Eden

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6

»Natürlich wird es nicht funktionieren. Man kann ein Gebiet nicht einfach einzäunen und so tun, als wäre es damit zur Natur zurückgekehrt. Das ist so, als würde man an der Grenze zwischen zwei Ländern ein Schild aufstellen, auf dem steht: Kein ausländisches Wetter erlaubt. Aber man muss ihren Mut bewundern, es zu versuchen.«

Professor Marie Joyce, Aberystwyth University

Der Fluss fühlte sich auf der Eden-Seite kälter an. Poke hatte recht gehabt, er war nicht tief, und es gelang ihnen hindurchzuwaten, indem sie sich gegen die Strömung stemmten und ihre Füße vorsichtig auf das glitschige Flussbett stellten. Jenn spürte, wie etwas an ihren Beinen vorbeistrich und an ihrer Laufhose riss, aber als sie danach griff, war nichts da. Je weiter sie kamen, desto kälter wurde das Wasser. Als sie am gegenüberliegenden Ufer herauskletterte, indem sie sich an Pflanzen hochzog, klapperten ihr die Zähne und ihre Zehen waren taub. Den anderen ging es genauso. Sie klatschten in die Hände und liefen auf der Stelle, um Wärme zu erzeugen.

Als Jenn ihr Bein untersuchte, fand sie ein winziges Loch in ihrer Hose und einen Kratzer am Schienbein, an dem sich ein einzelner Blutstropfen bildete und herunterlief.

»Wir müssen vom Fluss weg«, sagte ihr Vater. »Da hinten, die Bäume an diesem Hügel dort geben uns Deckung. Ein kurzer Sprint wird uns aufwärmen. Dann sortieren wir uns und starten die Uhr.« Bei der Uhr handelte es sich genau genommen um eine wasserdichte Stoppuhr, die sich, eingewickelt in mehrere Schichten Plastik, sicher in seinem Rucksack befand. Er würde sie aktivieren, wenn sie mit ihrer Reise begannen, und anhalten, wenn sie Edens bergige Nordregion erreichten. Wenn alles nach Plan lief, würde dort ein zweiter Führer warten, um sie wieder hinauszubringen.

Jenn machte sich Sorgen deswegen. Vielleicht war Poke nicht die Einzige, die so offensichtlich Angst vor diesem Ort hatte. Sie hoffte inständig, dass der Führer, den ihr Vater angeheuert hatte, seinen Teil der Abmachung einhalten würde.

Unter seiner Führung begannen sie zu laufen, um sich aufzuwärmen und auch um schnell Deckung zu finden. Auf dieser Seite der Grenze waren keine Zeds oder Hubschrauber erlaubt, und auch ihre Robo-Drohnen waren in Edens Luftraum verboten. Aber wenn man sie entdeckte, bevor sie sich verstecken konnten, war Jenn nicht sicher, wie man mit ihrem Eindringen umgehen würde. Die Sicherheitskräfte der verschiedenen Zonen behandelten potenzielle Eindringlinge unterschiedlich. Aus der Dunkelroten Zone in Weißrussland hörte man immer noch von gelegentlichen Hinrichtungen.

Doch es gab drängendere Sorgen. Zum Beispiel, dass ihre Mutter irgendwo hier drin war und die Spannung, die diese Tatsache zwischen dem Team und ihr geschaffen hatte. Die Last zwischen ihrem Vater und ihr war immer irgendwie da gewesen, ein unausgesprochener Schatten, erschaffen durch Jenns begrenzten Kontakt zu ihrer Mutter und die Vermutungen ihres Vaters. Sie hätte es ihm sagen sollen, hatte aber nicht gewusst, wie er reagieren würde. Er hätte sie danach fragen sollen, doch sie war nicht sicher, ob sie ihm die Wahrheit gesagt hätte. Ihre Mutter hatte die Fotos per Handy nur an sie geschickt und sie fühlten sich sehr persönlich an, auch wenn sie stets ohne Kommentar gekommen waren – kein Betreff, keine Nachricht, nichts Persönliches oder auch nur Unpersönliches. Jenn hatte die Bedeutung des ersten Bilds herausgefunden, kurz nachdem sie es erhalten hatte, als sich herumgesprochen hatte, dass ihre Mutter und ihr Team einen Rekord für die Durchquerung der Jaguar-Zone aufgestellt hätten. Die Fotos feierten ihren Erfolg und sagten alles aus, was ihre Mutter zu sagen hatte. Die letzte Textnachricht war eine Absichtserklärung gewesen.

Vielleicht hätte sie ihnen alles sagen sollen, als sie die Chance dazu hatte.

»Wir sind drin«, verkündete Aaron. »Wir sind in Eden!«

»Es fühlt sich schon …«, begann Selina, doch ihre Stimme verlor sich.

»Wild an«, beendete Cove ihren Satz. »Mir gefällt es jetzt schon!« Er war der wildeste von ihnen, und vielleicht der unbesonnenste. Er hatte sich vor fast zehn Jahren dem kleineren Team ihrer Eltern angeschlossen, voller Abenteuerlust und romantisch-verklärter Ambitionen, die Welt zu sehen. Cove war immer wieder auf- und abgetaucht, aber in den letzten Jahren war er fokussierter geworden. Er trainierte inzwischen für The Endless, ein geheimes Rennen um die Welt, das durch einige der unwirtlichsten Landschaften des Planeten sowie mindestens vier Kriegsgebiete führte. Das Rennen hatte in den letzten zwanzig Jahren erst dreimal stattgefunden und siebzehn Teilnehmer waren dabei gestorben. Es hieß, nächstes Jahr würde das Rennen erneut stattfinden, in seiner bisher größten und schwersten Variante. Angeblich würde es die Teilnehmer durch jede der dreizehn unberührten Zonen des Planeten führen, sogar die kongolesische Tote Zone.

Sie erreichten die Deckung unter den Bäumen und begannen, einen flachen Hang hinaufzuklettern, immer tiefer in die Zone hinein. Irgendetwas störte Jenn, doch sie konnte nicht genau sagen, was. Sie horchte auf das Geräusch von Hubschraubern oder Drohnen und erwartete jeden Moment, dass ihnen eine Lautsprecherstimme zurief, sie sollten umkehren.

Sie genoss die Anstrengung des Aufstiegs. Das Team erinnerte sie an einen kleinen Vogelschwarm, einander bewusst und wachsam. An diesem Nachmittag wehte keine Brise und die Luftfeuchtigkeit war unangenehm. Sie trank einen Schluck Wasser und sah sich um. Aaron tat neben ihr das Gleiche. Er lächelte um die Trinkblase. Hinter ihm bewegten sich Lucy und Gee schnell und gleichmäßig.

»Das wird reichen«, verkündete ihr Vater und sie hielten an einer Felsformation. Zwischen den Steinen sprossen alle möglichen Pflanzen, die ihnen bis zur Taille reichten, eine Mischung aus Farnen und einem Dornengestrüpp, das sie nicht kannte.

Selina sah sich staunend um. In einer Hand hielt sie ein kleines Notizbuch, doch sie schien es vergessen zu haben.

Sie gingen tiefer in die Hocke, sodass über dem Meer aus Pflanzen nur ihre Köpfe und ihre Schultern sichtbar waren. Über ihnen zitterten die Baumkronen in der sanften Brise, die aufgekommen war, und die Blätter tanzten in zahllosen komplexen Mustern.

Jenn war mit jeder dieser Personen hier befreundet und sie hasste es, dass sie wütend auf sie waren. Sie hoffte, dass sie gut genug befreundet waren, dass diese Wut verrauchen würde.

Sie horchten auf die Geräusche von Verfolgern. Es gab keine.

Tatsächlich war überhaupt nichts zu hören.

»Was zum Teufel?«, flüsterte Gee und sprach damit aus, was Jenn dachte.

»Nichts«, sagte Aaron. Ohne zu blinzeln, drehte er sich nach links und rechts.

»Ich habe noch nie einen so stillen Wald erlebt«, stellte Selina fest.

»Es ist, als wüssten alle, dass wir hier sind«, sagte Jenn. Diese Gedanken auszusprechen ließ sie noch beunruhigender werden. Der Wald war still, aber nicht weil nichts da wäre, um ein Geräusch zu machen. Es war das Schweigen eines angehaltenen Atems, ein Wimpernschlag zwischen zwei Momenten.

»Wo sind die Vögel?«, fragte Lucy. »Die Tiere?«

»Sie sind hier«, sagte ihr Vater. »Überall um uns herum. Schaut.« Er deutete in die Äste eines in der Nähe stehenden Baums und zuerst konnte Jenn nichts sehen. Dann verwandelte sich eine Form, bei der es sich um einen Zweig hätte handeln zu können, in den Umriss eines großen Vogels, vielleicht eines Greifvogels. Plötzlich bemerkte sie weitere Formen im Blätterdach über ihnen, Vögel, die sie schweigend anstarrten.

»Sie beobachten uns«, erkannte Jenn. »Fliegen aber nicht weg.«

»Warum sollten sie auch?«, fragte Selina lächelnd. »Sie wissen nicht, dass sie Angst vor uns haben sollten. Möglicherweise sind wir die ersten Menschen, die einige von ihnen zu sehen bekommen, und je tiefer wir hineingehen, umso mehr wird das der Fall sein.«

Die Vorstellung gefiel Jenn. In anderen Zonen hatte sie Ähnliches beobachtet, aber nie so etwas wie das hier.

»Es ist, als ob sie über uns reden würden«, sagte Lucy. In Anbetracht der absoluten Stille eine seltsame Bemerkung.

»Sind wir bereit?«, fragte Jenns Vater, überzeugt davon, dass ihr Eindringen nicht entdeckt worden waren. Er stand auf, nahm seinen Rucksack ab, um die Stoppuhr herauszuholen, und drängte sie damit, sich auf den wahren Beginn ihrer Reise vorzubereiten. Er war ein großer Mann mit großer Lebenserfahrung, der viele Geschichten erzählen konnte, und Jenn liebte ihn von ganzem Herzen.

»Bereit«, sagte Jenn und erhob sich. Die anderen standen ebenfalls auf und bildeten einen Kreis um Dylan, während er die Stoppuhr auf null stellte. Es war eine alte Analoguhr, die er auf einem Basar in Ägypten gefunden hatte, über hundert Jahre alt und immer noch zuverlässig. Auf der Rückseite war etwas in fremder Sprache eingraviert, das er nie hatte übersetzen können, und Jenn wusste, dass ihn das glücklich machte. Es war ein Geheimnis, das er mochte. Anders als das Geheimnis seiner verschwundenen Frau, und Jenn spürte einen Stich im Herzen, als er sie ansah und sich zu einem Lächeln zwang.

»Fünf …«, sagte ihr Vater.

»Gott steh uns bei«, betete Aaron.

»Vier …«

»Wir schaffen es«, sagte Cove.

»Drei …«

»Ich will nach Hause.« Gee grinste.

»Zwei …«

Eine letzte Sekunde friedlicher Ruhe.

»Eins.« Er drückte den Startknopf und für ein paar Sekunden konnte Jenn das beständige Ticken der Uhr hören.

Geschlossen zogen sie los.

7

»Als unberührte Zone hält das Green Valley mehrere wichtige Rekorde. Es ist die kleinste der Zonen und umfasst zu einem Großteil das, was einst Pembrokeshire und seine Küstenlinie war. Es wurde im kleinsten Land der Welt eingerichtet. Es hat die wenigsten Verhaftungen und Anklagen wegen illegalen Eindringens pro Jahr. Die anfänglichen Unruhen und Zwangsumsiedlungen von dreitausend Menschen waren traumatisch, die Protestgruppen blieben etwa ein Jahrzehnt lang aktiv und ein sehr kleiner Teil von ihnen unternahm eine Reihe von Terrorangriffen gegen Sicherheitspersonal und die Regierung, die das ganze Konzept unterstützte. Doch die Menschen von Wales sind überaus belastbar und weiterhin stolz auf ihre führende Rolle im Internationalen Abkommen zu den unberührten Zonen.«

 

Auszug aus Unser grünes Gras, Welsh Government Press

Jenn rannte.

Darum waren sie hier und sie war gut darin. Sie war wahrscheinlich die beste Dauerläuferin unter ihnen. Sie war bereits fünfzehn Bergmarathons gelaufen, dabei war sie erst Mitte zwanzig. Zwei davon hatte sie in ihrer Altersgruppe gewonnen, doch als sich die Gelegenheit ergeben hatte, ins Profilager zu wechseln, hatte sie es abgelehnt. Ihr Vater fühlte sich teilweise dafür verantwortlich, doch sie wurde immer wütend, wenn er es erwähnte. Sie war durchaus in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und hatte von klein auf ein Leben voller Unabhängigkeit und Abenteuer geführt, ein Lebensstil, den ihre Eltern ihr auferlegt hatten. Doch Jenn hatte sie dafür nie verurteilt.

Nachdem ihre Mutter auf Nimmerwiedersehen gegangen war, hatten ihr Vater und sie ihr ungewöhnliches Leben voller Reisen und Erforschungen fortgesetzt und sich immer nur kurz in ihrer Mietwohnung in Edinburgh aufgehalten. Ein anderes Leben konnte sie sich nicht vorstellen.

Jenn übernahm nur selten die Führung, wenn sie liefen, weil sie ein zu hohes Tempo vorgeben würde und einige der anderen am Ende von Tag eins bereits völlig erschöpft sein würden. Selina lief voran, dann die anderen, während Lucy und Gee das Schlusslicht bildeten. Jenn folgte dicht hinter Aaron, manchmal so dicht, dass sie sein schweres Atmen hören konnte. Gelegentlich überholte sie ihn zum Spaß, sprang um ihn herum, hüpfte von einem Felsen auf einen umgestürzten Baum, um vor ihm zu landen, und nahm kichernd seinen Platz ein.

Lucy war versiert darin, die beste Route zu finden, um eine Landschaft zu durchqueren. Sie hatten nur einen Kompass dabei – ein weiterer Aspekt, um diese Expedition so reduziert wie möglich zu halten – und sie trug ihn an ihrem rechten Handgelenk, auch wenn sie nur selten darauf sah. Sie liebte ihre technischen Spielereien, rühmte sich als Teil des Teams jedoch, auch ohne überleben zu können. Orientieren konnte sie sich mithilfe ihrer Armbanduhr und der Position der Sonne, dem Polarstern in einer wolkenlosen Nacht oder dem Moos, das an Bäumen wuchs. Während Selina die Landschaften, durch die sie kamen, eher wissenschaftlich betrachtete, war Lucy auf unschuldige Weise beeindruckt und verbrachte jeden Abend im Lager eine Stunde damit, Notizen zu schreiben. Es wurde nur selten angesprochen, aber allen war klar, dass sie an einem Buch über ihre Abenteuer als Team schrieb.

Selina führte sie den ersten bewaldeten Hang entlang, anstatt direkt hinaufzusteigen. Es war eine längere Route, die aber energiesparender war. In den Bäumen um sie herum hielt das Schweigen an und auch wenn Jenn sich im Rausch des Laufens zu verlieren versuchte, kribbelte die Überzeugung, dass sie beobachtet wurden, in ihrem Nacken. Sie zweifelte dieses Gefühl nicht an. Im Laufe der Zeit hatte sie gelernt, dem zu vertrauen, was Comicfan Gee als seinen Spinnensinn bezeichnete. Einmal hatte ein solches diffuses Gefühl Jenn das Leben gerettet, als ein Schneefeld, das Aaron und sie in den Anden überqueren wollten, von einer Lawine weggerissen worden war. »Ich wollte hier einfach eine Weile warten«, hatte sie später gesagt, als das Dröhnen und Krachen der Lawine durch die Berge hallte.

Sie würde es niemals Vorahnung nennen. Jenn war überzeugte Rationalistin und sie wusste, dass sich der sogenannte sechste Sinn oft aus einer Fülle von Mikrodaten zusammensetzte. Möglicherweise hatte sie auf diesem Schneefeld in den Bergen unbewusst das weit entfernte Knacken von Eisplatten gehört, die Vibration der Risse gespürt oder die plötzliche Panik oder Abwesenheit von Tieren wahrgenommen, die besser an das Leben in den Anden angepasst waren. Ihr Unterbewusstsein hatte ihr eine Botschaft geschickt und der wahre sechste Sinn bestand darin, in der Lage zu sein, darauf zu hören.

Sie sah sich im Laufen um, lauschte auf die Stille und suchte nach Bewegungen. Sie begann zu fürchten, dass es hier Überwachungstechnik gab – in den Bäumen versteckte Kameras, durch unsichtbare Drähte oder Fallen ausgelöste Alarme, Bewegungsdetektoren, die Signale über den Fluss zurück in eine der Sicherheitsstationen der Zeds schickten.

»Da ist nichts«, sagte Aaron, der ihre Sorge spürte.

»Es ist einfach so seltsam«, erwiderte sie.

»Das stimmt.« Er lief neben ihr und als Selina sie in Richtung einer Kammlinie ein paar Hundert Meter über ihnen führte, verfielen sie alle in Gehgeschwindigkeit. »Meine Eier kribbeln.«

»Das kommt von zu viel Sportsalbe«, sagte Gee von vorn.

»Oder zu wenig von etwas anderem«, ergänzte Cove. »Du kümmerst dich doch um deinen Mann, Jenn?«

»Leute«, mahnte ihr Vater. »Ihr redet hier von meiner Tochter.«

»Ihr zwei seid verwandt?«, sagte Gee in gespielter Überraschung. »Aber sie ist so talentiert, attraktiv, intelligent, fit, charismatisch …«

»Ich schmeiß dich gleich vom Berg«, drohte ihr Vater.

»Kreativ. Energiegeladen.«

»Ich warne dich.«

»Dafür musst du mich erst mal fangen, Glatzkopf!« Gee flitzte an ihrem Vater vorbei, schnipste ihm dabei mit seiner guten Hand an den Hinterkopf, duckte sich, um einem Schlag auszuweichen und schoss an Selina vorbei den Hang hinauf.

Sie gingen schweigend weiter, doch nachdem die Stille einmal unterbrochen worden war, wirkte sie jetzt noch bedrückender.

»Ich war noch nie an einem solchen Ort«, sagte Jenn. »Dad? Sonst jemand?«

»Das ist nur, weil wir uns so darauf konzentrieren«, erklärte Lucy. »Oder, Selina?«

»Könnte sein«, antwortete Selina. »In der Zona Smerti war es auch so.«

»Ja, aber das hier fühlt sich anders an«, beharrte Jenn.

»Wie anders?«, fragte ihr Vater. Jenn konnte sehen, dass er ihrer Meinung war, und wenn sie unter sich gewesen wären, hätte er freier darüber gesprochen. Doch in der Gruppe wollte er die positive Stimmung nicht untergraben.

»Die Zona Smerti fühlte sich wie etwas an, das die Menschheit vergessen wollte«, versuchte Jenn, es zu erklären. »Und so sollte es auch sein, denn dafür wurden die Zonen ja eingerichtet. Es zeigt, dass sie funktionieren.«

»Es ist erstaunlich, dass die meisten von ihnen funktionieren«, bemerkte Cove. »Wenn man bedenkt, wie Menschen sind.«

»Klar«, sagte ihr Vater. Dann sah er wieder zu Jenn. »Aber?«

»Aber Eden kommt mir wie ein Ort vor, der niemals Menschen gekannt hat.«

Niemand antwortete darauf und ein paar Minuten später erreichten sie einen niedrigen Hügelgipfel, der nicht nur eine gute Sicht in die Richtung bot, aus der sie gekommen waren, sondern auch ein Panorama auf das, was vor ihnen lag. Sie bewegten sich über den Hügel, ohne anzuhalten, um nicht doch noch von jemandem an der Grenze, die nur ein paar Kilometer entfernt lag, entdeckt zu werden. Sie pausierten unter einem Felsvorsprung, standen schweigend nebeneinander und betrachteten Eden.

»Erinnert mich ein bisschen an die Rockies«, sagte Aaron.

»Ja«, erwiderte sie zurückhaltend. Es war eine Weile her, dass sie darüber gesprochen hatten.

»Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Nach Eden natürlich. Um diese Langstreckenschule aufzubauen. Und unsere Füße wieder in Ordnung zu bringen.«

Jenn lächelte und zuckte mit den Schultern. Sie hatten darüber gesprochen, sich in Boulder niederzulassen, um dort für das, was sie liebten, bezahlt zu werden. Um Wurzeln zu schlagen. »Du hast recht. Vielleicht ist es so weit«, sagte sie. »Wenn wir hier fertig sind.«

Vor ihnen lag das wilde Land, riesig und wunderschön. Jenn blinzelte und fragte sich, ob sie träumte. Die Aussicht hatte eine Tiefe an sich, die Geheimnisse und Schmerz versprach. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als Aaron seine Schulter an ihre drückte. Eden war, wie sie erwartet hatten, stark bewaldet. So weit sie sehen konnten, gab es keine Hinweise auf Menschen, auch wenn sie wussten, dass es sechs Städte und Dutzende kleinerer Gemeinden gab, die verlassen worden waren, als man vor über fünfzig Jahren die erste der unberührten Zonen eingerichtet hatte. Auf dieser Seite führte der Hügel in ein breites, flaches Tal, das rechts und links von hohen Kämmen eingegrenzt wurde, die zu einer entfernten Hügelkette führten, die wiederum in das erste von Edens zahlreichen Gebirgen überging. Ihr Plan lautete, dem Tal zu folgen und so flach aufzusteigen, wie sie konnten, um den Berg in zwei Tagen zu überwinden. An diesem Punkt wären sie bei Tag fünf ihrer Reise.

Ihre Routen basierten auf über fünfzig Jahre alten Karten. Ihr Vater hatte es genaustens geplant, Wochen über alten Papierkarten gegrübelt und das Internet nach weiteren Bildern durchsucht. Die grundlegende Geografie des Gebiets mochte sich nicht geändert haben, das Terrain aber mit Sicherheit. Sie würden hier weder Straßen noch alte Wanderwege oder Bergpfade finden. Jenn wusste aus Erfahrung, ganz gleich was das Team auf dieser Expedition zu erwarten glaubte, es würde überrascht werden.

»Wunderschön«, sagte Selina und wieder verspürte Jenn diesen Schwindel, ein Ausdehnen der Luft und der Welt, bis ihre Umgebung unerträglich weit und sie selbst so klein war, dass sie sich kaum noch bemerkte. Ihr wurde übel.

»Alles in Ordnung?«, fragte Aaron.

»Jaja.« Sie trank einen Schluck Wasser. »Ich kann es nur nicht erwarten, endlich loszulegen. Dad?«

Ihr Vater nickte ihr zu. »Ja. Wir haben noch nicht mal richtig angefangen. Warum zum Teufel steht ihr rum und spielt an euch rum?«

»Weil es sich anfühlt wie jemand anders«, erwiderte Gee und hob seine linke Prothesenhand. Sein alter Witz ließ die anderen aufstöhnen und es war Gee, der die Führung übernahm und lachend den Abstieg begann.

Hinter ihnen verlor sich die bekannte Welt, als sie sich ins Herz von Eden aufmachten.

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