Pilgern mit Paddel

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Aus der Reihe: Abenteuer & Fernweh
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Eines Morgens paddelte Turtle dann zu mir ins Line-up. »Weißt du eigentlich, dass du mir schlaflose Nächte bereitest?« »Ich?«, fragte ich unschuldig und hatte Angst, er würde mir irgendetwas unterstellen oder vorwerfen – auch wenn dies überhaupt nicht seine Art ist. »Ja. Du.« Dann lachte er. »Ich überlege ernsthaft, dich auf deiner Tour zu begleiten.« Jetzt musste ich auch lachen. Natürlich hatte ich daran gedacht, ihn zu fragen. Aber ich wollte ihn nicht in Versuchung bringen. Er hat Frau und zwei Kinder, eine Eventagentur, ein Haus, Freunde, Hobbys. Es ist schwer, ihn loszueisen, denn er ist dazu noch bodenständig.

Vor Jahren wollte ich ihn überreden, mit mir über den Atlantik zu segeln. Aber er war damals zu eingebunden und bereut bis heute, dieses Abenteuer versäumt zu haben. Wäre er mitgekommen, hätte ich allerdings die Geschichte mit dem kotzenden nordkoreanischen Soldaten nicht erlebt. »Es wäre für mich das Größte, wenn du mitkämst«, sagte ich zu ihm, und einen Tag später sagte er zu. Er bekam mein Ersatzbrett, und das weitere Equipment kauften wir für 200 Euro bei Decathlon.

Nach drei Stunden sehen wir die Bucht von San Sebastián deutlich vor uns. Der Hexenmeister hat noch mal ein paar Kohlen ins Feuer geworfen und den Kessel richtig zum Blubbern gebracht. Die letzte Stunde bis in die hintere Bucht von San Sebastián kostet mehr Kraft als drei Stunden SUPen bei ruhigen Bedingungen. (BILD 14)

In der Bucht kommt uns ein Ruderer entgegen. Mir käme es fast unwürdig vor, rückwärts auf einem viel zu kleinen Schlitten zu sitzen, vor und zurück zu rutschen und sich wie Sklaven einer Galeere in die falsche Richtung zu bewegen. Für mich ist das SUPen ein natürlicher, evolutionärer Schritt der Fortbewegung auf dem Wasser. Endlich stehen wir aufrecht auf einem schwimmenden Gegenstand und können in der natürlichen Position des Homo sapiens vorwärtskommen. Es ist tatsächlich wie Gehen auf dem Wasser; nicht mit der Kraft der Beine, sondern der Arme. Ich kann mich im Stehen besser orientieren, weiter schauen und fühle mich in meiner Haltung natürlicher und fast ein bisschen erhaben. Kajakfahren und Rudern sind für mich somit überholte Sportarten – auch wenn sie schneller unterwegs sind als ich. Aber in einer postmodernen Welt kann es nicht mehr um Geschwindigkeit gehen. Es geht darum, aufrecht zu sein – in allen Lebenslagen.

In einem historischen Hafen am östlichen Ende von San Sebastián steuern wir auf eine Rampe zu, betreten die weltberühmte Stadt vom Wasser aus und werden gleich von einem Kajakfahrer begrüßt. Edu war früher Profi, hatte sich fast im Wildwasserkajak für Olympia qualifiziert, ist 3.500 Kilometer um die gesamte Iberische Halbinsel herumgepaddelt und erklärt sich sofort bereit, unsere Bretter über Nacht im Lager des örtlichen Clubs zu verstauen. Für diese Begegnung gehe ich auf Abenteuertour. Solche Typen lerne ich nur unterwegs kennen. Spannende, weltoffene Menschen, die sich über Erlebnisse freuen, hilfsbereit sind und den größten Teil ihres Tages lächelnd verbringen und fast immer in der Natur sind.

Es beruhigt mich sehr, dass Edu unsere Tour für machbar hält. Mutig, weil wir es gegen den Wind versuchen. Aber eine Pilgerreise geht nun mal in Richtung Pilgerort und nicht umgekehrt. Außerdem könnten wir im August Glück haben. Die Chance auf Ostwind liege bei 50 Prozent. In mir steigt die Hoffnung, dass wir diese Tour tatsächlich schaffen können. Wir sind viel zu kaputt, um uns San Sebastián anzuschauen. Dabei soll die Stadt eine der schönsten Hafenstädte Europas sein. Aber wir haben einfach keine Kraft mehr.

Später liegen Turtle und ich in einer kleinen Pension in der Altstadt von San Sebastián. Und schon nach zwei Tagen dieser Tour weiß ich die Vorzüge unserer zivilisierten Welt wieder zu schätzen. Eine warme Dusche, ein frisch bezogenes, weiches Bett, unzählige Restaurants vor der Haustür, Spanisch sprechende fröhliche Menschen auf der Straße, fremde Düfte, T-Shirt-Wetter abends um zehn und das Gefühl, irgendwo weit weg und doch ganz bei mir zu sein. Und gleichzeitig weiß ich, dass diese voll befriedigte Welt das Begehren zunichtemacht. Wer immer nur das Wasser aus dem Hahn trinkt, weiß nicht, dass das Wasser aus dem Brunnen ein paar 100 Meter entfernt besser schmeckt.

3. TAG: SAN SEBASTIÁN BIS GETARIA

In Spanien geht die Angst vor einer neuen Coronawelle um. Auch von Zuhause warnen mich Freunde und Familie. Seit heute müssen wir hier immer und überall Maske tragen. (BILD 14) Schon gestern wunderten wir uns, dass unsere Bretter desinfiziert wurden, bevor wir sie in den Schuppen des Ruderklubs legen durften. In Zarautz, einem möglichen Ziel für heute, wurde ein Campingplatz unter Quarantäne gestellt. Es könnte insgesamt ungemütlich für uns werden – auch an Land.

Während ich die heutige Strecke auf Google Maps checke, entdecke ich den Orio, einen Fluss, der südlich von San Sebastián nach Westen führt. Er mündet bei Oria, nur eine Bucht vor unserem heutigen Etappenziel. »Wenn das klappt, küss ich dir die Stirn«, sagt Turtle, als ich ihm von der Flussidee erzähle. Wir können uns heute beide nicht vorstellen, wieder in dieser tosenden Suppe da draußen zu paddeln. Die Frage ist nur: Wie kommen wir zu dem Fluss?

Da Turtle wegen seiner Rückenprobleme morgens immer Yoga macht, entscheide ich mich, die Bretter aus dem Kanuschuppen zu holen und schon mal für den Transport Richtung Fluss vorzubereiten. Auf dem Weg komme ich an einer dieser wunderschönen uralten Kathedralen vorbei, wie sie in jeder größeren Stadt Spaniens zu stehen scheinen. Zufällig verlässt gerade eine Putzfrau die Kirche, und ich frage sie, ob ich kurz rein dürfe. Als sie verneint, mache ich ihr ein Zeichen, dass ich schnell beten müsse. »Una minuta«, probiere ich. Sie willigt ein, und ich habe die Kirche für mich.

Innen herrschen eine so heilige Stille und andächtige Atmosphäre, dass ich fast auf die Knie fallen möchte. Ich setze mich wie immer in die dritte Reihe, sage zur Abwechslung das Vaterunser auf – ich will die Frau nicht belogen haben – und warte auf die innere Ruhe oder auf irgendetwas, das in mir aufsteigen möchte. Plötzlich kommt ein Impuls aus dem Nichts, ich öffne die Augen, sehe Jesus am Kreuz über dem Altar hängen und weiß, dass der heutige Tag gesegnet ist. Vielleicht ist sogar die ganze Tour gesegnet – so fühlt es sich jedenfalls in diesem Moment an. Von mir aus mag das kitschig klingen und nur den Gespinsten meines Hirns entstammen. Das Gefühl aber ist da, tief in mir, und es zeigt mir deutlich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Beweisen lässt sich das natürlich nicht. Und trotzdem glaube ich fest daran, dass manche Ereignisse, Projekte oder Unternehmungen unter einem guten Stern stehen. Bei dieser Reise spüre ich seit heute genau das – vielleicht will ich es aber auch einfach nur spüren. Meine Seele – ich glaube auch an dieses Konzept mit ganzem Herzen – fühlt sich manchmal so leicht an, dass sie davonschweben möchte und mich bittet, ihr zu folgen und nicht zum hundertsten Mal Widerstand zu leisten und meinen Dickkopf durchzusetzen oder meinen Ängsten nachzugeben. Diese Reise, diese Pilgertour soll geschehen. Sie soll genau so stattfinden, wie sie es gerade tut. Und wenn dies alles stimmt, werden wir in vier Wochen in Santiago sein, ich werde dieses Manuskript eine Woche später abgeben und das Buch erscheint pünktlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober.

Bis dahin muss ich mir selbst aber noch ein paar Fragen beantworten: Was ist eigentlich meine Triebfeder, immer wieder über die Grenze hinauszugehen, das Äußerste auszuloten, Schmerzen, Hunger oder Einsamkeit zu ertragen? Warum muss ich immer wieder das Vertraute und Erreichte hinter mir lassen? Was machen diese Erfahrungen mit mir? Und warum muss ich sie ständig wiederholen? Was fasziniert mich auf dem vergeblichen Weg, hinter den Horizont zu schauen? Auf mich warten vier Wochen auf dem berühmtesten Pilgerweg der Welt. Die Antworten werden kommen.

Ich habe einen kleinen Ziehwagen dabei, der mir schon bei der Donau und ihren mehr als 200 Wehren und Schleusen die Reise gerettet hat. Ich spanne unsere Bretter und alles Gepäck auf das kleine Ding, hole Turtle ab, und gemeinsam ziehen wir das wenige Gut, das wir im Moment brauchen, über die Promenade von San Sebastián zum nächsten Taxistand. (BILD 15)

Der Taxifahrer schlägt zunächst die Hände über dem Kopf zusammen. Doch als er versteht, dass wir die Luft aus unseren Brettern lassen können, ist er begeistert und fährt uns direkt an den Oria zu einer perfekten Einstiegsstelle. Wir pumpen unsere Bretter wieder auf, sortieren unser Gepäck neu und fahren zum ersten Mal auf dieser Reise über ruhiges Gewässer, auf dem wir nicht nur stehen, sondern uns von Wind und Strömung in Richtung unseres Ziels treiben lassen können, ohne etwas tun zu müssen. Zum ersten Mal ist die Reise kein Kampf, sondern reines Vergnügen.

Wie ruhig der Fluss ist. Welches Glück er hat, dass er nicht das Meer ist und ständig tosen, brausen, steigen und sinken, Wellen schlagen, Boote schlucken und Küsten fressen muss. Wie muss es sich anfühlen, ein Fluss zu sein? Wie entspannt er uns auf sich treiben lässt. Wie freundlich von ihm, dass er uns einfach so aufnimmt. In aller Ruhe und Stille gleiten Berge und Dörfer vorbei, wir schauen Fischen beim Spielen zu, winken Bauern, wünschen Fischern viel Glück, bestaunen wilde Seegräser und kreisende Adler hoch oben über unseren Köpfen und speichern Hügelketten in ihrer sich verschiebenden Dreidimensionalität für immer in unseren Gehirnen ab. Diese Stunden auf dem Oria sind ein Segen für unsere Seelen. Wir gönnen uns einen Tag Pause vom Meer. Es ist, als würde ein Schalter umgelegt. (BILDER 16 & 17)

 

Überall fließen solche Flüsse durch Spanien. Wenn die See, die launische Diva, uns nicht will, dann nehmen wir ihre vielen Onkel und Tanten und schaffen es auf diesem Weg nach Santiago. Denn dieses Ziel werden wir nie aus den Augen verlieren.

Auf solchen Reisen scheint sich die Zeit zu dehnen. Gestern ist schon ewig lange her. Unsere Abfahrt in Frankreich erfolgte in einem anderen Zeitalter. Und dieser Fluss hat überhaupt keine Ahnung davon, was Zeit eigentlich ist. Er ist immer neu, fließt nie nicht, floss schon immer und wird immer fließen. Zumindest länger, als es uns Menschen geben wird. Wer sind wir schon, dass wir uns so viele Gedanken über die Zeit machen? Auf solchen Reisen scheint sich die Zeit zu dehnen – vielleicht, weil wir so viel Raum aufnehmen. Wir beschäftigen uns so viel mit den Weiten dieser Reise, den Landschaften und der Tierwelt, den Wäldern und dem Wasser, dem Licht und den Wolken. Wir gehen nie achtlos mit der Zeit um, die uns auf dieser Reise zur Verfügung steht.

Nach Stunden – wie viele es sind, wissen wir nicht – erreichen wir beseelt Orio. Hier mündet der Oria und ergießt sich für immer in das unendliche Meer, das sich heute überraschend ruhig zeigt. So ruhig, wie wir es auf dieser Reise noch nie gesehen haben. Wir essen schnell eine Pizza an einem Strandrestaurant, schicken Nachrichten über unser Wohlbefinden in die Welt und entschließen uns, am coronageplagten Zarautz vorbei nach Getaria zu paddeln. Denn dort gibt es einen Hafen. Häfen garantieren uns, dass wir auch bei hohem Wellengang am nächsten Tag raus aufs Meer können. Denn von einem Strand aus würden wir die Bretter mit Gepäck nicht gegen das Weißwasser der brechenden Wellen zurück aufs Meer bewegen können.

Ich bin ständig hellwach. Ich weiß nie, was hinter dem nächsten Kap lauert, wie der Wind in der nächsten Stunde bläst, wo sich ein vernünftiger Schlafplatz findet, ob es in der nächsten Bucht einen Supermarkt gibt. Jede Sekunde auf dem Meer zwingt mich in die Gegenwart. Meine Gedanken schweifen fast nie ab. Ich bin ständig präsent und nie entspannt. Das ist der große Unterschied zur Komfortzone, in der sich jeder auskennt, in der man keinen Eventualitäten begegnet. Der Gegensatz zu der Welt, in der alles durchgeplant ist.

Das Problem ist nur, dass wir unser westliches Leben auf räuberische Weise ausgebaut haben. Wir fahren riesige Autos, leben in überteuerten Angeberwohnungen, besitzen Kühlschränke so groß wie Kleiderschränke und kaufen mehr Klamotten im Jahr als Menschen vor 100 Jahren in ihrem ganzen Leben. Wir verschicken täglich mehr Nachrichten als unsere Ahnen in drei Generationen. Wir leben freiwillig in einem riesigen Menschenzoo, weil es uns in der freien Wildbahn zu gefährlich geworden ist. Und wenn jemand mal den Zoo verlässt, bekommt er von seiner Familie Mails voller Sorge, von seinem Arbeitsumfeld ein Kopfschütteln und von den meisten Menschen die Ferndiagnose »verrückt«. Wir sind schon so lange Käfiginsassen, dass unsere Spezies völlig vergessen hat, dass sich das wahre Leben außerhalb des Käfigs abspielt.

In den ersten beiden Tagen haben wir noch versucht, das ganze Plastik, das uns im Meer begegnet, in Müllsäcken zu sammeln. Wir lassen diesen hehren Umweltschutzversuch jetzt bleiben und geben auf. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Je näher wir den Städten kommen, desto verheerender ist die Plastikflut vor der Küste. Wir könnten dutzende 100-Liter-Beutel füllen und an Land bringen. Doch wer weiß, was mit dem Müll an Land geschieht. Es sind nicht wir Menschen, die so verdorben sind. Es ist ein System, das die Verdorbenheit erlaubt. Obwohl dem Meer so lange so viel Schaden zugefügt wurde, regeneriert es sich immer wieder. Vor allem die paar Monate des Lockdowns während der Corona-Epidemie waren für das Meer die beste Erholung seit 100 Jahren. Wir führen Krieg gegen die Tierwelt – und für ein paar Wochen herrschte Waffenstillstand. Zumindest teilweise.

Nach noch nicht einmal zwei Stunden erreichen wir den Hafen. Wir haben fast 5 km/h gemacht und sehen an diesem Tag zum ersten Mal, dass unser Ziel tatsächlich zu erreichen ist. Nördlich des Hafens verläuft ein steiler Weg zu einer Halbinsel. Turtle meint instinktiv, dass wir schauen sollten, ob es dort einen guten Zeltplatz gebe. Nach den ersten zwei Kurven wollen wir schon aufgeben, als ich den Impuls bekomme, noch eine Biegung weiterzugehen. Plötzlich sehen wir auf der linken Seite eine eingemauerte Empore mit Blick über die gesamte spanische Küste bis nach Frankreich. Wir haben den perfekten Zeltplatz gefunden, rollen Bretter und Gepäck nach oben und können unser Glück an diesem Tag überhaupt nicht fassen.

Wir schauen uns an, umarmen uns und Turtle gibt mir tatsächlich den versprochenen Kuss auf die Stirn. Mir wird in diesem Moment klar, dass dieses Abenteuer nicht nur eine Pilgerreise ist, sondern auch eine Geschichte über Freundschaft.

4. TAG: GETARIA BIS MUTRIKU

Wann beginnt eine Reise? Mit dem ersten Schritt oder dem ersten Paddelschlag? Mit der Anfahrt? Mit der Flugbuchung? Mit der Idee? Diese Pilgerreise begann jedenfalls schon lange vor dem ersten Paddelschlag, lange vor der Anreise. Sie begann im vergangenen Jahr bei einem Fahrradunfall. Mein Plan war damals, den nördlichen Jakobsweg zu Fuß entlang zu pilgern – nur eben an Land. Ich wollte 40 Tage reisen und hierüber ein Buch schreiben, das der Anfang einer Reihe werden sollte: 40 Tage Pilgern, 40 Tage im Wald, 40 Tage in der Wüste usw. Jedes Jahr ein Abenteuer, das genau 40 Tage dauern sollte.

Den Anfang hierfür hatte ich bereits 2012 mit meinem Buch 40 Tage Fasten gelegt. Ich hatte damals entschieden, für 40 Tage keine feste Nahrung zu mir zu nehmen – um Erleuchtung zu erfahren. Denn was Jesus kann, kann ich schon lange. Auch Moses, Buddha und weniger bekannte Heilige hatten für 40 Tage gefastet und waren danach in einen erweiterten Bewusstseinszustand eingetreten. Genau das war mein Ziel. Und vielleicht hatte ich diesen Zustand zwischendurch kurz erreicht, er hielt aber nicht lange an. Trotzdem fand ich die Quadragesima, wie die Kirche die 40-tägige Fastenzeit vor Ostern nennt, spannend und eine gute Basis für eine Buchreihe. Leider konnte ich im vergangenen Jahr meine 40 Tage Pilgern nicht antreten, da ich mir zwei Wochen vor der Reise zunächst den kleinen Zeh an einem Bettpfosten gebrochen hatte und kurz darauf eben jenen Fahrradun-fall hatte. Mein rechter Fuß war absurd geschwollen – Bänderdehnung innen –, mein Handgelenk arg lädiert, meine linke Körperhälfte blau und die Angst, für diese lange Wanderung nicht in Form zu sein, berechtigterweise gestiegen.

Mein weltlicher Freundeskreis meinte, dass ich ganz schön Pech hätte. Die spirituellen Freunde fragten sich und mich, was die Verletzungen und Unfälle wohl zu bedeuten hätten. Jemand meinte sogar, dass ich offensichtlich noch etwas daheim zu erledigen hätte und daher die Reise nicht antreten solle. Ich hingegen bin mir sicher, dass sich mein Unterbewusstsein vor der Wanderung drücken wollte und Selbstverletzungen in Kauf nahm, um nicht 800 Kilometer mit einem 15 Kilogramm schweren Rucksack an einem Meer entlang zu marschieren, dessen Wellen ich während der Reise nicht surfen kann. Da mein Unterbewusstsein den Status eines störrischen, rebellischen und insgesamt schlecht erzogenen Vierjährigen besitzt, wollte ich lieber auf den Erwachsenen in mir hören und mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen. Ich musste jedoch auch zugeben, dass die Strategie meines Unterbewusstseins ziemlich gut funktioniert hatte, und ich weiterhin vor allem mit dem rechten Fuß stark humpelte und bei jedem Schritt stechende Schmerzen verspürte.

Trotzdem flog ich von Hamburg nach Bordeaux, nahm den Bus nach Biarritz, traf mich mit einer alten Freundin, aß ein letztes üppiges Mahl in einem französischen Nobelrestaurant, humpelte ein paar Meter die Strandpromenade herunter und beschloss, am nächsten Morgen wieder zurückzufliegen. Es machte überhaupt keinen Sinn, mit diesem Fuß weiter als ein paar Hundert Meter zu gehen. Vor allem nicht 25 Kilometer täglich mit Gepäck über Stock und Stein, Berge hoch und runter, über enge Pfade, Wurzeln, Geröll und Felsen.

Als mein Telefon dann klingelte, ahnte ich nicht, dass dies der wahre Beginn der jetzigen Reise sein sollte. Eine Freundin war dran, mit der ich häufig auf der Kieler Förde SUPe. Ich erzählte ihr von meinem Entschluss, die Tour abzubrechen. Es entstand eine kurze, aber entscheidende Pause, und dann fragte sie mich, warum ich die Strecke nicht paddeln wolle. Also den Jakobsweg auf der Biskaya zurücklegen, wenn das mit dem Wandern schon nicht so klappen würde.

Ich fand die Idee brillant, aber in meinem Zustand nicht durchführbar. Auf dem Rückflug kämpfte ich mit den Tränen, hasste mich selbst für meinen Dickkopf und schwor mir, in Zukunft besser auf deutliche Zeichen wie einen verstauchten Fuß zu hören.

Doch die Idee, den nördlichen Jakobsweg zu paddeln, war geboren und wuchs stetig in mir. Ich fing an zu recherchieren, ob schon mal jemand den Jakobsweg über die Biskaya bewältigt hatte. Im Internet fand sich nichts. Konnte man die Biskaya überhaupt SUPen? Kaum eine Meeresregion hat einen schlechteren Ruf als die spanische Nordküste. Doch im Sommer schien ein solches Abenteuer zumindest nicht völlig unmöglich.

Als mein Fuß zwei Monate später, Ende August, endlich wieder schmerzfrei war, beschloss ich spontan, nach Bilbao zu fliegen und zwei Wochen auf dem Jakobsweg zu pilgern, die Energie dieser Strecke zu spüren und vor allem zu schauen, wie das Meer aussieht. An zwei Tagen lieh ich mir ein SUP und paddelte für ein paar Stunden die Küste entlang. Es ging. Die restliche Zeit wanderte ich und wusste, dass im kommenden Jahr ein gewaltiges Abenteuer auf mich warten würde.Und hier sitze ich jetzt – teilweise überwältigt vor Glück und dann wieder niedergeschlagen und fast verzweifelt, weil dieser Weg bisher größtenteils so hart war. Aber vielleicht soll ein Pilgerweg so sein.

Turtle und ich machen uns bereit für Tag vier, rollen unser Zeug von unserem Zeltplatz mit seiner herrlichen Aussicht zum Anlandesteg runter, trinken vor der Abfahrt noch schnell einen Kaffee in einem kleinen Laden am Strand und besprechen den Tag. (BILD 18) Als wir eine Viertelstunde später zurück am Hafen sind, ist mein Brett verschwunden. Panik breitet sich in mir aus: Jemand hat das Brett geklaut. Es liegt in einem Lkw auf dem Weg zum Verkauf. Jemand macht sich einen Scherz. Jetzt ist die Pilgerreise vorbei. Dieses Abenteuer soll doch nicht geschehen. Tausend solcher Gedanken rasen durch meinen Kopf, anstatt an das Naheliegendste zu denken: Das Wasser ist gestiegen, und mein Brett ist abgetrieben. Ich renne also um den Steg herum und sehe es brav und friedlich vor einem Ponton mit Fischerbooten treiben. Turtle runzelt kurz die Stirn, lächelt, steigt auf sein Brett und rettet die Situation in seiner ausnahmslos entspannten Art.

Noch sind wir völlig unerfahren in diesem Abenteuer. Wie viele Fehler liegen noch vor uns? Wie viel werden wir dazulernen? Wie häufig werden wir über uns selbst den Kopf schütteln? Das Schönste am Reisen ist, dass man nicht weiß, was man alles nicht weiß. Auf uns wartet ein ruhiges, friedliches, fast freundschaftliches Meer. An Stand-up-Paddeln ist zwar nur kurz zu denken, da die Biskaya weiterhin extrem schwabbelig und das Stehen auf Dauer viel zu anstrengend ist, aber es ist fast windstill und die Wellen rollen lang von der Seite.

Vor uns springt ein riesiger Fisch aus dem Wasser. Sofort machen wir unsere Angelleinen klar – einfache Schnüre mit Plastikfischen daran. Diese Köder lassen wir zu Wasser, um sie hinter uns herzuziehen. Die spartanischste und älteste Art, einen Fisch zu fangen. Heimlich hoffe ich allerdings, dass lieber kein Fisch anbeißen möge. Denn wie sollen wir den an Bord bekommen? Wie sollen wir ihn töten? Mit dem Paddel erschlagen? Wie transportieren? Wie zubereiten? Wir paddeln fünf Stunden, und alle Fische dieses Ozeans ignorieren unsere Köder. Wir beschließen, von jetzt an immer mit Köder zu paddeln. Es wäre aus Anglersicht fast unanständig, dieses Meer nicht um ein paar Fische zu erleichtern.

Das Paddeln geht so einfach heute, dass zwischendurch überwältigende Glücksgefühle in mir aufsteigen. Ich bin auf dem Wasser, was mich per se glücklich macht, sehe rechts von mir das unendliche Meer und links die dramatischen Berglandschaften des Baskenlandes. Aber ich traue dem Braten nicht – nicht auf einer Abenteuerreise. Ich weiß, wie schnell sich das Blatt wenden kann, denn ich habe schon so viel auf meinen Reisen erlebt. Da wir heute so großartig in Form sind, lassen wir unser angepeiltes Ziel, das Dörfchen Deba, links liegen und paddeln eine Bucht und eine Stunde weiter nach Mutriku. Der Hafen hier ist mehr eine Badeanstalt als Bootsanlegestelle. In riesigen Betonbecken spielen Dutzende von Kindern, die Erwachsenen liegen entspannt auf der Kaimauer und genießen den Freitagabend.

 

Es gibt zwei Welten an der Küste: die Welt des Meeres und die Welt des Landes. Beide berühren sich, werden aber nie eins. Sie werden immer getrennt bleiben und einen nicht enden wollenden Kampf ausfechten. In den meisten spanischen Küstenstädten sollen gewaltige, bis zu zehn Meter hohe Betonmolen das Land vor der Gewalt des Meeres schützen. Diese Wellenbrecher sind alle gleich gebaut und sehen aus, als hätte sie der Architekt aus Mordor, dem Sitz des Bösen im Herrn der Ringe, entworfen: Sie ragen Hunderte von Metern ins Meer hinein, sind aus dunklem Stein gebaut und bilden schlichte, klotzige Mauern, die der Wucht von sekündlich herandonnernden, mehrere Schwimmbecken fassenden Wellen standhalten müssen. (BILD 19) Diese Ungetüme wurden sämtlich mit EU-Mitteln gebaut und sollten Spaniens Dörfern mehr Schutz und gleichzeitig mehr Touristen bescheren. Doch die Touristen bleiben in den kleinen Orten wie Mutriku aus, ganze Restaurantzüge stehen leer und verfallen, Dutzende von Häusern stehen zum Verkauf und die Gebäude rund um den Hafen dürften dem nächsten Wintersturm nicht standhalten.

Noch ist mir Spanien ein Rätsel. Ich kenne Frankreich teilweise besser als Deutschland, da ich dort Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich liebe Italien, die Sprache, die Mentalität, das Essen. Aber Spanien? Zwar unter derselben südeuropäischen Sonne, ist die Sprache jedoch so hart wie das Leben, das Land schwer zu bestellen und die Küste so schroff, dass man sich gar nicht ausmalen mag, wie viele Boote hier schon zerschellt sind. Die Küstenorte scheinen sich dem Land anzupassen und wirken uralt, uneinnehmbar, unbezwingbar – aber eben nicht mehr zeitgemäß. Spanien scheint auf widerspenstige Art an seinen Traditionen festhalten zu wollen, selbst, wenn es seinen Untergang bedeutet. Auch die Menschen hier im Baskenland sind nicht per se freundlich. Zumindest die Kellnerinnen und Kellner würde ich als grob und schroff bezeichnen. Aber vielleicht ist es auch der Typ »raue Schale, weicher Kern«.

Auf einer nach EU-Norm angelegten Hafenterrasse spielt eine Band. Zwei junge Baskinnen singen traurige, berührende Lieder auf eine Weise, die mir Tränen in die Augen treibt. Wie kann eine Kultur so traurig sein? So tief und so verzweifelt? Fast brutal archaisch. Und wie können die Sängerinnen dabei so verzweifelt und gleichzeitig glücklich lächeln? Ist das hier noch Europa?

Wir fragen den Kellner, was er uns über das Baskenland erzählen kann. Irgendwie kommt uns das hier alles anders vor als im Rest des Kontinents. »Hier sprechen fast alle Baskisch und Spanisch«, erklärt er uns in flüssigem Englisch. »Die baskische Provinz erhielt Ende der 1970er-Jahre einen Autonomiestatus, sodass es sich recht frei von Madrid selbst regieren kann. Vielen reicht das aber noch nicht. Vor allem den Nationalisten. Sie wollen, dass das Baskenland ein eigener Staat wird. Aber das können die vergessen. Das wird Madrid nie und nimmer zulassen.« Er lacht und hält die Hände in die Luft. »Kann man nichts machen.« »Und wie sieht das mit der ETA aus? Gibt es die noch?«»Die ETA?«, fragt er und legt Sorgenfalten auf. »Das waren Schweine. Sie wollten die Loslösung von Spanien mit Gewalt erzwingen und haben das Gegenteil erreicht. Zum Glück gibt es die ETA nicht mehr.« »Glaubst du, dass ihr irgendwann einen eigenen Staat habt?«»Keine Ahnung. Es wäre schön. Wir haben die älteste Sprache Europas, eine einzigartige Kultur und nur sehr wenig mit dem Rest des Landes gemein. Warum sollten wir nicht ein freier Staat werden? Gleichzeitig: Wollen wir nicht lieber ohne Grenzen leben und diese Vielstaaterei aufheben?« Turtle und ich nicken zustimmend. Ich frage mich schon lange, warum sich jemand unbedingt durch Nationalität, Glaube oder Tradition vom Rest der Menschheit absondern will. Sind wir nicht langsam so weit, dass wir uns über unsere Gemeinsamkeiten definieren sollten und nicht über unsere Unterschiede?

Wir lauschen den Menschen am Nachbartisch. Die Sprache ist faszinierend und scheint so gar nichts mit romanischen oder germanischen Sprachen zu tun zu haben. Angeblich sprechen sie hier so, wie die Menschen vor Tausenden von Jahren. Neben Turtle und mir sitzen zwei Franzosen und lauschen ebenso ergriffen der fremden Musik. In einer der musikalischen Pausen kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Sie sind beide 85 Jahre alt, segeln jedes Jahr für drei Wochen auf dem Atlantik herum und schwören, dass sie das erst lassen werden, wenn einer von beiden stirbt. »Könnte unser letzter Törn sein«, sagt der eine und lacht. Turtle fragt nach ihrem Geheimnis, so alt zu werden und dabei so fit zu bleiben. Der etwas lautere, derbere Typ meint, das liege am Alkohol. Der andere, bescheiden wirkende, sagt: »Zu versuchen, ein glückliches Leben zu führen. Das ist der Trick. Nichts ist gesünder.« »Wie geht das?«, frage ich. »Dafür gibt es kein Patentrezept. Vielleicht wird es uns in die Wiege gelegt, ob wir ein glückliches Leben führen oder nicht.«»Was waren Sie von Beruf?«, frage ich weiter. »Arzt. Nichts hätte mich glücklicher machen können.«

Als wir den beiden erzählen, dass wir mit SUPs die spanische Nordküste entlangpilgern, erklären sie uns für verrückt. Aber wir seien ja jung, sähen trainiert aus und schienen die Sache durchziehen zu wollen. Das seien eigentlich gute Voraussetzungen. Dann verabschieden sie sich in der Hoffnung, uns morgen auf dem Wasser zu begegnen.