Leidenschaft und Fußball

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Jedes Spiel ist und bleibt, auch aufgrund des Tempos und der Zeit, einmalig, und kein Experte kann die Dramaturgie eines Spiels schon vor dessen Beginn voraussagen.276 Hierin liegt ein weiteres Geheimnis, das so viele Menschen für den Fußballsport begeistert.

1.2.1.8 „Mach’ ihn! Mach’ ihn! Er macht ihn!“

Mit diesen Worten kommentierte Tom Bartels in der ARD-Übertragung das entscheidende 1:0 von Mario Götze in der Verlängerung des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Argentinien 2014.

Jeder Fußballer kennt das Glücksgefühl, wenn der Ball mit Wucht in die Maschen des gegnerischen Tores knallt; und da ist es nicht so entscheidend, ob er selbst der Torschütze ist oder den Treffer als Fan und Zuschauer seiner Mannschaft bejubelt. So bezeichnete der ehemalige Bundesliga- und Nationalspieler Klaus Fischer die Tore zu Recht auch einmal als das „Salz in der Suppe“277 und Hans Blickendörfer ergänzt, dass die Sekunden, in denen sich der Ball im Tornetz verfängt, „auf dem Dorfanger mit gleichem Glück und Leid ausgekostet werden wie im großen Stadion“278.

Um genau zu verstehen, warum ein erzielter Treffer in einem Fußballspiel so besonders ist, muss man sich die fußballspezifische Qualität eines Tores vor Augen führen. Denn innerhalb der Gattung der Punkte und Treffer, die ein Ballspiel grundsätzlich entscheiden, ist das Tor beim Fußball eine besonders rare Spezies. Die Regeln sind hier nämlich so eingerichtet, dass meist nur wenig Tore fallen. Dies lässt sich auch statistisch belegen. In den 43 Spielzeiten der Bundesliga von 1963/64 bis 2004/05 fielen im Schnitt 3,11 Treffer pro Spiel. Eine Entwicklung zu mehr oder weniger Toren pro Spiel ist dabei nicht zu verifizieren.279 „Beim Fußball sind Treffer demnach Höhepunkte, auf die hin die gesamte Dramaturgie des Spiels sich zusammenzieht. Aus dem Minus der Anzahl wird ein Plus der Spannung.“280 Und solange sich an den Regeln nichts Grundsätzliches ändert, wird die ideale Torquote von ca. drei Treffern pro Spiel eine sichere Grundlage für spannenden Fußball bleiben.281

Ein 0:0 kann zwar auch ein sehr spannendes Spiel sein, wenn beide Teams unablässig auf ein Tor drängen und sich zahlreiche gute Chancen herausspielen. Trotzdem fehlt einem torlosen Remis in vielen Fällen der letzte Kick. Auf der anderen Seite sind sehr torreiche Spiele, die 5:4 oder 4:3 ausgehen, faszinierend, würden aber auch an Reiz verlieren, wenn sie zur Alltäglichkeit verkommen würden.282

Jede Mannschaft strebt grundsätzlich nach Toren, denn nur durch sie können Spiele gewonnen werden. Allerdings ist es nicht so einfach ein Tor zu erzielen. Denn auf einem sehr großen Spielfeld bewegen sich viele Spieler, die den Ball immer sehr gut treffen müssen um einzunetzen. So wird verständlich, warum in einem durchschnittlichen Fußballspiel nur sehr wenige der zahlreichen Angriffsaktionen in einen Torerfolg münden. Die geringe Trefferquote liegt folglich in der Struktur des Spiels begründet und ist ihm immanent. Darin, dass es beim Fußball so schwer ist den Ball im Netz unterzubringen, liegt ein wesentlicher Beitrag zur Spannung des ganzen Spiels.283 Bausenwein spitzt dies zu, wenn er schreibt: „Viele Schüsse, die danebengehen, sorgen für mehr Spannung als eine Vielzahl von Treffern. Nur weil ihm eine Fatalität des Misslingens anhaftet, kann der Torschuss sich zum Drama entwickeln.“284

Und weil am Ende des Spiels tatsächlich nur die Tore über Sieg oder Niederlage entscheiden, kann durch einen glücklich erzielten Treffer der schlechteren Mannschaft kurz vor Schluss der Spielverlauf auf den Kopf gestellt und die bessere Mannschaft um ihren verdienten Lohn gebracht werden.285

In diesem Zusammenhang ist auch die Größe des Tores zu erwähnen, wenn es darum geht, das besondere Erlebnis eines Tores zu beschreiben. Die Ausmaße des Tores (Höhe: 2,44m – Breite: 7,32m) sind nämlich so aufeinander abgestimmt, dass theoretisch jederzeit ein Treffer fallen kann, Tore aber trotzdem selten genug bleiben.286

Welche Emotionen, sowohl Freude als auch Trauer, ein Tor auslösen kann, lässt sich Woche für Woche auf zahlreichen Fußballplätzen von der untersten bis zur höchsten Liga beobachten, oder natürlich auch bei Länderspielen. Einige Beispiele, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sollen dies verdeutlichen: So versetzte etwa das 3:2 von Helmut Rahn im Weltmeisterschaftsfinale gegen Ungarn in Bern 1954 fast eine ganze Nation in Freudentaumel.287 Der damalige Kapitän Fritz Walter beschrieb die Emotionen in seinem Buch über Sepp Herberger später so: „Keine Chance für Ungarns Schlussmann! Diesen flachen scharfen Ball konnte er nicht erreichen (…) Helmut am Boden! Mehrere Abwehrspieler am Boden! Das war die Sekunde, in der Rahn das Tor seiner Tore schoss, die Sekunde, in der es Herberger von der Bank hochriss. Die Sekunde, die die Ungarn wie ein Blitz traf, in der die Entscheidung fiel, in der Fußball-Deutschland in eine nie erlebte, unvergessliche Ekstase geriet (…). Tor! Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland! (…) schrie heiser vor Erregung Rundfunk-Kommentator Herbert Zimmermann in sein Mikrofon.“288

Der Freude der deutschen Elf über das Tor steht die Trauer der Ungarn entgegen, der anderen großen Emotion, die ein Tor hervorrufen kann. So berichtete der damalige ungarische Torwart Grosits sogar noch im Jahre 2005, also über 50 (!) Jahre nach dem Finale in einem Interview: „Ich zähle nicht mehr, wie oft ich davon träume. Ich habe dieses Spiel hunderttausendmal gespielt, ich sehe Helmut Rahns Schuss zum 3:2 und meine Hand. Es kommen Millionen Variationen heraus, was wir hätten besser machen können (…). Es ist hoffnungslos (…). Es ist nie etwas gekommen, was mich über dieses 2:3 hätte hinwegtrösten können. Wir haben verloren, es schmerzt heute noch, und es wird immer wehtun.“289

Oder bedenkt man die bis heute andauernden Diskussionen um das sogenannte Wembley-Tor in der Verlängerung des Finales der Weltmeisterschaft 1966 für England gegen Deutschland.290 Daran kann man ersehen, wie wichtig ein Tor beim Fußball sein und welche Emotionen es auslösen kann.

In diesem Zusammenhang soll auch auf das sogenannte Jahrhundertspiel verwiesen werden: das Halbfinale der Weltmeisterschaft in Mexiko vom 17. Juni 1970, als Deutschland nach packendem Spiel und nach Verlängerung 3:4 gegen Italien verlor. Der Fußballautor Axel Hacke schreibt dazu: „[E]s war ein Spiel für die Ewigkeit, eines dieser mystischen Ereignisse, die bis heute in der Erzählungen der Menschen weiterleben, ein episches Ringen in fürchterlicher Hitze.“291

Unzählige Male kommentiert wurden bereits die zwei Tore in der Nachspielzeit des Champions-League-Finales am 26. Mai 1999 im Stadion Camp Nou in Barcelona im Spiel Manchester United gegen den FC Bayern München. Die Bayern gingen vor 98.000 Zuschauern in der 6. Minute durch Mario Basler in Führung und mussten erst durch zwei Treffer in der 91. und in der 93. Minute eine der bittersten Niederlagen ihrer Vereinsgeschichte hinnehmen.292

Ebenso berühmt wurde das Tor von Patrik Andersson am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison 2000/2001 für den FC Bayern München gegen den Hamburger SV in der 94. Spielminute. Dieses Tor rettete den Münchnern das 1:1-Unentschieden und damit die Deutsche Meisterschaft in sprichwörtlich letzter Sekunde. Schalke 04 wurde als Zweitplazierter nur Meister der Herzen, was der Schalke-Fan Frank Weber einst so beschrieb: „Der alte Mann, der neben mir auf der Tribüne ‚auf Schalke‘ saß, nahm mich in den Arm und hatte Tränen in den Augen: ‚Junge, werden wir jetzt Meister?‘ (…) Vor mir drehte sich eine junge Frau um, auch sie weinte. Und alle bewegte nur eine Frage: Sollte es etwa doch wahr werden? Unser FC Schalke 04 Deutscher Meister (…)? (…) Es gab noch einen letzten Freistoß für den FC Bayern (…). Und natürlich landete der Ball im Tor – tosender Jubel verwandelte sich in Sekunden in eisiges Schweigen. ‚Wir‘ waren nur Zweiter! Neben mir sah ich einen kleinen Jungen, der seine Fahne sinken ließ und in Tränen ausbrach (…). Überall lagen sich wildfremde Menschen weinend in den Armen. Und eines war mir in diesem Moment klar: Für wie unwichtig mancher auch Fußball halten mag, die Gefühle waren echt.“293

Über ein faszinierendes Tor weiß auch der englische Fußballer Troy Deeney zu berichten. Es fiel in einem Relegationsspiel zum Aufstieg in die englische Premier League im Mai 2013 zwischen Deeney’s Verein Watford und Leicester. Es läuft die 97. Spielminute und es steht 2:1 für Watford. Da bekommt Leicester einen Elfmeter zugesprochen. Geht dieser ins Tor, ist Leicester ganz sicher für die nächste Runde der Relegation qualifiziert. Doch der Torwart von Watford hält den Elfmeter und leitet den Ball sofort weiter. Durch den direkten Gegenzug gelangt der Ball zu Troy Deeney, der den Ball zum 3:1 für Watford verwandelt, woraufhin alle Watford-Fans völlig ausrasteten. Deeney sagte dazu im Nachhinein: „Fußball kann so brutal sein – und so großartig.“294

Und schließlich darf hier das bereits eingangs erwähnte 1:0 von Mario Götze im Finale der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien für Deutschland gegen Argentinien in der 113. Spielminute nicht fehlen, das Deutschland zum vierten Mal zum Fußball-Weltmeister machte.

Dies alles waren Tore, die zu herausragenden Siegen oder auch schmerzhaften Niederlagen führten. Auf jeden Fall sind sie Stoff für fußballerische Mythen und Geschichten, die man sich immer wieder gerne erzählt.295

1.2.1.9 Fußball als ästhetischer Genuss

Nicht jedes Fußballspiel ist schön bzw. kunstvoll. Trotzdem sind in den Fußballregeln zahlreiche Möglichkeiten eines kunstvollen Spiels angelegt. Die Nutzung und die Entfaltung dieser Möglichkeiten liegt ganz bei den Spielern. Denn sie dürfen ihren Körper nicht einfach einsetzen, wie sie gerne möchten, sondern müssen dies in einer bestimmten Art und Weise tun. Sie dürfen bekanntlich den Ball nicht mit der Hand spielen296, sondern müssen den Fuß benutzen, was wesentlich schwieriger ist. Sie folgen damit einem Prinzip der Kunst, das Walter Jens als das „Prinzip der freiwilligen Selbsterschwerung“297 beschreibt.

 

Diese Erschwerung verlangt dem Körper eine besondere Geschicklichkeit ab und genau darin liegt die Kunst des Spiels. Wenn diese Kunst gelingt, empfindet der Zuschauer das gemeinhin als schön. Die besondere Geschicklichkeit wird dadurch noch gesteigert, dass Fußball in Kombination mit den Mannschaftskollegen und unter ständiger Störung durch den Gegner erfolgt. Sind einem Spieler diese Herausforderungen im Spiel nicht anzumerken, da er sie mit Leichtigkeit und Eleganz bewältigt, darf er sich der Bewunderung der Zuschauer sicher sein.298

So schrieb beispielsweise H. J. Nesslinger über den Kaiser Franz Beckenbauer: „Er schlug die Bälle locker aus dem Fußgelenk, er stand immer schon da, wohin andere unter Keuchen erst spurten mussten, ließ die Arme scheinbar schlaff hängen, blieb scheinbar cool bis in die Zehen und spielte den Ball scheinbar mühelos. Sein unnachahmlicher Stil besaß Eleganz und einen Hauch Snobismus, seine Haltung Arroganz.“299 Über Beckenbauer und andere Fußballer seines Stils sagt man, sie seien wahrhafte Fußball- Spieler gewesen, keine Kämpfer.300

Im als schön empfundenen Fußball kann sich nicht zuletzt die ganze Ästhetik des Spiels entfalten. Dies wird zum Beispiel erkennbar, wenn die Spielidee und ihre Ausführung identisch sind und pure Lust und Spaß das Spiel kennzeichnen, weil man sich völlig im Spiel verliert. Wenn im Gegenzug Spieler den Spaß am Spiel vernachlässigen, lediglich ihre Pflicht erfüllen und nur das Nötigste tun, fühlt sich das Geschehen auf dem grünen Rasen eher als Arbeit an und erscheint unansehnlich.301

Vor allem in einem guten Angriffsspiel kann sich die ganze Schönheit dieses Spiels zeigen, weshalb die defensiven Zerstörer des Spiels einem attraktiven Fußballspiel abträglich sind.302 Und wenn ein Angriffsspiel nicht nur schön, sondern auch effektiv ist, ist es nahezu ideal. Denn bei aller Hochschätzung des schönen Fußballs, am Ende entscheiden immer noch die mehr geschossenen Tore über Sieg oder Niederlage.303 Im Laufe der jüngeren Fußballgeschichte war immer wieder festzustellen, dass sich Schönheit des Spiels und Erfolg nicht ausschließen müssen. Als Beispiele seien hier lediglich die französische Fußball-Nationalmannschaft von 1998 genannt, die mit einem disziplinierten aber auch attraktiven Spiel im eigenen Land Weltmeister wurde oder in den letzten Jahren die spanische National-Elf,304 die 2008 und 2012 Europameister und 2010 Weltmeister wurde.

Ästhetik und Effizienz werden sich nie ganz verbinden lassen. Um aber Fußballkunst in Vollendung zu erleben, müssen die Spieler bis zu einem gewissen Grad vergessen, was sie während des Spiels gerade tun. Gelingt dies, vergessen sie also sämtliche körperliche Anstrengung und denken nicht zu viel über Strategie und Taktik nach, sondern spielen herzerfrischend nach vorne, sozusagen mit offenem Visier und treffen dabei im Idealfall auf einen Gegner, der dies genauso praktiziert. So kann unter großer Begeisterung der Zuschauer eines jener Spiele entstehen, die man später als legendäres Fußballwunder bezeichnet.305

Dies sind Spiele, in denen mancher Spieler über sich selbst hinauswächst bzw. über seine Verhältnisse spielt. Und genau darin liegt für den Philosophen Martin Seel der ästhetische Reiz des modernen Sports überhaupt: „Das ist der ganze Sinn sportlicher Handlungen: im Rahmen begrenzter Zeit und begrenzten Raums etwas durch körperliche Tätigkeiten zu vollbringen, deren Koordination nicht vollständig beherrscht werden kann. Der Sportler ist jemand, der in aller Öffentlichkeit und auf virtuose Weise etwas zu tun versucht, das er nicht kann.“306 Weil jedoch im Mannschaftssport Fußball dieses vollständige Gelingen eher unwahrscheinlich ist, ist hier die Begeisterung über ein schönes Spiel besonders ausgeprägt.307

Als ein Beispiel eines solchen Spiels sei nochmals auf das Halbfinale bei der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko zwischen Italien und Deutschland verwiesen, das sogenannte Jahrhundertspiel, das Italien nach Verlängerung mit 4:3 für sich entschied.308 Als Karl-Heinz Schnellinger in der 92. Minute den zwischenzeitlichen 1:1-Ausgleich erzielte und Deutschland damit in die Verlängerung rettete, „stürzen Biergläser um panisch kreischende, sich umschlingende, gegen die Decke hin wachsende, kreiselnde, torkelnde, schlingernde Paare“309, wie es der Fernsehzeuge Bernward Vesper beschrieb.

1.2.1.10 „Weil se nich wissen, wer gewinnt“ -über die Spannung beim Fußball

Solch ein Spiel wie das 1970er-WM-Halbfinale zwischen Italien und Deutschland bezeichnet man auch gerne als Fußball-Krimi. Doch ein guter Kriminalfilm im Fernsehen oder im Kino wird dadurch charakterisiert, dass der Zuschauer gezielt mit Informationen versorgt wird, die die Protagonisten im Film nicht haben. So sehen die Zuschauer beispielsweise eine tickende Bombe, die unter dem Tisch liegt, während sich die Darsteller im Film bei Tisch über irgendein belangloses Thema unterhalten. Der Zuschauer ist aufgrund dieses Informationsvorsprungs angespannt, weil er die Darsteller im Film am liebsten auf die Bombe unter dem Tisch hinweisen würde.310

Beim Fußball ist dies anders. Hier ist der Zuschauer direkt in die Spannung dessen, was sich auf dem grünen Rasen abspielt, mit hineingenommen. Alles ist live, nichts ist künstlich konstruiert. Und dieser Spannungsbogen baut sich bei jedem Spiel aufs Neue auf. Deshalb gehen laut Sepp Herberger die Leute auch zum Fußball - „weil se nich wissen, wer gewinnt“311. Zwar wiederholt sich vor den Spielen das permanente Ritual der Prognosen, aber jeder weiß, dass es ganz anders kommen kann. Trotzdem ist es für viele äußerst interessant, vor dem Spiel alle möglichen Faktoren zu bedenken und daraus Rückschlüsse auf den möglichen Spielverlauf zu ziehen.312

Denn vor dem Spiel ist der Ausgang meist offen, die knisternde Atmosphäre ist mit Händen zu greifen. Aufgrund der wenigen Tore werden viele Spiele selten sehr frühzeitig entschieden. Die Spannung wird allerdings nur dann erzeugt, wenn der Zuschauer Partei ergreift. Oder wie der Soziologe Gerhard Schulze es formuliert: Die Spannung liegt darin, „Konkurrenzsituationen zu inszenieren, um das Ausagieren der darin angelegten Spannung anzuschauen und sich dadurch stimulieren zu lassen.“313 Dies gelingt beim Fußball besonders gut, denn der Fußballzuschauer muss in jeder Sekunde mit einem plötzlichen Umschwung rechnen.314

Die Spannung im Spiel folgt gleichsam einem gewissen Rhythmus, der durch den Wechsel verschiedenster Phasen gekennzeichnet ist: Von hoher Konzentration bis aufkeimender Langeweile, von erleichtertem Durchatmen bis zu starrem Entsetzen, von fröhlicher Ausgelassenheit bis zu wütender Empörung - die Gefühlsskala beim Fußball hat oft Vieles davon zu bieten, natürlich nicht in jedem Spiel in gleicher Ausprägung, aber dennoch in zuverlässiger Wiederkehr im Verlauf mehrerer Spiele. Diese Spannung ist durchaus ernstzunehmen, jedoch für den Zuschauer als nicht unmittelbar bedrohlich, da das persönliche Schicksal nicht vom Ergebnis des Spiels abhängt. Jedoch besteht hierbei ein Spannungsverhältnis zwischen Distanzierung und Identifikation: Je mehr sich der Zuschauer distanziert, desto weniger Spannung wird er erleben und je mehr er sich mit einer Mannschaft identifiziert, desto größer ist das Risiko, eine Niederlage des eigenen Teams auch für sein wirkliches Leben als bedrohlich zu empfinden.315

Spannung im Fußball kann sich auch aus der Gleichheit bzw. Ungleichheit der Kontrahenten ergeben. Gleichstarke Teams können sich ein hochspannendes Match liefern, sich aber auch gegenseitig neutralisieren. Ist der Unterschied zu groß, tendiert die Spannung gen Null. Doch ab einem bestimmten Niveau ist der Unterschied zwischen den einzelnen Mannschaften nicht mehr so groß, so dass es keine Gewinngarantien, sondern nur noch Favoriten gibt, die wiederum gestürzt werden können; vgl. DFB-Pokalspiele zwischen Mannschaften verschiedener Ligen.316

Hat ein Verein großes finanzielles Kapital zur Verfügung, erhöhen sich bei ihm zwar die Erfolgschancen, eine direkte Titelgarantie ist dadurch aber nicht gegeben. Denn grundsätzlich kann in der deutschen Bundesliga jeder jeden schlagen, womit der Ausgang keines Spiels vorhersehbar ist. Genauso wenig ist der Ausgang einer jeden Saison nicht sicher prognostizierbar: Wer wird Deutscher Meister? Wer steigt ab? Wer darf Champions League spielen, wer Europa League? All das kann nicht geplant werden und jede Saison für sich hat andere, höchst spannende und abwechslungsreiche Antworten auf diese Fragen parat.317

Man denke nur beispielhaft an das Saisonfinale von 1992, als der VfB Stuttgart sich durch einen Treffer von Guido Buchwald drei Minuten vor Schluss noch die Deutsche Meisterschaft sicherte. Gleiches schafften wie bereits erwähnt die Münchner Bayern 2001, als Bayerns Andersson in der Nachspielzeit noch der entscheidende 1:1-Ausgleich gelang, der den Bayern zur Meisterschaft verhalf. Nicht weniger dramatisch und spannend ging es im Abstiegskampf 1999 zu, wohl einem der knappsten in der Geschichte der Bundesliga318, bei dem Nürnberg erst am letzten Spieltag und nur aufgrund der weniger geschossenen Tore bei gleicher Punkt- und Tordifferenz absteigen musste.319

Aus dieser Unplanbarkeit und Unsicherheit zieht der Fußball eine seiner zahlreichen Faszinationen:320 „Jedes Spiel und jede Saison ist eine (…) Expedition ins Ungewisse, ein immer neues Abenteuer, an dessen Ende etwas Großartiges oder etwas Schreckliches stehen kann, Sieg, Niederlage, das Wahrscheinliche oder das komplett Unerwartete, eine scheußliche Verletzung, eine unvergessene Szene, ein Tor für die Annalen des Fußballs, irgendwas.“321

Und trotz aller mitunter nervenaufreibender Spannung, die im Fußball sportlich nicht immer zu einem glücklichen Ende führt, bleibt der Fan trotzdem dem Fußball zugewandt322: „Alle, die sich einmal von der Atmosphäre haben anstecken lassen, die auf Fußballplätzen und in Fußballstadien herrscht, können ein Lied davon singen, mit welcher Vehemenz an solchen Orten auf der Klaviatur der Gefühle gespielt wird. Von überschäumender Freude bis zur tiefsten Depression, von freundschaftlicher Ausgelassenheit bis zur hasserfüllten Aggression, von gespannter Erwartung bis zur grenzenlosen Enttäuschung – alle Emotionen sind hier versammelt und werden in raschem Wechsel durcheinandergewirbelt. Wie immer man diese Vielfalt der Erregung, im Positiven wie im Negativen, beurteilen will – eines trifft in jedem Fall zu: Der Fußball weckt die Lebensgeister.“323

1.2.1.11 Ambivalenz von Unberechenbarkeit und Zweckrationalität

In den Punkten 1.2.1.1 bis 1.2.1.10 klang mehrfach an, dass man beim Fußball einerseits durch die Beachtung verschiedenster Aspekte (Ball, Füße, Räume, Tempo etc.), das heißt, in zweckrationaler Absicht versucht, das Spiel zu optimieren und zu planen, dessen Ausgang andererseits aber immer zu einem gewissen Teil unplanbar und unvorhersehbar bleibt. In dieser Ambivalenz von Unberechenbarkeit und Zweckrationalität liegt ein wesentliches Faszinosum des Spiels, weshalb sie abschließend eigens und genauer analysiert werden soll.

Um dieser Ambivalenz auf die Spur zu kommen, soll zunächst dem Trierer Soziologen Alois Hahn gefolgt werden. Denn er hat sich unter anderem in seinem Aufsatz „Kultische und säkulare Riten und Zeremonien in soziologischer Sicht“324 mit der Handlungsstruktur profaner Riten beschäftigt. Mit diesen haben wir es beim Fußball als säkularem Phänomen zu tun. Hahn erklärt dabei, wie aus profanen Riten religions-analoge Sinnkonstrukte hervorgehen können.325 Diese Überlegungen bilden die Grundlage zur Beschreibung der bestehenden Ambivalenz.

 

Ausgangspunkt der Hahn’schen Ausführungen ist die Tatsache, dass es in jeder Gesellschaft einen grundlegenden Unterschied zwischen solchen Aufgaben gibt, die sich mittels eines sozial-technischen bzw. direktindividuellen Zugriff lösen lassen, und solchen, die auf diese Weise nicht bewältigt werden können. Denn es gibt in jeder Gesellschaft Situationen, die den Handelnden als derart ohnmächtig erscheinen lassen, dass er sich seiner eigenen Inkompetenz mehr oder weniger gewahr wird. Dies sind solche Situationen, in denen das ansonsten zielgerichtete, zweckrationale Handeln des Menschen keinen Erfolg mehr verspricht. Hier setzt der Hahn’sche Ritenbegriff an, der Riten als „regelmäßige Handlungen oder Vermeidungen [beschreibt], die sich nicht ohne weiteres als technisches Mittel zur Erreichung eines empirischen Zwecks interpretieren lassen“326. Daher charakterisiert er die Riten auch als „extra-empirisch“327.

Dies kann man beispielsweise sehr gut an früheren, primitiveren Gesellschaften beobachten, wie dies etwa der Kulturanthropologe Bronislaw Malinowski bei den Trobriandern getan hat.328 Trobriander sind Bewohner der Trobriand-Inseln, einer Inselgruppe in der Salomonensee, die zu PapuaNeuguinea gehört.329

Bei ihnen gibt es zahlreiche technische Fertigkeiten und Kenntnisse, die zur Beherrschung natürlicher Lebensprobleme angewandt werden. Auch sie trennen sorgfältig zwischen solchen Problemen, die sie mit ihren technischen Möglichkeiten bewältigen können, und solchen Situationen, denen sie hilflos ausgesetzt sind, ohne dass sie selbst den Erfolg kontrollieren könnten. In letztgenannten Situationen greifen sie nun zu rituellen bzw. magischen Praktiken, da sie ansonsten ohnmächtig bleiben müssten. Malinowski machte dies am Beispiel des Fischfangs deutlich. Der Fischfang in der Lagune ist für die Trobriander ungefährlich und kann technisch gut bewältigt werden. Der Hochseefischfang hingegen ist sehr risikoreich und technisch nicht immer kontrollierbar, so dass sie den Gefahren des offenen Meeres bis zu einem gewissen Grade hilflos ausgeliefert sind. Dieser Hilflosigkeit begegnen die Trobriander mit dem Einsatz ritueller Techniken. Wo zweckrationales Handeln an seine Grenze stößt, ersetzen bzw. ergänzen es die Trobriander durch Riten.

Um diese Verhaltensmuster nachzuweisen, muss man nicht erst zu den Trobriandern gehen. Bauern wissen zum Beispiel auch, dass der Erfolg der Ernte teils vom eigenen Geschick abhängt, teils aber auch von der unkontrollierbaren Witterung. Ein Bauer würde allerdings kaum auf die Idee kommen die Mühe der Aussaat und des Pflügens durch Opfer und Gebet zu ersetzen. Hier kommt der Ritus, im katholischen Bereich etwa der Wettersegen, ergänzend zum zweckdienlichen Handeln hinzu.330

Selbstverständlich wurde die Handlungslosigkeit in Bezug auf die Überwältigung durch die Natur durch Wissensfortschritte erheblich zurückgedrängt: wir können heute viel mehr tun als die Trobriander. Trotzdem entsteht hier, aber auch in anderen Bereichen unserer modernen Gesellschaft, unter Umständen jener archaische Handlungszwang erneut und die sich in derartigen Situationen bildenden Affekte müssen in der ein oder anderen Form bewältigt werden.331

Um zu beweisen, dass solche - theologisch gesprochen: Kontingenzerfahrungen - unabhängig von der Rationalitätsstufe oder des Modernisierungsgrades einer Gesellschaft einsetzen332, führt Hahn ein eindrucksvolles Beispiel aus dem höchst-technisierten Bereich eines Raketenstarts an, genauer gesagt der Start der ersten Atlas-Rakete auf Cap Canaveral. Obwohl die Techniker wussten, dass die Rakete auf menschlichen Zuspruch logischerweise nicht reagiert, beobachtete man, wie sie vor dem Start wie bei der Anrufung von Heiligen in einer Litanei oder gar Gott selbst unter rhythmischen Zuckungen „Go, Atlas, go!“ schrien, als würden sie die Rakete gewissermaßen anfeuern. Würde man die Raketentechniker danach fragen, ob sie daran glaubten, dass die Rakete ein lebendiges Wesen sei, das auf Beschwörungsformeln reagiere, würden sie dies selbstverständlich verneinen. Vor dem Start allerdings, im Augenblick höchster Spannung, in Bann gezogen von der Frage, ob denn alle Abläufe hundertprozentig vonstatten gingen, aber zur ohnmächtigen Handlungslosigkeit verurteilt333, „da führt der Stau von Energien zum Ausbruch in verbale und motorische Akte, deren Vorstellungskorrelat jene archaische Weltauffassung von der Allbelebtheit aller Dinge und von der Unmöglichkeit des puren Zufalls ist“334.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: „Riten (…) [sind] extra-empirische, wiederholte Handlungen, die vorzüglich da auftreten, wo eine technische Kontrolle der Handlungsumstände zur Erreichung affektbesetzter Ziele auch subjektiv als unmöglich erscheint, in erfahrenen Ohnmachtssituationen also.“335

Dieses rituelle Handeln kann in einem zweiten Schritt in eine Sinnstruktur eingebunden werden, die religiös-archaischen Vorstellungen des Wirkens magischer Kräfte ähneln.336 Der Mensch ist laut Hahn nicht ohne Weiteres dazu fähig, die Umstände, von denen er objektiv abhängt, als bloß sachliche Gewalten zu empfinden.337 Er benötigt vielmehr die Vorstellung, dass „hinter den Dingen ein Zauber liegt, damit seine den Zauber vollziehenden Handlungen einen Sinn bekommen“338.

Diese These wiederum lässt sich nun freiweg und ohne Probleme auf den Fußball übertragen. Fußball lebt von der Unverfügbarkeit des Spielverlaufs und von der Ergebnisoffenheit, kurzum von herbeigeführten Ohnmachtserfahrungen. Wie beim Raketenstart beobachten wir auch beim Fußball die rituelle Bewältigung von Kontingenz, wenn sich beispielsweise der italienische Trainer Giovanni Trapatoni vor dem Spiel, nun jeglicher Eingriffsmöglichkeiten beraubt, bekreuzigt.339

Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn sie mittels des Fußballs eine Inszenierung solcher Kontingenzerfahrung und deren ritueller Bewältigung in ihre Populärkultur aufnimmt? In idealtypischer Betrachtungsweise ist die moderne Gesellschaft durch Rationalität geprägt. Der Soziologe Max Weber beschreibt den modernen Menschen daher als einen, der emotionalen Handlungsmotivationen zweckrationale vorzieht. Wichtige Entscheidungen werden eher überlegt als „aus dem Bauch heraus“ oder „weil es schon immer so war“ getroffen. Man wägt Vor- und Nachteile ab, versucht die zu erwartenden Folgen einzuschätzen, um dann entsprechend zu handeln.

Auch der Fußballsport wird immer mehr vom Prinzip der Zweckrationalität bestimmt. Die Vereine versuchen selbst bis in die unteren Ligen durch einen optimalen Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel größtmöglichen Erfolg zu erzielen.340 Infolge dessen wird beispielsweise versucht, durch professionell-konzipierte Konditionsprogramme die sportliche Leistung zu maximieren. So gesehen ist der Fußball ein Kind seiner Zeit, das heißt, permanent dem Machbarkeitsmythos auf der Spur.

Die eigentliche Faszination des Fußballs macht dies aber nicht aus. Sie ist vielmehr in der bereits angesprochenen Unberechenbarkeit und Ergebnisoffenheit des Fußballsports zu finden. So gut man den Fußball auch planen mag, eine Erfolgsgarantie wird es nicht geben.

Diese Erfahrung bietet Raum für religions-ähnliche, nicht authentischreligiöse341 Ausdrucksformen, Mythen und Riten, und ist zugleich ein Faszinosum, dem der Fußball seine Beliebtheit verdankt. Es sind die Überraschungssiege von vermeintlichen Außenseitern und die unerwarteten Spielausgänge, die den Reiz des Fußballs ausmachen, und nicht die Zweckrationalität. Insofern ist der Fußball in der Lage „eine als ‚heilig‘ apostrophierte Gegenwelt zum durch Vorhersehbarkeit geprägten Alltag zu bilden“342. Oder wie der Theologe Andreas Prokopf es formulierte: „Zyklisch tritt das Spiel in die als langweilig erfahrene Woche und ermöglicht das Erleben einer als überaus reizvoll empfundenen Ambivalenz von Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit.“343 Diese Momente, in denen die Unberechenbarkeit des Zufalls über die zweckrationalen Mittel siegt, werden dann gerne als Fußballwunder bezeichnet.344

Bleibt an dieser Stelle zu summieren: Die durch Zweckrationalität geprägte Gesellschaft inszeniert im Fußballsport das Scheitern ihres eigenen Machbarkeitsmythos’. Die Funktion des Fußballs ist hier in eingangs postulierter Ambivalenz zu sehen: Fußball treibt zum einen die Rationalität auf die Spitze, feiert aber gleichzeitig vor aller Welt dessen Scheitern. Auch darin besteht ein wesentlicher Aspekt der Faszination, die den Fußballsport so populär macht.345