit. Ein ursprüngliches Leben fernab von warmen Duschen, Treffen mit Freunden, intimen Stunden, Sport, Arbeit, Sofas, Knabberzeug, gefüllten Kühlschränken, Kaltschaummatratzen, vollen Kleiderschränken mit einer schier unendlichen Auswahl an Turnschuhen, Hosen, Shirts und Jacken. Eine lange Reise ohne E-Mails, ohne Telefongespräche, mit wenigen Kurznachrichten als Lebenszeichen. Ein Aufbruch in das Reich des Reisens, wo andere Dinge zählen: die körperliche Unversehrtheit, die Nähe zur Natur, das Treffen mit Fremden, die einem schneller ans Herz wachsen als in der versiegelten Welt, die wir Zuhause nennen.

Wie jeden Morgen werden wir auch heute von der Polizei verscheucht. Wild Campen ist in Spanien grundsätzlich verboten. Es sind durchweg freundliche Beamte, die beflissen ihre unsinnige Pflicht erfüllen. Wen stören wir schon? Welche Gesellschaft lässt Pilger nicht mehr an ihren Ufern schlafen? Welche Werte hat dieses System verloren? Da wir keinen Profit bringen, sind wir unerwünscht. Es ist ein erbärmliches System der Gier, in dem wir leben. Fast überall in Europa sind mittlerweile zwei Meter hohe Barrieren vor Parkplätzen montiert, damit Wohnmobile dort nicht mehr stehen können. Was steckt dahinter? Die meisten Camper sind absolut umweltbewusste Menschen, sodass es möglicherweise entstehender Müll nicht sein kann. Camper sind selten Partypeople, die die ganze Nacht laute Musik hören – Belästigung kann es also auch nicht sein. Was ist es dann? Ich finde nur ein Argument: Die Camper sollen auf Camping- und Stellplätze fahren, um dort zu zahlen.

Ich empfinde diese Politik als Freiheitsberaubung. Wenn ich mich nirgends mehr mit meinem Wohnmobil hinstellen darf und an keinem Ort in Südeuropa mein Zelt aufbauen kann, dann leben wir in einem System, das ich nicht mehr unterstütze.

Auch das SUPen ist mittlerweile auf vielen deutschen Gewässern verboten. Wahrscheinlich werden sie bald einen SUP-Führerschein einführen, damit wir überhaupt noch weiter paddeln dürfen. Hauptsache wir bringen Profit.

Heute wurde mir auf dem Wasser plötzlich klar, dass ich mich jetzt tatsächlich in meinem nächsten Abenteuer befinde. Das Meer lag da wie schwabbelndes Blei, kein Lüftchen wehte, die Wolken tauchten die Wasserwelt in düstere Wogen und ich wusste, dass ich an keinem anderen Ort dieser Welt sein möchte. (BILD 23) Jetzt bin ich drin in dieser Tour, sie läuft, sie flutscht. Hier darf ich sein. Hier kommt keine Polizei und verscheucht mich – bis jetzt.

Um möglichst subjektive Perspektiven bei den Filmaufnahmen zu bekommen, nehme ich meine GoPro-Kamera in den Mund und filme dabei. Während ich die Kamera auf Turtle halte, springt ein riesiger Fisch direkt zwischen uns in die Luft. Die Freude über den Zufall, über den Fang mit der Kamera, ist viel intensiver als die Freude, die ich im Alltag erlebe. Wann passiert dort schon mal etwas Außergewöhnliches? Etwas, womit wir nicht rechnen? Wie lange hält Freude dort an? Hier ist jede Sekunde so wertvoll, dass ich vor lauter Glück und Freude über dieses Leben staune. Genau diese Wunder und Überraschungen machen eine Pilgerreise, ein Abenteuer aus.

Meine Wahrnehmung der Außenwelt hat sich jetzt schon verändert. Es stürzen so viele Sinneseindrücke auf mich ein, dass mir gar keine Wahl bleibt, als permanent aufmerksam zu sein. Das, was mich dazu bewogen hat, ein weiteres Abenteuer anzugehen, ist plötzlich unendlich weit weg. Es ist mir kaum möglich, über diese neuen Eindrücke zu schreiben, ohne in eine fast mystische, vielleicht sogar esoterisch klingende Sprache zu verfallen: Diese Pilgerreise hat einen Graben geschaffen zwischen einem erfüllenden Hier und Jetzt und dem häufig trist-monotonen, mit kleinen Ärgernissen überfrachteten Leben zu Hause. Es ist, als wäre eine Tür aufgegangen und Frischluft hätte meine Gedankenwelt durchströmt. Diese Reise trägt nicht die alte, verstaubte Vergangenheit mit sich herum, sondern zwingt mich täglich, Tausende Probleme zu lösen: Wo finden wir einen Schlafplatz? Wo bekommen wir genügend Wasser und Nahrung her? Erlaubt uns das Meer, unser Ziel zu erreichen? Wir bewegen uns mental ständig im gegenwärtigen Augenblick und haben gar keine Zeit, uns Gedanken über Politik, Corona oder Zukunftssorgen zu machen.

Auf dem Wasser fiel ich heute kurz in eine Art Trance. Es war, als wäre ich nicht mehr anwesend, sondern würde aus einem automatisierten Körper heraus paddeln, und mein Geist wäre fast wie im Schlaf abgeschaltet. Erst im Nachhinein wird mir dieses Phänomen bewusst, und ich frage mich, was dahinterstecken mag. Falle ich in eine Hypnose? Ist die Monotonie des Paddelns für den Geist dermaßen öde, dass er sich ausklinkt? Ist das der Zustand der Meditation, nach dem ich jahrelang in Dutzenden von Seminaren gesucht und den ich nur selten und kurz gefunden habe?

Die Hälfte der Strecke verbringen wir sitzend, da jede Welle im Stehen Kraft raubt. Zum Glück habe ich durch meine vielen Meditationsübungen gutes Sitzfleisch und die Technik des Schneidersitzes perfektioniert. Ich kann stundenlang so sitzen und verspüre kaum Schmerzen in den Knien oder Hüften. Bei Turtle ist das anders. Er muss mit ausgestreckten Beinen auf seinem SUP sitzen, womit seine Kraft nicht aus dem Rumpf, sondern aus den Armen kommt, was weitaus anstrengender ist. Statt Blasen an den Füßen hat er jetzt Abriebstellen in den Kniekehlen, die gegen die Antirutschauflage seines SUPs scheuern.

Heute ist im Gegensatz zu gestern wieder so ein Tag, an dem die Buchten kein Ende nehmen und an dem wir das Gefühl haben, kaum voranzukommen. Wir paddeln gefühlt Stunden an einem stillgelegten Atomkraftwerk vorbei und scheinen auf der Stelle zu stehen. Vielleicht ist die Strömung heute gegen uns, vielleicht fehlt uns auch der Rückenwind von gestern. Es ist zum Verzweifeln. Schließlich können wir beide kaum noch die Arme heben und geben unser angestrebtes Ziel, hinter einer kleinen Insel an einem langen Strand zu kampieren, auf. Stattdessen biegen wir eine Bucht vorher nach Armintza ein.

Es ist Sonntagabend, auf den Kaimauern sonnen sich Hunderte von Menschen, Kinder springen von Klippen ins Wasser und Luftmatratzen dümpeln im Hafenbecken. Wieder betreten wir diese seltsame Zwischenwelt aus Land und Meer, werden beäugt, bestaunt, von einer langen Welle erfasst und ins Hafenbecken getragen. Es ist schon fast zum Ritual geworden, dass wir unsere Bretter an irgendeinem Steg vertäuen, das erstbeste Restaurant aufsuche und dort Tapas essen. Kohlenhydrate und fettiger Fisch bringen am schnellsten wieder Energie und Leben in unsere Körper.

Es wäre mal wieder Zeit für ein Hotel, doch in dem kleinen Dörfchen gibt es nicht mal eine Herberge. Auch einen geeigneten abgelegenen Zeltplatz finden wir nicht. Wir hätten aber nicht die Kraft, abends noch mal alles zusammenzupacken und weiterzuziehen, wenn wir erneut von der Polizei verscheucht würden. Daher beschließen wir, ein Taxi zu rufen, das Meer für ein paar Kilometer zu verlassen und uns nach Galdakao an einen Fluss namens Ibaizabal bringen zu lassen, der nur ein paar Kilometer südlich von hier fließt und über den Nervión und die Ría de Bilbao bei Bilbao in der Biskaya endet. Ganz in Flussnähe befindet sich sogar eine Herberge.

 

Schon wieder lassen wir die Luft aus unseren Brettern, nehmen zum zweiten Mal ein Taxi und steigen völlig erschöpft in einem sozialistisch aussehenden zwanzigstöckigen Plattenbau ab und schlafen zehn Stunden in einem frisch bezogenen Bett.

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