Leidenschaft und Fußball

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In der Inszenierung der Ambivalenz von Unberechenbarkeit und Zweckrationalität, in die die moderne Gesellschaft eingespannt ist, besteht übrigens unter anderem eine theologische Relevanz des Fußballs. In diesem Sinne kann der Fußball als Symptom des Unbehagens verstanden werden, das heutige Menschen angesichts der Letztgültigkeit von moderner Machbarkeit und Zweckrationalität befällt. Im Fußball verrät sich eine Sensibilität für Unverfügbarkeit. Die Kultivierung dieser Unverfügbarkeit obliegt der Religion und ihrer Theologie. Der Fußball ist daher keine Religion, sehr wohl aber populär-kulturelles Symbol für die Offenheit der Gesellschaft für das Unverfügbare, und das ist theologisch definitiv von Belang.346

Die Beschreibung und Darstellung der immanenten Wesensmerkmale des Fußballsports und deren Leidenschaftspotential soll hiermit als abgeschlossen gelten.347

1.2.2 Fußball als Ventil archaisch-emotionaler Kräfte

Die umfassende Bearbeitung der Frage, warum der Fußball weltweit so viele Menschen begeistert, würde den Rahmen dieser Dissertation bei Weitem sprengen. Dennoch will dieser Punkt wesentliche Beiträge zur Beantwortung der Frage liefern. Deshalb werden nun die eben dargestellten fußballimmanenten Wesensmerkmale noch um philosophische (1.2.2.1) und soziologische (1.2.2.2) Perspektiven im Hinblick auf das Begeisterungspotential des Fußballs erweitert. Diese beiden Perspektiven werden schließlich kurz zusammengefasst (1.2.2.3).

1.2.2.1 Perspektive aus philosophischer Sicht (Norbert Bolz)

Diese bringt der Philosoph Norbert Bolz ein. Er beginnt seine Argumentation im Gespräch mit Christoph Biermann in dessen Buch „Wenn du am Spieltag beerdigt wirst, kann ich leider nicht kommen“ mit der These, dass sich intellektuelle Fußballfans immer hinter einer Kappe verstecken müssen. Er begründet dies damit, dass es beim Fußball vor allem um drei Dinge geht, die von intellektueller Seite tabuisiert sind:

 Das Siegenwollen: Fußball ist seiner Ansicht nach durchaus mit einer kleinen Schlacht zu vergleichen und daher bei uns einfach verboten. Vielmehr sei der gebotene Imperativ „Dabei sein ist alles“, was Bolz aber bloß als Verdrängungsformel ansieht348, denn alle interessieren sich nur dafür, ob ihre Mannschaft gewinnt oder nicht.

 Die Identifikation: Jeder echte Fan identifiziert sich mit einer Fußballmannschaft.

 Die Nation: Diese Identifikation kann auch mit einer Nationalmannschaft geschehen.

Der Fußball sei eine ausgezeichnete Möglichkeit sich um die eben genannten Tabu-Begriffe herumzudrücken und trotzdem die darin enthaltenen geheimen Wünsche zu erfüllen. Je mehr uns die kritisch-intellektuelle Kultur verbietet zu siegen oder sich zu identifizieren, desto größer wird die Faszination, die der Fußball auslöst. Was gibt es schöneres als einen triumphierenden Sieger?

Dass das Siegenwollen verpönt ist, liegt laut Bolz im historischen Trauma der Deutschen begründet. Allerdings lassen sich durch eine offizielle Kulturtechnik des Bescheidenseins nicht alle Wünsche verdrängen. Und genau hier kommt der Fußball ins Spiel, der viele dieser Wünsche erfüllt. Wünsche, die teils unbewusst sind, teils sich nicht einfach rational erklären lassen. Damit lässt sich auch belegen, warum sich die Intellektuellen zwar der offiziellen Kulturnotwendigkeit beugen und die deutsche Bescheidenheit hochhalten, es aber gleichermaßen sehr genießen, wenn eine Strategie zum Sieg des Teams führt, mit dem man sich identifiziert.349 Manche behaupten beispielsweise, dass Moldawien erst existiert, seit sie Wales 3:2 geschlagen haben.

Demnach geht es beim Fußball um mehr als nur um ein Spiel, denn ein faszinierendes Spiel ist sehr ernst und der Ernst des Lebens ist teilweise durch Spiele gut modellierbar. Umgekehrt sind viele Spiele erfüllt von heiligem Ernst, weshalb es für Bolz keine schlimmeren Menschen gibt als die, die ein Spiel nicht ernst nehmen oder mitspielen und nicht gewinnen wollen, denn sie wissen nicht, was ein Spiel ist. Im Positiven erinnert er an einige ältere Frauen, die während des Elfmeterschießens bei einer FußballWeltmeisterschaft vor laufenden Fernsehkameras knieten und das Vater Unser beteten. Daran könne man mehr über das Wesen des Fußballspiels erfahren, als wenn man ihn bloß als schönste Nebensache der Welt bezeichnet.350 Obgleich hier trotzdem die in der Einleitung erwähnte Differenzierung von Fußball und Religion nochmals in Erinnerung gerufen werden muss: Fußball darf nicht als bloßes Spiel abgetan, darf aber andererseits auch nicht als Religion überhöht werden.

Dieser heilige Ernst gründet in einer Identifikation mit der eigenen Mannschaft, die erst die Emotionen in Bewegung bringt. Der Besuch eines Stadions kann unter anderem deshalb ein großes Erlebnis sein, weil hier die massenhafte Identifikation gelingen kann. Und in dieser Masse ist der Fan auch zu gewissen ekstatischen Begeisterungsstürmen in der Lage.351

Bolz beschreibt Identifikationsprozesse weiterhin und grundsätzlich als Prozesse aus der Urzeit unserer Zivilisation und als primäre Formen der Gemeinschaftsbildung. In diesem Zusammenhang bedient er sich der Unterscheidung zwischen universal otherhood und tribal brotherhood von Benjamin Nelson. Mit der universal otherhood bezeichnet er den Umstand, dass die Gesellschaft generell aus entfremdeten Einzelindividuen besteht, die sich nur zu bestimmten Anlässen zu einer Gemeinschaft zusammenfügen. Es bleibt dabei aber immer eine notwendige Distanz. Diese gegenseitige Fremdheit ist eine der Grundbedingungen, dass eine Gesellschaft funktioniert, weil wir in ihr den Bruder genauso behandeln wie einen Fremden352, Hauptsache er gehört zur selben Zivilisation. Dagegen führt er die Fangemeinde an, die mit ihrer Mannschaft eine geschlossene, von der Außenwelt separierte Einheit darstellt, eine tribal brotherhood sozusagen, eine stammesmäßige Gemeinschaft.

Nun lebt aber unsere westliche Gesellschaft von der Befreiung hin zur universal otherhood. Es geht dabei um Aufklärung über Vorurteile, die sich vor allem in Stammesgemeinschaften bilden, da man die eigenen Werte höher einstuft als die des anderen Stamms. Die Aufklärung ist daher untrennbar verbunden mit der Auflösung dieser Stammesgemeinschaften. Der aufgeklärte Mensch ist jetzt ein Weltbürger und kein Stammesangehöriger mehr. Es gilt keine Binnenmoral mehr, sondern man begreift die Werte immer universaler. Dies ist laut Bolz grundsätzlich notwendig, damit Gesellschaft funktionieren kann, im zivilisatorischen Maßstab und weltweit. Er fügt aber hinzu, dass der Preis der Aufklärung unheimlich hoch sei, weshalb unsere zivilisierte Gesellschaft wieder und wieder Nischen bzw. Ventile sucht, in denen bzw. durch die man diese geopferten oder unterdrückten Gefühle noch einmal trösten und bedienen kann. Und dass Kollektivsportereignisse genau dazu in der Lage sind, darin liegt mit Sicherheit eine ihrer großen fundamentalen Leistungen.353

Gerade den kritischen, aufgeklärten Menschen heute fehlt ein unbefangenes Verhältnis zu diesem wichtigen Bedürfnis, sich zu identifizieren oder das Glücksgefühl des Sieges auszukosten. Dafür gibt es in unserer Zivilisation kaum mehr Orte. Bolz sieht darin eine Gefahr und fordert dazu auf, einen Weg zu finden, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Ansonsten würden sie irgendwann explodieren. Er fragt deshalb: „Heißt das nicht, dass es einen gewaltigen Bedarf gibt, mit einem Bereich des Menschlichen umzugehen, der in unserer Kultur keinen Ort und keinen Unterschlupf findet?“354 In diesem Sinne hat etwa der Alkohol eine ähnliche Wirkung wie der Fußball, denn er erzeugt Bewusstseinszustände355 und physiologische Zustände, die ebenso aus der Zivilisation, der Aufklärung und der Rationalität herausfallen wie die emotionalen Identifikationszustände, die zum Beispiel ein spannendes Fußballspiel hervorrufen kann.

Hier haben wir es demnach mit Regressions-Phänomenen zu tun, weil wir das Level unserer zivilen Normen und Standards unterschreiten. Aber genau da, wo wir das tun, erfüllen sich Wünsche, deuten sich Ekstasen an, richten sich kleine Ausnahmezustände ein, wird Rationalität systematisch außer Kraft gesetzt – alles Phänomene, die sich beim Fußball regelmäßig nachweisen lassen, beim Torjubel beispielsweise. So war der große Protest gegen die FIFA nicht verwunderlich, als sie den Spielern verbot, beim Torjubel zum Zaun zu den Fans gehen zu dürfen, denn die Leute, die das verbieten wollten, wussten wohl, was sich beim Torjubel wirklich ereignet: „Da rotten sich Kräfte zusammen, die wir mühsam mit jahrhundertelanger Aufklärung und zivilisatorischen Tabus eingedämmt haben.“356 Und jeder Fan, der schon einmal ein wichtiges oder vielleicht sogar entscheidendes Tor seiner Mannschaft live im Stadion bejubeln durfte, weiß um den Wahrheitsgehalt dieser Aussage.357

Axel Hacke fällt hier als weiteres Beispiel neben dem Torjubel auf, dass gerade Männer auf dem grünen Rasen Dinge tun, die sie sonst so nie tun würden und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Beim Fußball nämlich küssen sie sich, liegen aufeinander, fallen übereinander her und können kaum voneinander lassen, zum Beispiel wenn ein Tor gefallen ist. Von daher unterscheidet sich der fußballspielende Mann nicht von anderen Männern. Er ist genauso, hat auf dem Fußballfeld - hier könnte noch ergänzt werden: auch auf den Tribünen - aber andere Freiheiten. Er kann dort ein Verhalten zeigen, das er in anderen, zum Beispiel beruflichen Kontexten, aus Konventionsgründen nicht zeigen dürfte. Hacke stellt hier die humorvollen Fragen: „Sich nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss oder einem zügig reparierten Telefonanschluss intensiv herzende Männer? Küsse in der KranFabrik nach der Fertigstellung eines neuen Gerätes?“358

 

Neben die Begründung des Begeisterungspotentials des Fußballs aus philosophischer Perspektive tritt an diese Überlegungen anknüpfend, noch eine soziologische Perspektive.

1.2.2.2 Die soziologische Perspektive (Ansgar Kreutzer)

Ansgar Kreutzer veröffentlichte 2005 in dem unter anderem von ihm herausgegebenen Buch „Zwischen Beautyfarm und Fußballplatz – Theologische Orte in der Populärkultur“ einen interessanten Aufsatz mit dem Titel „Wie gnädig ist der Fußballgott? Der Fußballplatz als religiöser Ort.“359 Dieser Aufsatz ergänzt die bisher beschriebene philosophische um eine soziologische Perspektive.

Er lässt dazu einleitend den Hamburger Kunsthistoriker Horst Bredekamp zu Wort kommen, der die kulturelle Bedeutung des Fußballs einmal wie folgt zusammenfasste: „In keinem anderen Bereich laufen auf so kleinem Raum mit so einfachen Mitteln so elementare und zugleich hochdifferenzierte Prozesse ab; Fußball ist das Theater der Welt.“360 Kreutzer schließt daran seine These an, die gleichzeitig die These der folgenden Ausführungen ist, dass sich beim Fußball die Gesellschaft unbewusst selbst thematisiert bzw. mit anderen Worten, sich selbst im Spiegel betrachtet.

Seine Erläuterung dieser These beginnt er unter Zuhilfenahme einer Argumentationslinie des Soziologen Norbert Elias, der sich als einziger im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie näher mit dem Sport im Allgemeinen und dem Fußball im Besonderen befasste.361

Elias versuchte eine Theorie und einen genauen Begriff von „Zivilisation“ zu entwickeln. Zivilisation bezeichnet er als das Phänomen, das im Laufe der abendländischen Geschichte zu beobachten ist, dass die Kontrolle von Affekten und Gefühlen, von Aggressionen, Erregungen und Gewaltausbrüchen, mithin die Kontrolle der menschlichen Natur überhaupt zunimmt.362 Elias beschreibt diesen Prozess näherhin so, dass sich Fremdzwänge in Selbstzwänge verwandeln, genauso wie „in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird“363. Dadurch wird der Einzelne gezwungen, sein Verhalten immer gleichmäßiger, stabiler und differenzierter zu regulieren. Diese Verhaltensänderung geschieht meist unbewußt und wird „dem einzelnen Menschen von klein auf mehr und mehr als ein Automatismus angezüchtet“364, sozusagen als Selbstzwang, dem er sich nicht erwehren kann, selbst wenn er dies in seinem Bewußtsein möchte. Die Anspannung, sich richtig zu verhalten, wird so groß, dass sich beim Einzelnen neben dieser Selbstkontrolle eine fast blind arbeitende Selbstkontrollapparatur verfestigt. Sie versucht wie durch eine Art Zaun aus schweren Ängsten Verstöße gegen das gesellschaftsübliche Verhalten zu verhindern. Das Verhalten ist demnach unter anderem bestimmt durch die Ausweitung von Interdependenzketten, in die jede Regung, mittelbar oder unmittelbar, und jede Äußerung des Einzelnen unausweichlich eingegliedert ist.365

Diese Kontrolle der menschlichen Natur macht er an zahlreichen Beispielen deutlich, wie etwa an der Entwicklung von Tischsitten. So beschreibt er aufgrund seines Studiums der Geschichte der Benimmregeln, dass die Suppe zunächst oft getrunken wurde, entweder aus einem gemeinsamen Napf oder mit Hilfe von Kellen, die mehrere benutzten. In den Schriften der Courtoisie wird dann schon vorgeschrieben, den Löffel zu benutzen, wenn auch anfangs von mehreren zusammen. Aus dem Jahre 1560 ist ein deutscher Brauch überliefert, dass jeder seinen eigenen Löffel benutzt. Gut hundert Jahre später, 1672, isst man die Suppe nicht mehr direkt aus der gemeinsamen Schüssel, sondern gießt sich etwas davon mit dem eigenen Löffel auf den eigenen Teller. Elitäre Personen wollen aber schon zu dieser Zeit nicht mehr aus einer Schüssel essen, in die andere ihre gebrauchten Löffel eingetaucht haben. Deshalb ist es nötig, seinen Löffel mit der Serviette abzuwischen, bevor man ihn in die Schüssel taucht.366 Manchen Leuten genügt selbst das nicht mehr. Bei ihnen darf man den einmal gebrauchten Löffel gar nicht mehr in die gemeinsame Schüssel tauchen, sondern muss sich einen neuen dafür geben lassen. So hat sich Schritt für Schritt im Sinne einer Affektkontrolle jene Art des Essens der Suppe mit einem Löffel entwickelt, wie sie heute üblich ist: Jeder hat seinen eigenen Teller und seinen eigenen Löffel. Die Suppe ist wiederum in einer anderen Schüssel, aus der sich jeder mit einem speziell zum Ausschenken konstruierten Löffel soviel Suppe auf den Teller schüttet, wie er möchte.

Diese Entwicklungen kann man laut Elias auch bei anderen Verhaltensweisen bei Tisch erkennen. Weder Löffel noch Serviette oder Gabel wurden eines Tages plötzlich erfunden, sondern ihre Funktion wird im Laufe von Jahrhunderten unmittelbar im gesellschaftlichen Gebrauch allmählich begrenzt, ihre Form gesucht und gefestigt. Jede noch so kleine Gewohnheit eines sich wandelnden Rituals setzte sich unendlich langsam durch, selbst uns so elementar erscheinende Verhaltensweisen wie der Brauch Flüssiges nur mit dem Löffel zu uns zu nehmen.367

Der Mensch heute hat nach Norbert Elias darüber hinaus nicht nur beim Essen seine natürlichen Bedürfnisse und Affekte unter Kontrolle zu halten. So sei die abendländische Kulturgeschichte überhaupt wesentlich bestimmt durch die Expansion von Selbstzwang und Affektkontrolle.

Im Zusammenhang dieser Theorie der steigenden Affekt- und Selbstkontrolle im Laufe von Zivilisationsprozessen sieht Elias nun die Stellung des Sports in der modernen Gesellschaft. Er beschreibt den Sport als Reservat für den modernen, zivilisierten Menschen, um dessen Selbstzwängen ein Stück weit zu entkommen. Sport stelle eine von der Gesellschaft legitimierte Möglichkeit dar, dem ansonsten verpönten Ausleben starker Emotionalität, Erregung und Aggression freien Lauf zu lassen. Trotzdem behält auch hier die zivilisierte Gesellschaft die Oberhand, denn das Ausleben ist nur innerhalb eines festgesteckten Rahmens von Einschränkungen und Regeln möglich. Mögliche Schäden dieser TriebBefriedigung sollen verhindert werden.368

Elias bezeichnet sportliche Wettkämpfe wie zum Beispiel Fußballspiele auch als mimetische Kämpfe, „die spielerisch in einer imaginierten Umgebung inszeniert werden, die freudige Erregung durch den Kampf erzeugen kann und dabei die Verletzung von Menschen so gering wie möglich hält“369. Fußball bzw. Sport generell kann somit als Kompensationsmechanismus für die zivilisierte Gesellschaft fungieren. Dadurch können die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft, die ihre Affekte ansonsten unter Kontrolle zu halten haben, ihre unterdrückte Emotionalität ausleben.370

Für den Würzburger Pastoraltheologen Erich Garhammer stellt sich Fußball bei Elias als temporäre Lizenzierung archaischer Verhaltensweisen dar, die heute in der Form eigentlich nicht mehr öffentlich gelebt werden dürfen.371 Dies kann folgendes Beispiel bestätigen: Heute ist es verpönt direkt auf den Boden zu schnäuzen ohne ein Taschentuch zu verwenden. Auf dem Fußballplatz kann man dies aber noch sehr oft beobachten.

Zudem dient der Sport laut Elias als Spiegel von Zivilisationsprozessen. Im Fußball etwa wurde im Laufe der Jahrhunderte durch ständige Veränderungen des Regelwerks und die sich daraus ergebende Veränderung der Spielpraxis die Gewalt deutlich eingeschränkt. An dieser Stelle sei auf die Ausführungen dieser Arbeit zur Geschichte des Fußballsports verwiesen. Genauso ist auch die Entwicklung der Zivilisation fortgeschritten.

Insgesamt betrachtet, ist für Elias Wissen über den Sport gleich zu setzen mit Wissen über die Gesellschaft. Im Fußball schaut sich die Gesellschaft selbst im Spiegel an, womit ein weiteres Begeisterungspotential dieses Sports deutlich wurde.372

1.2.2.3 Zusammenfassung der philosophischen und der soziologischen Perspektive

Norbert Bolz und Ansgar Kreutzer drücken hier die gleichen Sachverhalte aus, nämlich dass es auch heute noch viele, höchst emotionalisierte Kräfte gibt, die ausgelebt werden wollen und ausgelebt werden müssen, und dass der Fußball im Gegensatz zur zweckrational-geprägten Gesellschaft ein optimaler Ort ist, um dies zu tun. Dies sind weitere Aspekte, die zum Begeisterungspotential des Fußballs beitragen. Daher sollen nochmals kurz die wesentlichen Inhalte der beiden Perspektiven zusammengefasst werden:

 Norbert Bolz hebt hervor, dass man beim Fußball siegen und sich mit einer Mannschaft bzw. einer Nation identifizieren darf. Aus solcher Identifikation geht der heilige Ernst hervor, von dem der Fußball erfüllt ist. Derartige Identifikationsprozesse skizziert Bolz weiterhin im Rückgriff auf Nelson mit der universal otherhood, die wiederum den Umstand beschreibt, dass die Gesellschaft generell aus entfremdeten Einzelindividuen besteht, die sich nur zu bestimmten Anlässen zu einer Gemeinschaft zusammenfügen. Dagegen führt er die Fangemeinde an, die mit ihrer Mannschaft eine geschlossene, von der Außenwelt separierte Einheit darstellt, eine tribal brotherhood sozusagen, eine stammesmäßige Gemeinschaft. Der aufgeklärte Mensch ist heuzutage allerdings ein Weltbürger und kein Stammesangehöriger mehr, kann aber beim Fußball noch einmal die tribal brotherhood erleben, die eigentlich in der Aufklärung aufgelöst wurde. Und dass Kollektivsportereignisse wie der Fußball genau dazu in der Lage sind, darin liegt mit Sicherheit eine ihrer großen fundamentalen Leistungen. Denn genau dann, wenn wir beim Fußball das Level unserer zivilen Normen und Standards unterschreiten und die tribal brotherhood nochmals erleben, erfüllen sich Wünsche, deuten sich Ekstasen an, richten sich kleine Ausnahmezustände ein, wird Rationalität systematisch außer Kraft gesetzt; alles Phänomene, die sich beim Fußball regelmäßig beobachten lassen, beim Torjubel zum Beispiel.

 Ansgar Kreutzer argumentiert, dass sich beim Fußball die Gesellschaft unbewusst selbst thematisiert bzw. mit anderen Worten sich selbst im Spiegel betrachtet. Dazu bezieht er die Zivilisationstheorie von Norbert Elias auf den Fußball, wodurch er zu der Erkenntnis gelangt, dass der Fußball eine temporäre Lizenzierung archaischer Verhaltensweisen darstellt, die heute in der Form eigentlich nicht mehr öffentlich gelebt werden dürfen. Fußball fungiert so als Spiegel von Zivilisationsprozessen und damit letztlich als Spiegel der Gesellschaft selbst.

1.3 Zusammenfassender Ausblick

Die immanenten Wesensmerkmale des Fußballsports sowie ergänzende Überlegungen zum Fußball als Ventil archaisch-emotionaler Kräfte machen deutlich, worin Grundzüge der Begeisterung und der Leidenschaft des Fußballspiels liegen. Anhand dieser Merkmale wird verständlich, warum das Fußballspiel weltweit so viele Menschen in seinen Bann zieht. Dabei kann nicht gesagt werden, dass dies oder jenes Merkmal besonders wichtig ist. Jedes der hier aufgeführten Merkmale trägt seinen eigenständigen und unverwechselbaren Teil zur Faszination des Spiels bei. Diese Merkmale waren es im Hinblick auf die Darstellung der Geschichte des Fußballs auch, die hauptsächlich dafür sorgten, dass der Fußballsport über all die Jahrhunderte hinweg in Bezug auf sein Leidenschaftspotential bei den Menschen nichts einbüßte.

Wie in der Einleitung bereits erwähnt, ist die Leidenschaft der Fokus, mit dem der Fußball in dieser Dissertation betrachtet wird. Dazu wiederum ist es von zentraler Bedeutung und ein Zeichen der Wertschätzung den Menschen gegenüber, die vom Fußball begeistert sind, die Grundlagen dieser Leidenschaft zu analysieren und verstehen zu wollen. Diese Erkenntnisse müssen im weiteren Fortgang der Arbeit stets mit-gedacht werden.

Diese Überlegungen werfen aber gleichzeitig weiterführende Fragen auf: Wo und wie äußert sich diese Leidenschaft nun konkret? In welchen Formen ist sie heute spürbar? Wo sind deren Signaturen in unserer Gesellschaft zu erkennen?

2. Signaturen der Leidenschaft des Fußballs

Im Folgenden sollen die Signaturen der Leidenschaft beim Fußball anhand der Personen festgemacht werden, die laut dem Philosophen Gunter Gebauer die Seele des Spiels373 sind: das Fußball-Publikum, das heißt die Fans. Dies ist zwar nicht die einzige Möglichkeit, die Signaturen darzustellen, mit Sicherheit aber eine wesentliche. Auch Gebauer führt hierzu weiter aus: „Erst das Publikum haucht dem Spiel sein Leben ein (…). Durch die Zuschauer erhält ein Spiel Größe und Tiefe. Durch die Kraft ihres Wunsches entsteht mehr, als eine Chronik erfassen könnte.“374 Ein Spielergebnis ist laut Gebauer für sich genommen ebenso nichtssagend wie ein Punkteverhältnis. Es dient lediglich dem Gebrauch von Statistiken. Erst in den Augen des Publikums wird es zu einem Triumph oder zu einer Schmach.375

 

Die hier vorgestellten Fans stehen symbolisch und in Auswahl für Millionen von Menschen, die sich vom Fußball begeistern lassen. Daher sollen in diesem Teil der Arbeit einige Fußballfans und deren ganz individuelles Leidenschaftserleben beim Fußball in den Blick genommen werden. Dies geschieht zunächst mittels der Darstellung der emanzipatorischen Kraft des Fußballs (2.1). Diese wiederum wird anhand dreier literarischer Beispiele (2.1.1) und dann mittels beispielhafter Explorationen deutscher Fankultur (2.1.2) exemplifiziert. Doch auch die anti-emanzipatorische Kraft des Fußballs und damit die Fälle, in denen Leidenschaft missbraucht wird, soll Analysegegenstand sein (2.2).

2.1 Die emanzipatorische Kraft des Fußballs…

2.1.1 … am Beispiel dreier literarischer Werke

Die emanzipatorische Kraft des Fußballs wird in diesem Gliederungspunkt mit Hilfe und am Beispiel der drei Autoren Christian Friedrich Delius (Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, 2.1.1.1), Nick Hornby (Fever Pitch, 2.1.1.2) und Klaus Theweleit (Tor zur Welt, 2.1.1.3) beschrieben.

2.1.1.1 Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Kurzbiografie von Friedrich Christian Delius

Der deutsche Schriftsteller Friedrich Christian Delius wurde am 13. Februar 1943 in Rom geboren. Er wuchs im hessischen Wehrda auf und besuchte in Bad Hersfeld, Steinatal und Korbach das Gymnasium. Das Studium der Germanistik schloss er 1970 mit der Promotion ab. Anschließend arbeitete er von 1970 bis 1973 als Lektor im Wagenbach-Verlag und von 1973 bis 1978 in derselben Funktion beim Rotbuch-Verlag. Delius ist Mitglied des PEN-Clubs der Bundesrepublik Deutschland sowie der Freien Akademie der Künste (seit 1997) und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (seit 1998).

Friedrich Christian Delius erhielt viele Auszeichnungen. Besonders zu erwähnen sind hier der ihm 2007 verliehene Joseph-Breitbach-Preis, der höchstdotierte Literaturpreis für deutschsprachige Autoren und der ihm 2011 verliehene Georg-Büchner-Preis, der bedeutendste Literaturpreis im deutschen Sprachraum.376

Die literarische Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“

Dieses Werk von Delius erschien 1994 und wurde mittlerweile ins Amerikanische, Französische, Dänische, Italienische, Niederländische und ins Schwedische übersetzt. Zudem gibt es zwei Hörbücher dazu.

Die gesamte Erzählung spielt am 4. Juli 1954 und beschreibt, wie ein 11-jähriger Junge im hessischen Dorf Wehrda an diesem Tag durch die legendäre Radioreportage von Herbert Zimmermann den ersten Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft durch die deutsche Fußball-Nationalmannschaft miterlebt.377

Damit beschreibt Delius in seiner Erzählung einen mehrfachen Sieg: Mit dem 3:2-Sieg über die Ungarn hatte die deutsche Nationalmannschaft nicht nur den Weltmeistertitel gewonnen, sondern auch der politisch und moralisch angeschlagenen Nation jenes Wir-sind-wieder-wer-Gefühl erspielt, das trotz der Nazi-Vergangenheit zwar längst gereift, aber noch nicht reif zur öffentlichen Präsentation schien. Mit dieser Reserviertheit war es nach dem 4. Juli 1954 vorbei.

Ein weiterer Sieg ist ein persönlicher von Delius, nämlich der über seinen durch zahlreiche Konventionen strukturierten Alltag als Sohn eines evangelischen Pastors. Die Emotionen, die der WM-Titel bei ihm freisetzt, zeigen ihm einen Ausweg daraus, was für Delius wie eine wohltuende Erlösung gewirkt haben muss.378 Gustav Zürcher resümiert dazu im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dass Delius „mit dieser Erzählung aus sich heraus gekommen ist und sich einen längst überfälligen Kloß von der Seele geschrieben hat“379. Delius ist es damit gelungen, so Zürcher weiter „Zeitkolorit und Autobiografisches, die Kindes- und die - freilich dominierende - Erwachsenenperspektive zu einer novellistischen Synthese zu bringen, die auf eine mit vielen ironischen Brechungen versehene, eine vorläufige Befreiung also, zuläuft“380.

Die emanzipatorische Kraft des Finales von Bern 1954

Der Sonntag, an dem er Weltmeister wurde, begann für ihn wie jeder Sonntag mit dem Glockengeläut, das ihn weckte.381 Zunächst bleibt er noch etwas im Bett liegen und beschreibt die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen. Dabei kommen ihm zuerst die Vorzüge des Sonntags in den Sinn: Es ist der einzige Tag, an dem er nicht um 6.00 Uhr geweckt wird382 und nicht die ungeliebte Fahrt mit dem Schulbus antreten muss. Was ihm auch erspart bleibt, und hier erfährt der Leser bereits etwas über seine allgemeine Gemütslage, sind die Fragen, die ihm von Erwachsenen mit einer bestimmten herrischen Erwartung gestellt werden und auf die er nur stotternd antworten kann.383

Er freut sich, von diesen „gewöhnlichen Gefangenschaften der Woche“384 am Sonntag etwas befreit zu sein, obwohl auch der Sonntag durch zahlreiche Regeln unter dem Motto „Du sollst den Feiertag heiligen385 reglementiert wird: „Nicht nur die beiden Gottesdienste für Kinder und für Erwachsene, nicht nur das Zeremoniell von Singen, Beten, Zuhören, sondern jede Regung, jeder Schritt standen unter diesem Gebot. Räuber und Gendarm und ähnliche Gruppenspiele in Scheunen, auf Straßen und Feldern waren verboten, Spiele in den Zimmern erlaubt, Toben und Streiten verboten, das Hämmern und Sägen an der selbstgebauten Holzhütte neben dem Hühnerstall verboten, das Sitzen in der Hütte erlaubt (…), Lederhosen verboten, Manchesterhosen erlaubt, Fahrradfahren vormittags zur Gottesdienstzeit verboten, nachmittags erlaubt, Fußballspielen auf dem Hof oder Kirchplatz vormittags wegen der Sonntagsruhe, nachmittags wegen der Sonntagskleider verboten, aber der Gang zum Sportplatz erlaubt, wo die Erste Mannschaft des F.C. Wehrda jeden zweiten Sonntagnachmittag ihre Spiele austrug. Ich hatte alle diese Regeln im Kopf, die mir beschämend einsichtig erschienen, weil ich mit ihnen verwachsen, in sie hineingewachsen war. Ich mochte sie nicht, aber ich akzeptierte sie, und je länger ich im Bett lag, desto später würden sie in Kraft treten.“386

Hintergrund all dieser Regeln ist das Gottesbild der Familie, das besagt, dass der Sonntag für Gott da sei, dem die Familie alles zu verdanken habe. Deshalb kontrolliert Gottes Auge auch strengstens die Einhaltung all dieser Regeln und da gibt es kein Entrinnen. Selbst wenn der Junge meint, er könnte es, gibt es immer noch die Augen der Eltern und der Großeltern, die das Gottesauge vervielfachten.387 Deshalb ist seine Gottesbeziehung mindestens ambivalent: „Mein Kopf war belagert und mein Körperbündel besetzt von der unbegreiflichen Macht Gott, die in alle Gedanken hineinregierte, mein verschupptes, verstottertes Leben bestimmte, eine Macht, die zugleich gütig und streng sein sollte und als höchste Instanz der Liebe Vater und Mutter wie Marionetten zu führen schien.“388 Dem zu entrinnen oder wenigstens damit zurecht zu kommen, dies scheint ihm unmöglich: „Nie würde ich es schaffen, mich an diesen unberechenbaren Herrn zu gewöhnen mit Beten, Dienen, Danken, Glauben, Singen, aber noch schlimmer die Vorstellung der Leere, der Verdammung, der Schuldgefühle, mit denen Gott den verfolgte, der sich seinen Befehlen nicht zu unterwerfen verstand und zum Heiden wurde.“389

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