Atemlos in Hannover

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Kapitel 7

Sonntag, 13. Mai

In ihrem Dienstwagen, einem grauen VW Passat, waren Andrea Renner und Raffael Störtebecker gegen 17:30 Uhr auf dem Weg nach Hannover-Kirchrode. Andrea saß am Steuer, Raffael auf dem Beifahrersitz. Wenn sie in den vergangenen Jahren mit Thomas Stelter unterwegs gewesen war, hatte er es sich nie nehmen lassen, den Dienstwagen zu steuern. An dieser Stelle merkte sie wieder, dass die alten Zeiten mit Thomas vorbei waren.

Raffael las ihr Passagen aus einem Zeitungsartikel der Hannoverschen Nachrichten vor, der knapp zwei Wochen alt war. Kollegen hatten den Artikel im Internet entdeckt und ihn Andrea und Raffael als PDF-Datei aufs Smartphone geschickt.

Der Artikel enthielt interessante Informationen über die getötete Frau.

Dr. Nadine Odem war seit Kurzem Vorstandssprecherin des hannoverschen Bankhauses Berlinger, einer vor hundert Jahren gegründeten und immer noch im Familienbesitz befindlichen Privatbank mit derzeit hundert Mitarbeitenden. Der Aufsichtsrat der Bank hatte Nadine Odem wegen „kontinuierlich überdurchschnittlich guter Leistungen“ auf diesen Posten berufen, wie es hieß. Die Frau war zwanzig Jahre im Bankhaus Berlinger beschäftigt gewesen und hatte berufsbegleitend Betriebs- und Volkswirtschaft in Hannover studiert.

Der Zeitungsartikel ging in der zweiten Hälfte auf Nadine Odems Privatleben ein. Sie war mit einer Berufsschullehrerin verheiratet, hatte keine Kinder. Außerdem wurde erwähnt, dass sie regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit kam, gerne im Garten arbeitete und am Wochenende seit einem Dreivierteljahr mit großer Begeisterung ihr Hobby Geocaching ausübte. „Ich bin aufs Geocaching aufmerksam geworden durch Menschen, die alle an meinem Gartenzaun auffällig unauffällig nach etwas suchten“, wurde sie in dem Artikel zitiert.

*

Mareike Keppler saß zusammengesunken in einem Sessel ihres Wohnzimmers und wischte sich zwischendurch immer wieder eine Träne aus dem Gesicht. Die Nachricht von der gewaltsamen Tötung ihrer Ehefrau hatte sie sehr mitgenommen.

Andrea Renner und Raffael Störtebecker hatten auf einem Sofa ihr gegenüber Platz genommen. Der geflieste Raum wirkte modern und freundlich eingerichtet, mit liebevollen kleinen Details, was die Dekoration in der Schrankwand und auf dem Fensterbrett im Erker anging.

Alles sieht so harmonisch aus, ging Andrea durch den Kopf. Und jetzt kommen wir mit unserer Todesbotschaft und machen alles kaputt.

Mareike trug eine modische beigefarbene Bluse mit Kelchkragen zur schwarzen Jeans.

Sie ist eher die Elegante, Nadine die Sportliche.

Mittlerweile hatte sich Mareike so weit gefangen, dass sie sich in der Lage sah, Andreas Fragen zu beantworten. Raffael nahm die Rolle des stillen Beobachters ein. Mit Mareikes Einverständnis hatte er ein kleines Aufzeichnungsgerät auf dem Wohnzimmertisch postiert, um das Gespräch, wie bei Zeugenbefragungen üblich, mitzuschneiden.

Seit fünf Jahren lebten Nadine Odem und Mareike Keppler zusammen, seit einem Jahr waren sie verheiratet.

„Ich hatte auf sie gewartet und mir Sorgen gemacht, obwohl es schon manchmal später geworden ist, wenn sie ihre Geocaches gesucht hat“, äußerte Mareike und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre mittellangen braunen Haare. „Ich hatte heute Nachmittag bereits versucht, sie auf dem Handy anzurufen, aber sie ging nicht dran.“

Nach Mitteilung von Mareike hatte sich Nadine nicht mit einem anderen Geocacher zu ihrer letzten Tour verabredet.

Andrea erkundigte sich, wann genau Nadine das Haus verlassen und was sie zu dem Zeitpunkt bei sich gehabt hatte.

Anscheinend hat der Täter seinem Opfer tatsächlich nichts entwendet.

„Ich mache mir solche Vorwürfe“, stieß Mareike hervor. „Sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme. Und ich habe abgelehnt.“

Andrea versuchte vergeblich, Mareike zu beschwichtigen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre Nadine nicht ermordet worden, wenn ihre Frau sie begleitet hätte. Aber woher hätte Mareike das ahnen sollen …?!

Ihre Ehe bezeichnete Mareike als glücklich und insgesamt konfliktfrei.

Andrea stellte die klassische Frage: „Hatte Ihre Frau Feinde?“

„Nadine war immer ein freundlich zugewandter Mensch. Ich weiß nichts von Feinden.“

„Verärgerte Bankkunden …?“

„Dass wir keine Feinde haben, können Sie schon daran ablesen, dass Nadine nie einen Grund dafür gesehen hat, unsere Adresse aus dem Telefonbuch löschen zu lassen. Die Verpixelung unseres Hauses bei Street View haben noch die Vorbesitzer veranlasst.“

Ich in Nadines Position hätte das anders gehandhabt. Aber ich beschäftige mich auch täglich mit den bösen Seiten des Lebens.

Andrea fragte weiter in diese Richtung: „Hat Ihre Frau nie Konflikte am Arbeitsplatz erwähnt? Schließlich war sie Vorstandssprecherin einer Bank. Gab’s da keine Neider?“

„Na ja, es hatten sich wohl noch andere Hoffnungen auf diesen Posten gemacht. Aber von einem ernsthaften Konflikt ist mir nichts bekannt.“

„Stress mit Nachbarn, Bekannten oder Verwandten?“

Mareike schüttelte den Kopf.

„Und die Tatsache, dass Sie beide als …“, Andrea zögerte kurz, „… als gleichgeschlechtliches Paar zusammenleben, hatte nie zu problematischen Reaktionen Ihrer Umwelt geführt…?“

„Zugegeben, wir haben immer wieder mit Menschen zu tun, die eine lesbische Beziehung für eine psychopathische Fehlentwicklung halten.“ Mareikes Stimme gewann an Kraft und Lautstärke. „Aber die Phase, wo wir uns verstecken mussten, haben wir lange hinter uns gelassen. Nadines Bankhaus und die Berufsschule, an der ich arbeite, haben auf jeden Fall mit unserer Lebensweise keine Probleme.“ Sie lachte bitter. „Die sehen uns eher als Aushängeschild für ihr modernes Diversity-­Konzept.“

„Sie waren als lesbisches Paar“ – Andrea griff auf Mareikes Wortwahl zurück – „also keinen erkennbaren Anfeindungen ausgesetzt?“

„Nein.“

Keine Konflikte, scheinbar alles in bester Ordnung? Dennoch ist Nadine Odem Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Zufällig?

Andrea kam noch einmal auf Nadines Hobby zurück: „Gibt es zwischen Geocachern so etwas wie Konkurrenzkämpfe?“

„Bestimmt keine, wo der eine den anderen umbringt. Nadine hat immer davon gesprochen, wie freundlich und zugewandt Geocacher miteinander umgehen. Vor ein paar Tagen war zuletzt einer an unserem Gartenzaun, und Nadine hat ihm Tipps zu dem Geocache in der Nähe unseres Grundstücks gegeben.“

„Kannten Sie den Mann?“

„Nein. Nadine hatte die Vermutung, er wäre schon zwei Tage zuvor da gewesen. Jedes Mal hat er in unseren Garten geschaut. Beim ersten Mal war er schon weg, bevor Nadine ihn ansprechen konnte.“

Andrea fiel sofort der Zeitungsartikel wieder ein. So etwas war in der Vergangenheit offenbar schon öfters vorgekommen und nicht unbedingt etwas Besonderes. Trotzdem ließ sie sich von Mareike genau schildern, was sie wann beobachtet hatte.

„Eigentlich habe ich von dem Mann nur den schwarz-weißen Fahrradhelm erkannt“, bekundete Mareike. „Gesicht, Größe und Alter konnte ich durch die Büsche von meiner Position aus nicht erkennen. Nur Nadine ist an den Zaun gegangen und hat kurz mit ihm gesprochen.“

„Können Sie etwas zu seiner Stimme sagen?“

„Er hat nur wenig und leise gesprochen. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Denken Sie denn, der Mann könnte mit dem Mord etwas zu tun haben?“

„Es geht mir zunächst nur um die Sammlung von Fakten.“

„Mir fällt ein, dass der Mann gerade zu dem Zeitpunkt am Zaun stand, als Nadine mich auf ihre geplante Fahrradtour heute ansprach.“

„Könnte er verstanden haben, worum es in Ihrer Unterhaltung ging?“

„Weiß nicht … schon möglich.“

Leider hatte Nadine gegenüber ihrer Frau keine weiteren Angaben zu dem Mann gemacht. Es war auch unklar, ob der Mann nach dem kurzen Gespräch mit Nadine den Geocache in der Nähe des Hauses gefunden und sich in das Logbuch eingetragen hatte.

Auch wenn nachher nichts dabei herauskommt, dachte Andrea, wir werden das Logbuch des Geocaches überprüfen lassen.

Andrea und Raffael ließen sich im Anschluss an die Befragung das häusliche Arbeitszimmer von Nadine zeigen, um dadurch einen weiteren persönlichen Eindruck von der Toten zu bekommen. Das ganze Zimmer inklusive Schreibtisch wirkte penibel aufgeräumt.

Mareike Keppler war sofort damit einverstanden, dass Andrea Nadines Notebook im Rahmen ihrer Ermittlungstätigkeit mitnahm. Die Datenauswertung des Notebooks oder PCs eines Mordopfers konnte bei der Erforschung des Tatmotivs hilfreiche Hinweise geben.

Nicht, dass wir noch übersehen, dass die Ermordete Erpressermails erhalten und aus Rücksicht auf ihre Ehepartnerin verschwiegen hat …

Kapitel 8

Montag, 14. Mai

Kriminalhauptkommissar Thomas Stelter leitete als Ermittlungsführer die neu gebildete Mordkommission Dr. Odem. Am frühen Morgen hatte er das zusammengestellte Ermittlerteam, das aus einer größeren Anzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestand, in den Konferenzraum des Kommissariats 1 im vierten Stockwerk ihres Dienstgebäudes gebeten.

Die bisher vorliegenden Ergebnisse im Mordfall Nadine Odem wurden vorgestellt.

Der Leichnam der Frau war kurz vor fünfzehn Uhr von den beiden Geocachern gefunden worden. Die Route, die die Frau ab kurz nach zwölf Uhr zwischen Kirchrode und ihrem Tötungsort zurückgelegt hatte, war rekonstruierbar mithilfe der Auswertung der Funkverbindung ihres Smartphones, ihrer digitalen Einträge in die Logdatei der Geocaching-App und ihrer handschriftlichen Vermerke in den Logbüchern der gefundenen Geocaches. Die Daten der Smartwatch, nach denen der Tod gegen 12:45 Uhr eingetreten war, passten vom Zeitverlauf her genau zu der von Nadine Odem bis dahin zurückgelegten Strecke.

 

Bei der Tötungsart zogen die Ermittler vorrangig einen männlichen Täter in Betracht, aber eine Frau konnte nicht sicher ausgeschlossen werden.

Spuren, die eindeutig dem Täter zugeordnet werden konnten, gab es bisher nicht.

Das Motiv der Tat war völlig unklar.

War Nadine Odem im Wald zufällig auf einen psychopathischen Killer gestoßen? Gab es vorher keine persönliche Verbindung zwischen Täter und Opfer, und die Frau war tragischerweise zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen? Oder hatte ihr jemand gezielt aufgelauert oder war ihr gefolgt, mit der Absicht, sie zu töten? Und wer kam dafür infrage? Eine Person aus ihrem privaten oder beruflichen Kontext? Ein Auftragskiller?

„Wir müssen auf jeden Fall in alle Richtungen ermitteln“, bekräftigte Thomas Stelter.

*

Andrea Renner ließ ihren Blick langsam durch den weit­räumigen und imposanten Empfangsbereich schweifen. Zwei Kunden saßen auf einem der bequem aussehenden Sessel im Wartebereich und guckten zu ihr herüber. Zusammen mit Raffael Störtebecker stand sie am zentralen Empfangstresen im Erdgeschoss des Bankhauses Berlinger.

Bei der Nennung seines Familienamens hatte Raffael den Nachsatz hinterhergeschoben: „Nicht wie der Pirat oder das Bier, sondern ein -becker mit ck.“ Was wirklich niemanden interessierte, wie Andrea im Stillen vermutete. Zumindest der Mitarbeiter am Empfang hatte lediglich ohne Kommentar die Stirn gerunzelt.

Die Privatbank befand sich direkt in der hannoverschen City, in unmittelbarer Nähe vom Kröpcke.

Andrea und Raffael warteten darauf, zu einem Mitglied des Vorstandes gebracht zu werden, nachdem der zuvorkommende Mitarbeiter hinter dem Tresen mit dem Vorstandssekretariat telefoniert hatte.

Eine Frau Mitte dreißig in einem dunkelblauen Kostüm kam auf sie zu, begrüßte die beiden und geleitete sie ins erste Stockwerk. Die Frau hieß Simone Bechtel und gehörte zum Sekretärinnen-Pool der Vorstands­etage. Ihr Gesichtsausdruck, der eine tiefe Betroffenheit ausdrückte, ließ vermuten, dass sie bereits durch die Medien über den Mord an der Vorstandssprecherin ihrer Bank informiert war.

Simone führte die Besucher durch einen breiten langen Flur, an dessen Wand die Bilder eines modernen Künstlers hingen. Das Bankhaus war für die Kunstausstellungen in seinen Räumlichkeiten bekannt. Vor Jahren hatte der Sohn von Thomas Stelter hier seine Gemälde aushängen dürfen.

Die letzte Tür auf dem Flur gehörte zum Büro von Lothar Pannier, der Andrea und Raffael mit einem kräftigen Händedruck empfing und dann an den Besprechungstisch seines großzügigen Arbeitszimmers bat, nachdem Andrea den Grund ihres Kommens genannt hatte. Simone blieb stumm auf dem Flur stehen und zog die Tür hinter sich zu.

„Schrecklich, einfach schrecklich“, äußerte Lothar Pannier. „Ich hab es in der Zeitung gelesen und im Radio gehört. Wer tut so etwas?“ Sein Gesichtsausdruck deutete an, dass er darauf zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Antwort erwartete.

Er mochte Ende vierzig sein, hatte volles braunes Haar mit grauen Strähnen und trug zur blauen Krawatte einen grauen Anzug, der seine schlanke Figur vorteilhaft betonte.

Bei der Befragung durch die beiden Mitglieder der Mordkommission hatte sein Ton durchgängig eine ernste und sachliche, aber zugewandte Note.

„Der jeweils für fünf Jahre berufene Vorstand besteht immer aus drei Mitgliedern. Ich bin für die Bereiche Recht und Risiko zuständig, wirke also nach innen, während Frau Doktor Odem als Vorstandssprecherin die Bereiche Markt und Strategie zugeordnet sind. Sie ist somit das Aushängeschild der Bank.“

Auf Raffaels Frage, wer denn vor Nadine Odem diesen Posten bekleidet hatte, nannte Pannier den Namen des Mannes und dass dieser aus Altersgründen nicht mehr dafür zur Verfügung gestanden habe.

„Hätte Sie der Posten des Vorstandssprechers nicht auch gereizt?“, setzte Raffael nach.

Der Befragte runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.

„Die Aufgaben eines Vorstandssprechers unseres Bankhauses sind eine reizvolle Herausforderung. Aber Frau Doktor Odem war aufgrund ihrer konstanten Verdienste für die Bank die erste Wahl für diesen Posten. Das hat der Aufsichtsrat zu Recht so entschieden. Ich bin mit meinem Aufgabenbereich sehr zufrieden.“

Ich glaube, er wäre auch gern das Aushängeschild der Bank, mutmaßte Andrea. Aber dass er deswegen seine Kollegin ermordet, kann ich mir nicht vorstellen.

„Und wer ist das dritte Vorstandsmitglied?“

„Herr Rosenberger, der genau wie ich schon zum Vorstand davor gehörte, kümmert sich um die Bereiche Personal und IT. Er ist seit zwei Wochen in Kanada … im Urlaub. Aber wegen der Ermordung von Frau Doktor Odem wird er seinen Urlaub vorzeitig abbrechen und nach Hannover kommen.“

Womit Herr Rosenberger ein bombensicheres Alibi hat.

„Was waren denn das für Verdienste, mit denen sich Frau Doktor Odem für den Posten als Vorstandssprecherin empfohlen hat?“, erkundigte sich Andrea Renner.

„Die erfolgreiche Leitung der Kreditabteilung für einige Jahre, eine Tätigkeit als Führungskraft auf der zweiten Ebene unter dem Vorstand.“

„War sie beliebt?“

„Allemal.“ Er überlegte kurz. „Sie hatte eine sympathische und authentische Ausstrahlung, das kam bei Mitarbeitern und Kunden gut an.“

Andreas Frage nach nennenswerten Konflikten in der Vergangenheit, beispielsweise gravierendem Ärger mit unzufriedenen Kunden der Kreditabteilung, verneinte Pannier.

Dann erkundigte sie sich, mit welchem Personenkreis die Ermordete zuletzt beruflich zu tun hatte.

„Mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit hat sie außerhalb der Bank verbracht. Um neue Geschäfte zu vermitteln, hat sie sich mit Vertretern mittelständischer und größerer Betriebe getroffen, wie Mäntelhaus Kaiser, I.G. von der Linde, Bahlsen oder Conti.“

„Welche Bedeutung hatte es für die Bank und deren Kunden, dass Nadine Odem in einer lesbischen Beziehung lebte?“, mischte sich Raffael ein.

„Dass das Bankhaus für Kontinuität und traditionelle Werte steht, heißt nicht, dass wir uns gegenüber bestimmten Formen sexueller Orientierung unserer Mitarbeitenden intolerant zeigen – im Gegenteil“, betonte Pannier mit kräftiger Stimme. „Und unsere Kunden wussten selbstverständlich nichts über das Privatleben von Frau Doktor Odem.“

„Bis vor zwei Wochen“, ergänzte Raffael, „als es in der Zeitung stand.“

*

Am Ende ihres Gesprächs erkundigte sich Raffael Störtebecker bei Lothar Pannier, wo sich dieser gestern im Tatzeitraum aufgehalten hatte.

„Zählen Sie mich ernsthaft zum Kreis der Tatverdächtigen?“, äußerte das Vorstandsmitglied.

„Nein, verstehen Sie das bitte nicht falsch“, lächelte Andrea. „Das ist eine reine Routinefrage.“

Bereitwillig führte Pannier aus, zu dieser Zeit einen Bekannten im Stadtteil Zoo besucht und anschließend mit diesem einen Spaziergang durch den Stadtwald Eilenriede gemacht zu haben.

Danach führte er Andrea und Raffael auf deren Wunsch durch Nadine Odems Büro, welches auf demselben Flur zwei Türen entfernt lag.

Wirkt genauso aufgeräumt wie ihr Arbeitszimmer in Kirchrode, dachte Andrea.

Das Büro zwischen Nadine Odem und Lothar Pannier war das Vorstandssekretariat. Hier sprachen die beiden, nachdem sie sich von Pannier verabschiedet hatten, mit der Sekretärin Simone Bechtel.

„Frau Doktor Odem war eine selbstbewusste und zielstrebige Frau“, bekundete Simone Bechtel, „aber auf keinen Fall ein Ellbogentyp. Ich mochte sie sehr. Auf der ersten Führungsetage von Bankhäusern ist es absolut unüblich, dass eine Frau einen solchen Posten bekleidet.“

„Hatte sie Neider?“, wollte Andrea wissen.

„Das ist mir nicht aufgefallen.“

Und wenn doch, würden Sie es mir nicht sagen, vermutete Andrea und fragte: „Haben Sie eine Idee, wer nach dem Tod von Frau Odem zum Vorstandssprecher berufen wird?“

„Dafür ist es noch zu früh. Ich habe keine Vorstellung, wie der Aufsichtsrat auf diese schreckliche neue Situation reagieren wird.“

„Wissen Sie, wie Externe, also Geschäftspartner und Kunden, darauf reagiert haben, dass auf einmal eine Frau das Aushängeschild der Bank war?“

„Schwer zu sagen.“ Die Sekretärin zuckte mit den Schultern. Nach einigen Sekunden Pause erzählte sie: „Eine Frau Jordan von den Hannoverschen Nachrichten hatte angerufen, um gleich einen Interview-Termin für einen längeren Zeitungsartikel zu vereinbaren. Kurze Zeit später hatte sich der Chefredakteur der Ihme News … Namen habe ich vergessen … gemeldet und wollte ebenfalls ein Interview mit Frau Doktor Odem führen.“

Bei den Ihme News handelte es sich um eine reine Online-Zeitung für Hannover.

„Den Artikel in den Hannoverschen Nachrichten kennen wir“, erklärte Andrea.

„Ja, wertschätzend geschrieben. Frau Doktor Odem war zufrieden damit. Sie hat lange Zeit hier im Büro mit der Journalistin über alles gesprochen. Wobei ich keine Einzelheiten kenne. Ich habe den beiden lediglich einmal eine Tasse Kaffee ins Büro gebracht.“

„Und ist das Interview mit den Ihme News zustande gekommen?“

„Ich glaube nicht.“

Kapitel 9

Dienstag, 15. Mai

Seit ungefähr zwei Tagen lief jetzt die Ermittlungstätigkeit der Mordkommission Dr. Odem auf vollen Touren. Der Mord an der Vorstandssprecherin des hannoverschen Bankhauses Berlinger stieß erwartungsgemäß auf großes Interesse bei den Medien, was Ansporn und vor allem Erfolgsdruck für Hauptkommissar Thomas Stelter und sein Team bedeutete.

Seit gestern lag der endgültige Obduktionsbefund aus der Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule vor. Der Schnitt am Hals verlief fast horizontal, hatte neben den großen Arterien und Venen beidseits auch gleichzeitig die Luft- und Speiseröhre mit durchtrennt. Das Opfer war an den Folgen des massiven Blutverlustes und einer Luftembolie schnell verstorben. Ulrich Lindhoff war sich sicher, dass das Opfer nicht mehr in der Lage gewesen war zu schreien. Es hatte definitiv keine Vergewaltigung und keinen Abwehrkampf gegeben. Der Mörder (das Wort „Mörderin“ verwendete in diesem Fall momentan niemand im Team) musste sein ahnungsloses Opfer von hinten überrascht haben. So wie es aussah, war die Frau gerade mit dem Eintrag in das Logbuch des gefundenen Geocaches beschäftigt gewesen.

Das rekonstruierte Szenario implizierte die folgenden Überlegungen: Hatte Nadine Odem den Täter für einen harmlosen Geocacher gehalten? War der Täter einfach zufällig vor Ort, oder hatte sie ihn womöglich auf dem Waldweg getroffen und war mit ihm ein Stück gemeinsam zum späteren Tatort gefahren? Kannte das Opfer seinen Mörder?

Auf der Route von Kirchrode zum Misburger Wald gab es keine polizeilichen Überwachungskameras, die die Frau und einen eventuellen Verfolger aufgezeichnet haben könnten.

Die Polizei hatte die Medien für einen Aufruf an die Bevölkerung genutzt. Gesucht wurden Zeugen, die Nadine Odem am Sonntag auf dem Weg zum Tatort gesehen hatten. Für die Mordkommission konnten Hinweise auf eine zweite Person, die Nadine beispielsweise mit dem Fahrrad begleitet hatte oder direkt hinter ihr hergefahren war, möglicherweise richtungsweisend sein. Tatsächlich hatte ein Spaziergänger Nadine Odem auf ihrem Fahrrad gesehen, wobei die Frau allein gewesen wäre. Der Mann konnte sich an weitere einzelne Radfahrer mit Schutzhelm und Trikot auf Rennrädern erinnern, denen er später begegnet war, ohne Angaben zum Gesicht oder zum Alter der Personen machen zu können.

Den Hinweisen von Mareike Keppler über den vermeintlichen Geocacher an ihrem Gartenzaun waren die polizeilichen Ermittler recht zügig nachgegangen. Ihre Recherchen ergaben, dass der Cache im Gullydeckel tatsächlich an dem Freitag, an dem Nadine dem Mann den Tipp gegeben hatte, noch im Internet geloggt worden war – von einem Geocacher aus Hannover mit dem Nickname Hahn Solo 6. Mit dem Namen hatte sich der Geocacher auch auf der winzigen Papierrolle dieses Nano-Caches am 11. Mai handschriftlich eingetragen. Davor war der Cache zuletzt am 8. Mai von einer Frau gefunden und geloggt worden.

Im wahren Leben hieß Hahn Solo 6 Ingo Hauser und arbeitete als Angestellter in einer IT-Firma. Er hatte sein Smartphone fürs Geocaching in Kirchrode verwendet, war seit zwei Jahren registriertes Premium-Mitglied der offiziellen Geocache-Datenbank im Internet und hatte dort als Kommentar zu seinem Log geschrieben: „Nach einer gründlichen Inspektion des mugglefreien Umfeldes konnte der Cache recht schnell gehoben werden.“ Für die Mordkommission war es nicht sonderlich schwierig, den Mann ausfindig zu machen. Bei seiner Befragung berichtete er, am 11. Mai mit dem Auto zum Geocaching gefahren zu sein. Er habe niemanden im Garten von Nadine Odem gesehen und mit niemandem gesprochen. Zur Tatzeit wäre er mit seiner Freundin am Maschsee gewesen, was diese bestätigt hatte.

 

Aber wer war der Mann, der am 11. Mai kurz mit Nadine Odem an ihrem Grundstück geredet und womöglich ihre Planung für den Sonntag mitbekommen hatte? In das Logbuch des Geocaches im Gullydeckel hatte er sich nicht eingetragen, folglich auch nicht in der Online-Datenbank von Geocaching.com. Entweder hatte er den Nano-Cache trotz Nadines Hilfestellung nicht gefunden (angesichts des Schweregrades nicht völlig unwahrscheinlich), oder der Cache hatte ihn überhaupt nicht interessiert. Zumindest ließ sich ihm bisher kein eingeschaltetes Smartphone zuordnen, wobei Geocacher natürlich auch GPS-Handgeräte verwendeten, die nicht aktiv Signale senden und deshalb an Dritte keine Informationen über den eigenen Standort verraten.

Bei der Befragung der Nachbarschaft von Nadine Odem kam heraus, dass eine ältere Frau, die einige Häuser weiter wohnte, den Mann mit dem Fahrradhelm neben dem Gartenzaun der Ermordeten gesehen hatte. Die Zeugin war dort am frühen Abend mit ihrem kleinen Hund spazieren gegangen und hatte bereits eine größere Entfernung vom besagten Eckgrundstück zurückgelegt, als der angeleinte Hund in die entgegengesetzte Richtung wollte. Die Frau hatte sich für einen kurzen Moment umgedreht und einen Mann wahrgenommen, der in den Garten von Nadine Odem schaute. Nach ihrer Beschreibung hatte der Mann – neben dem schwarz-weißen Schutzhelm – eine helle Jacke und Blue Jeans getragen. Die Angaben der Zeugin resultierten aus einer Beobachtung, die ein paar Sekunden angedauert hatte und aus größerem räumlichem Abstand erfolgt war. Die Frau war sich dennoch sicher, dass der Mann keinen Bart und keine Brille hatte. Der Fahrradhelm habe sämtliche Haare verdeckt. Insofern konnte es sich um eine Kurzhaarfrisur oder eine Glatze handeln. An weitere Details zum Gesicht des Mannes konnte sie sich nicht erinnern. Das Alter des fraglichen Geocachers grenzte die Zeugin mit „jung bis mittleres Alter“ ein. Den Mann hatte sie zuvor noch nie gesehen.

Thomas Stelter war inzwischen darüber informiert, dass es in der jüngeren Vergangenheit keinen ähnlich gelagerten und bisher ungeklärten Mordfall wie diesen in anderen Städten und Bundesländern gegeben hatte.

Die Auswertung der Handydaten des Opfers unterstrich die Einschätzung ihrer Ehepartnerin, dass Nadine Odem wenig mit Freunden, Bekannten und Familie kommuniziert und stattdessen für ihre Arbeit und ihre Hobbys gelebt hatte.

Thomas Stelter konnte sich mit dem bisherigen Bild über das Opfer, dass es in Nadines Privat- und Berufsleben keine nennenswerten Konflikte gab, immer noch nicht anfreunden. Andrea Renner hatte gestern die Interviewanfragen der Hannoverschen Nachrichten und der Ihme News erwähnt. Thomas beauftragte Hauptkommissar Hayo Baumann, diesbezüglich mit beiden Zeitungen Kontakt aufzunehmen. Hayo sollte insbesondere die Journalistin, die vor ungefähr drei Wochen für die Hannoverschen Nachrichten in der Bank dieses längere Interview mit der Vorstandssprecherin geführt hatte, über Nadine Odem befragen. Solveig Jordan war bekannt als erfahrene Journalistin. Es war immerhin möglich, dass sie über interessantes Insiderwissen bezüglich der Vorstandsetage des Bankhauses verfügte oder im Interview Konflikte herausgehört oder gespürt hatte.

Hayos Bericht über sein persönliches Gespräch mit Solveig Jordan bestätigte ansatzweise die Vermutung von Thomas Stelter. Die Journalistin war sehr angetan von ihrer toughen Interviewpartnerin und wollte herausgehört haben, dass ein anderer Kollege in der Bank durchaus scharf auf den Posten des Vorstandssprechers gewesen wäre. Allerdings würde er sich seine eventuelle Enttäuschung nicht anmerken lassen.

Daraufhin hatte Hayo Baumann noch den Chefredakteur der Ihme News angerufen, aber der hatte ihm mitgeteilt, dass Nadine Odem keine Zeit für ein weiteres Interview mit ihm gehabt hätte, sodass ein persönliches Gespräch mit ihr nicht zustande gekommen wäre.

„Ich glaube“, murmelte Thomas Stelter allein an seinem Schreibtisch vor sich hin, „die Aufklärung des Falles entwickelt sich zu einer harten Nuss.“