Leidenschaft und Fußball

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Starke Kritik am Fußball kam auch von den Puritanern aufgrund ihrer Ideale der Gefühlsbeherrschung, Arbeitsdisziplin und der Zügelung des Genusses, kurz: der strengen Selbstzucht.77 Der triebgesteuerte Fußball hatte hier keinen Platz. Prominentester Verfechter der puritanischen Fußballkritik war der Prediger Philipp Stubbes, der in seinem Werk „Die Anatomie der Missbräuche“ aus dem Jahre 1583 den Fußball scharf verurteilte, indem er ihn als „teuflischen Zeitvertreib“ oder als „blutige und mörderische Beschäftigung“78 beschimpfte: „Lauert dabei nicht jeder seinem Gegner auf und versucht, ihn zu Fall zu bringen und ihm auf seine Nase zu schlagen, selbst wenn das Spiel auf steinigem Boden stattfindet?“79 Durch diese Spielweise, so Stubbes weiter, werde „manchem das Genick gebrochen, manchen der Rücken, anderen Arme und Beine, einigen schieße das Blut aus den Nasen, hervorquellende Augen seien keine Seltenheit. Selbst die Besten kämen nicht ohne Schaden davon, auch sie würden so verletzt und gequetscht, dass sie sterben würden oder jedenfalls nur knapp dem Tod entgingen“80.

Auch über die Folgen des Fußballspiels hat Stubbes eine eindeutige Meinung: „Daraus erwachsen Neid, Bosheit, Hass, Zorn, Abscheu, Missvergnügen, Feindschaft und was sonst noch alles. Und manchmal, wie die tägliche Erfahrung uns lehrt, führt das Kämpfen, Raufen, Zanken und Streitsuchen zu Mord, Totschlag und großen Blutströmen.“81

Aufgrund des großen Einflusses der Puritaner in der damaligen englischen Gesellschaft nahm die Zahl der Fußballfans in sämtlichen Gesellschaftsbereichen ab82, wobei die Fußballleidenschaft nicht auszurotten war. Denn während es zum Beispiel durch den Sieg der puritanischen Parlamentspartei über die Königlichen im Bürgerkrieg im Jahre 1642 und der daraus resultierenden harten Verfolgung der Fußballer es mit dem Fußball endgültig vorbei zu sein schien83, zeigte der 1660 inthronisierte König Karl II. wieder ein Herz für den Fußball. 1681 erfreute er sich sehr an diesem Sport als Zuschauer, und auch an den Schulen und Universitäten wurde in den folgenden Jahren wieder Fußball gespielt.84

Die Leidenschaft, die dieser Sport schon damals auslöste, war die tragende Säule, die den Fußball gegen alle äußeren Widerstände am Leben hielt.

1.1.7 Die Zeit des wilden Straßenfußballs

Im 18. Jahrhundert gab es sonntägliche Fußballspiele unter geistlicher Aufsicht, die allerdings nicht als ästhetischer Genuss zu bezeichnen waren. Dies galt insbesondere für die großen Spiele, die an Festtagen veranstaltet wurden.85 Hierzu ein Auszug aus einem Spielbericht eines Derbys, das zwischen den Gemeinden Llandyssul und Llanwenog im Jahre 1719 ausgetragen wurde: „Als das Spiel begann, herrschte eine ausgelassene Stimmung, die sich auch auf die von großem Lärm und Gejohle begleiteten Aktionen des Spiels übertrug. Erst nach einer Unterbrechung zur Mittagszeit wurde dann das, was so fröhlich begonnen hatte, plötzlich immer ernster.“86 Wie ernst, das kann man bei der Chronistin Anne Beynon nachlesen, deren Bruder an den Spielen teilgenommen hatte: „Schon kurz nachdem das Spiel am Nachmittag wieder begonnen hatte, fingen alle damit an, zu streiten, zu fluchen und sich gegenseitig zu treten. Einige waren nur betrunken, aber der große Rest hatte viel zu viel abbekommen; es war fürchterlich mit anzusehen, sie kämpfen zu sehen, wie die Mädchen hin und her rannten und schrien, um ihre Brüder und Freunde zu retten; aber das gelang natürlich nicht, und so fuhren sie fort, wie Bulldoggen miteinander zu kämpfen.“87 Am Ende war eine allgemeine Erschöpfung festzustellen und viele lagen gezeichnet vom Kampf und vielen Alkohol am Boden. Derartige Begebenheiten warfen kein gutes Licht auf den Fußball.

Erst nach und nach setzten sich einige Regeln durch, die dem ganzen Durcheinander Einhalt gebieten sollten. 1696 etwa ist ein Spiel mit begrenzter Spielerzahl (zehn gegen zehn) überliefert, wobei zusätzlich das Kicken mit dem Fuß wichtiger wird als das Raufen.88 Das erste schriftliche Zeugnis eines geregelten britischen Fußballspiels stammt aus Irland und ist ein 1720 in Dublin veröffentlichtes Epos von Matthew Concanens mit dem Titel „A Match at Football“. Dieses enthält viele Informationen rund um das Spiel, so zum Beispiel die, dass ein mit Heu gefüllter Lederball zum Spielen benutzt wurde und das Spielfeld sowie die Anzahl der Spieler pro Team begrenzt waren.89

Trotz dieser ersten Regeln blieb der Fußball mit Unruhen verbunden und war den Behörden ein Dorn im Auge. Dies galt vor allem für den wilden Straßenfußball, wie er in den wachsenden Städten gespielt wurde. Dieser wurde deshalb 1608 beispielsweise in Manchester verboten und 1618 wurden verschärfend - offensichtlich hatte das Verbot nicht die gewünschte Wirkung erzielt - spezielle „Football Officers“ eingesetzt. Das Verhältnis des Fußballs zur Obrigkeit war im 17. und 18. Jahrhundert angespannt und der Fußball blieb weiterhin verboten.

Lediglich auf dem Land sah man den Fußball als nicht so problematisch an90; vielmehr blieb der wilde Straßenfußball in den Städten Englands, der nicht selten blutige Raufereien und Sachschäden zur Folge hatte, das eigentliche Problem.91

Diese Entwicklung gipfelte laut Joseph Strutt am Ende des 18. Jahrhunderts darin, dass der Fußball in England fast vollständig von der Bildfläche verschwand: „Früher war das Fußballspiel beim einfachen englischen Volk sehr beliebt, scheint jedoch in letzter Zeit in Verruf geraten zu sein und wird nur noch selten betrieben.“92 Als Ursache dafür ist anzunehmen, dass sich die Konflikte zwischen den wilden Fußballern, sowohl denen aus der Stadt als auch denjenigen vom Land und den Behörden zugespitzt hatten, was auch politische Gründe hatte, die hier aber nicht näher beleuchtet werden sollen.93

Die Quellen über geregelte Fußballspiele geben leider nicht allzu viel Auskunft, aber dennoch, dass behauptet werden kann, dass der Fußball als Spiel im 18. Jahrhundert sehr beliebt blieb und es ein allgemeines Verständnis über seinen Ablauf gab.94 Auch während der Zeit der industriellen Revolution, die in England 1718 mit dem Bau der ersten großen Seidenspinnerei in Derby einsetzte, wurde Fußball gespielt, obwohl die Leute aufgrund der vielen Arbeit nicht so viel Zeit zum Spielen hatten. Denn es galt die 6-Tage-Woche und der 12-Stunden-Tag.95 So waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geregelte Formen des Fußballspiels mehr verbreitet als in vergangenen Zeiten, was zu einem lebendigen Spielbetrieb führte.96 Gespielt wurde unter anderem auf Cricket-Plätzen, auf brachliegenden Feldern, kleinen Gemeindewiesen oder Pferdekoppeln der Wirtshäuser. Dabei ging es durchaus diszipliniert und weniger chaotisch zu. Während sich diese regulierten Spiele im Laufe der Zeit großer Beliebtheit erfreuten97, wurden die wilden Massenspiele überall verboten und verschwanden so in relativ kurzer Zeit. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts verschwand die Tradition des Volksfußballs.98 Diese Entwicklung war allem Anschein nach die Folge damals vorherrschender, viktorianischer Moralvorstellungen einer disziplinierten Lebensweise, die offensichtlich in den vielen regulierten Spielen ihren sportlichen Ausdruck gefunden hatte.99

Bevor die Zeit beschrieben wird, in der der Fußball zu einem Spiel mit allgemein anerkannten Regeln wurde, zunächst noch eine Einschätzung von Christoph Bausenwein der besseren historischen Einordnung wegen: „Das Spiel, wie wir es heute kennen, hat eine lange Vorgeschichte; und schon Jahrzehnte vor der Zeit, als man Regeln mit einem universellen Geltungsanspruch schuf, gab es zahlreiche Varianten, die dem heutigen Spiel durchaus ähnlich waren. Vielleicht haben einige dieser Spielformen auf die Herausbildung der endgültigen Regeln einen gewissen Einfluss gehabt. Sicher scheint, dass sich der ‚richtige‘ Fußball später nur deswegen so rasch in der arbeitenden Klasse Großbritanniens verbreiten konnte, weil er auf ‘offene Türen’ traf: Die Grundidee des Spiels war schon längst bekannt.“100

1.1.8 Fußball in den Public Schools

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts trat der Fußball in verschiedensten Erscheinungsformen auf: Wie bereits erwähnt, wurde der traditionelle Volksfußball stark bekämpft bzw. war bereits verschwunden. Doch gleichzeitig entwickelten sich an den Public Schools weitere Sonderformen des Fußballs. In den separierten Räumen dieser Schulen, in denen die Gesetze einer eigenen Welt herrschten, hatten sich eigene Traditionen des Spiels herausgebildet.101 Im Laufe des 18. Jahrhunderts erwarben sich diese Schulen den Status als Schulen der Vornehmen, so dass hier viele adelige Schüler zu finden waren, die sich nicht mehr als bezahlte Dienstboten sahen, sondern durchaus ihre eigenen Vorstellungen hatten.102 So führten sie zum Beispiel Fußballspiele auf der Basis lokaler Regeln ein. Geht man von den strengen Vorgaben in puncto Benehmen aus, denen diese adeligen Schüler normalerweise unterworfen waren, überrascht auf den ersten Blick die brutale Art und Weise, wie sie Fußball spielten103, wie folgender Spielbericht aus Westminster veranschaulicht: „Während des Laufs mit dem Ball stellte der Gegner dir ein Bein, trat dir ans Schienbein, rammte dich mit der Schulter, riss dich zu Boden und setzte sich auf dich. In der Tat konnte er – außer Mord – alles tun, um dir den Ball zu entreißen.“104 Auf den zweiten Blick dürfte diese Brutalität aber eine Ventilfunktion gehabt haben und als Entlastung von den zivilisatorischen Zwängen empfunden worden sein, mit denen sie sich ansonsten in ihrem Alltag konfrontiert sahen.105

 

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich dann die Machtbalance von Bürgertum und Adel tiefgreifend, weil das Bürgertum während der Industrialisierung an Macht und Reichtum gewann und die finanzielle und politische Situation des Adels immer kritischer wurde. In diesem Zusammenhang wuchs auch die Autorität der Schule und damit der Lehrer, die nun die oben geschilderten brutalen Spiele grundlegend verändern wollten und sie zu einem Instrument sozialer Kontrolle und Disziplinierung der Schüler machten. Damit einher ging die Reformierung der verschiedenen winterlichen Fußballspiele, wobei vor allem die Reformen eines Thomas Arnold in Rugby (1828-1842) zum Paradebeispiel des neuen Erziehungsideals wurden. Da diese Reform schnell zu einem Erfolg wurde, entwickelte sich der „Rugby Football“ zu einem Kult, denn in ihm zeigte sich das Ethos des Sportsmannes in besonders vorbildhafter Weise.106

So kam es, dass bereits 1845 die ersten schriftlichen Regeln des Rugby-Spiels vorlagen. Besonders die folgenden drei Aspekte waren bei diesen Regeln wesentlich:

 Regulierung von Gewalt: Während beim alten Volksfußball noch alle Arten der Gewaltanwendung erlaubt waren, differenzierte man nun zwischen legitimer und illegitimer Gewalt. So war etwa das Tragen eisenbeschlagener Schuhe verboten, das Treten des anderen im Gedränge aber erlaubt.107

 Brechung des Individualismus der Schüler: Der einzelne Schüler, das heißt der einzelne Spieler, sollte mit seinem Team verschmelzen und der Sieg der Mannschaft und nicht der des Einzelnen im Vordergrund stehen.

 Das Problem der Pubertät entschärfen: Die Pädagogen der damaligen Zeit gingen davon aus, dass Masturbation schädlich und Sport der beste Weg zur Reinhaltung der Jungen sei.108

Das Entscheidende dieser Regeln war weniger das Spiel-Technische, sondern die ethischen Konnotationen, die für neue Identifikation und neue Verhaltensstandards sorgten. Neu war auch, dass man wegen der schriftlichen Fixierung der Regeln nun zum ersten Mal ein Spiel mit universeller Struktur hatte.109 „Kurz: Rugby war das erste Sportspiel, das man überall auf gleiche Weise spielen konnte (…). Daher (…) erhielt es sehr schnell in ganz England einen außerordentlichen Ruf.“110

Daraufhin verschriftlichten nun auch weitere Schulen ihre Regeln. Und da jede Schule stolz auf ihre Tradition war, entbrannte förmlich ein Wettkampf um die Frage, wer das beste Spiel vorzuweisen hatte.111

1.1.9 Die Gründung der englischen Football Association (FA)

Nach dem Verschwinden des Volksfußballs galten Mitte des 19. Jahrhunderts allein die an den Public Schools entwickelten und mittlerweile mit klaren Regeln versehenen Football-Varianten als gesellschaftlich akzeptabel. Die geregelten Spiele der arbeitenden Bevölkerung wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Allein der Rugby-Football brachte es außerhalb der eigenen Schule zu einer gewissen Verbreitung.112

Problematisch war allerdings, dass es vom Rugby-Football immer noch verschiedene Varianten gab, obgleich jeder davon überzeugt war, dass es sich beim Football um ein einziges Spiel handelte. Deshalb bemühte man sich nun erstmals einen allgemeinverbindlichen und allseits akzeptierten Regelcodex für ein Fußballspiel festzulegen. Konkret organisierten J.C. Thring und H. De Winton eine Zusammenkunft mit zwölf Vertretern anderer Schulen.113 Ergebnis dieses Treffens, bei dem hart diskutiert wurde, waren die sogenannten Cambridge Rules, die eindeutig das Kicken des Balles mit dem Fuß favorisierten. Auch außerhalb von Cambridge nahmen ungefähr zur gleichen Zeit die fußballerischen Aktivitäten zu. So wurden erste Fußballclubs gegründet (in Sheffield etwa 17, in London 25), die aber noch unterschiedliche Varianten des Fußballs spielten. In Cambridge durfte der Ball zum Beispiel mit der Hand nur gestoppt werden, in Sheffield durfte er auch mit der Hand geschlagen werden.114

Entscheidend war schließlich die Initiative von John D. Cartwright, der dafür plädierte die verschiedenen Fußballspiele in einem Regelwerk miteinander in Einklang zu bringen. Konkret lud er die Repräsentanten der einzelnen Fußballvarianten ein, gemeinsam an dieser Frage zu arbeiten. Im Oktober 1863 kamen daraufhin Vertreter von sechs Schulen am Trinity College von Cambridge zusammen.115 Zur gleichen Zeit trafen sich auf Einladung von Ebenezer C. Morley am 26. Oktober 1863 in der Freemasons’ Tavern in der Great Queen Street in London die Vertreter von elf Fußballteams, um „einen Verband mit dem Ziel zu gründen, ein festes Regelwerk zu schaffen und das Spiel so in eine feste Ordnung zu bringen“116. Dieses Treffen war die Gründungsversammlung der englischen Football Association (FA). Diesem Treffen folgten weitere, bei denen teils heftig um die Regeln gestritten wurde.117

In diesem Prozess waren nun wieder die Regeln, die zeitgleich in Cambridge diskutiert wurden, relevant. Der inzwischen zum Sekretär gewählte Morley lobte diesen Regelentwurf aus Cambridge, da in ihm „die wahren Prinzipien des Fußballs mit der größten Einfachheit enthalten seien“118. Wichtig in diesem wie auch in anderen Regelentwürfen war die Betonung, dass das in Rugby übliche Tragen des Balles und Treten des Gegners dem Grundgedanken des Fußballs entgegenstehen. Zudem wurde die Frage nach der im Spiel zulässigen Gewalt stark diskutiert: To hack or not to hack - darf man dem Gegenspieler in die Beine treten oder nicht?119

Aufgrund dieser zu klärenden Fragen gab es mehrere Treffen, an deren Ende man sich gegen das Hacking und gegen das Tragen des Balles entschied. Damit lag nun ein Spiel vor, das relativ gewaltfrei, einfach zu begreifen und ohne große Voraussetzungen gespielt werden konnte. Dieses Spiel hatte einige Vorteile gegenüber dem Rugby: man benötigte keinen weichen Rasen, keine besonderen körperlichen Voraussetzungen und musste danach weder mit zerrissener Kleidung noch mit schweren Verletzungen rechnen. Alle weiteren Regeln wurden am 8. Dezember 1863 ohne größere Debatten verabschiedet und veröffentlicht. Die ersten FA-Regeln waren geschaffen.120

Diese gelten zwar noch heute als Gründungsurkunde des modernen Fußballs, definierten aber tatsächlich ein Spiel, das mit unserem heutigen Fußball eher wenig zu tun hatte. So finden sich hier beispielsweise keine Angaben zu wesentlichen Elementen des Fußballs wie die Spieleranzahl, die Spieldauer, den Ball oder die Höhe des Tores. Der Fußball befand sich demnach immer noch in einem Prozess der Entwicklung. So war die Trennung vom Rugby Football erst mit der Gründung der Rugby Union 1871 definitiv.121

Darüber hinaus existierten in den verschiedenen Landesteilen Großbritanniens zahlreiche unabhängige Associations, deren Regelwerk teils sehr stark voneinander abwich. Erst im Laufe der Jahre glichen sie sich einander langsam an. Erwähnenswert ist hier der Anschluss der Sheffielder an die Londoner 1877, denn danach richteten auch viele andere Verbände ihre Regeln gemäß der Londoner FA aus und traten ihr nach und nach bei.122

1.1.10 Endgültige gesellschaftliche Etablierung des Fußballs in England

Die Gründung der FA war ein wichtiger Schritt für den Fußball, hatte er dadurch doch Regeln und einen Verband bekommen. Der Anspruch jedoch, auf nationaler Ebene alleiniger Repräsentant des Spiels zu sein, bestand viele Jahre nur auf dem Papier. 1866 hatte die FA nur zehn Mitgliedsvereine und außerhalb Londons spielte wohl jeder die Variante des Spiels, die ihm beliebte. Teilweise spielte man sogar eine Halbzeit nach FA-Regeln und die andere nach Rugby-Regeln.123

Eine Prognose darüber, wohin sich der Fußball in Zukunft entwickeln würde, war zu dieser Zeit noch nicht zu treffen. Einen Schub in Richtung Vereinheitlichung brachte dann das erste offizielle Länderspiel zwischen dem Queens Park Club Glasgow und einer englischen Auswahl am 30. November 1872, das auf der Basis der FA-Regeln ausgetragen wurde.124 Dieses Spiel wurde zu einem „Motor für die Verbreitung eines einheitlichen Fußball-Codes“125, denn danach gründete sich die schottische FA auf der Grundlage der Londoner Regeln und einige Jahre später waren auch Wales und Irland Länderspielpartner unter FA-Regeln. 1883 wurde die erste internationale britische Meisterschaft ausgespielt und 1886 gründeten die vier britischen Nationalverbände den International Football Association Board als für alle verbindliche und oberste Regelbehörde.126 Im Herbst 1871 spielten dann erstmals 15 Teams um den FA-Cup, der sich zu einem großen Erfolg entwickeln sollte und der heute noch ein prestigeträchtiger Fußballwettbewerb in England ist.127

Die FA war zu dieser Zeit ein reiner Amateurverband, bezahlte Profifußballer gab es noch nicht.128 Doch die positive Entwicklung des FA-Cup’s lockte ein immer größer werdendes Publikum an, das Geld und Zeit in den Besuch von Fußballspielen investierte. Dies wiederum war ein Aspekt, der für Geschäftsleute von großem Interesse war. Denn mit dem Verkauf von Eintrittskarten konnte man Geld verdienen und als Vereinschef hatte man gute Chancen sich als Person des öffentlichen Lebens zu profilieren. Deshalb sprossen nun überall Unternehmer und Honoratioren empor, die die Klubs managen wollten. Die FA versuchte zunächst noch diese Entwicklung zu stoppen und erlies 1882 ein formelles Verbot für das Profitum. Lediglich die Erstattung der Unkosten war erlaubt. Spieler, die sich nicht daran hielten, wurden gesperrt oder stigmatisiert. Trotz dieser harten Richtlinien war aber die Einführung der Berufsspieler nicht mehr aufzuhalten, denn immer mehr Vereine setzten heimlich Berufsspieler ein, so dass 1884 sogar einige Vereine vom FA-Cup ausgeschlossen wurden.129

Nach einem etwa einjährigen Streit unter den FA-Offiziellen entschieden sie sich am 20. Juli 1885 das Profitum unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren. Manche Vereine wollten sich damit aber nicht begnügen und suchten nach weiteren Möglichkeiten regelmäßige Einkünfte für den Verein zu erwirtschaften. Denn so beliebt der FA-Cup auch war, sein großes Problem bestand darin, dass sich ein durch eine einzige Niederlage ausgeschiedener Verein für die restliche Saison mit Freundschaftsspielen begnügen musste, die weder spannend noch lukrativ waren. Nun sah man, dass die 1871 in den USA eingeführte Baseball-Spielserie, bei der jeder gegen jeden ein Hin- und ein Rückspiel austrug, sehr sinnvoll war, denn damit war eine feste Anzahl von Spielen garantiert. Zudem wurde dadurch der Klub ermittelt, der im Laufe der Saison tatsächlich der Beste war. Die Idee, eine eigene Fußball-Liga nach diesem Vorbild zu gründen, war also überzeugend.130

Folglich führte die FA 1888 eine separate und selbstständige Profiliga ein, die unter ihrer Aufsicht stand: „Die Football League verkaufte Massenunterhaltung und setzte den Professionalismus mit aller Rigorosität durch, während die FA die Regeln überwachte und die strukturelle Kontrolle über das Spiel behielt.“131 Die Folge war, dass bald alle Amateure verschwanden und die Klubs große Aktiengesellschaften bildeten. In der ersten Saison spielten zwölf Vereine aus den Midlands und aus Nordengland gegeneinander. Die Liga wurde schnell zum finanziellen Erfolg. In die Stadien kamen insgesamt über 600.000 Zuschauer, das sind ungefähr 4.500 pro Spiel, ein Beweis für die Leidenschaft, die der Fußball bereits zu dieser Zeit auslöste. So kamen und gingen zwar viele Vereine, das Ligaprinzip aber blieb erhalten.132 Insgesamt gab es rund 1.000 Professionals, die mit einem Jahresdurchschnittsgehalt von 144 Pfund etwa soviel verdienten wie ihre Kollegen in den Fabrikhallen. Gesellschaftlich waren die Profis allerdings in den Anfangsjahren nicht so angesehen. Von den Geschäftsleuten wurden sie fast wie Sklaven betrachtet.133 Erst als am 23. Februar 1965 der Dribbelkönig Matthews als Sir Stanley von der Queen in den Adelsstand erhoben wurde, hatte sich der Fußball in England gesellschaftlich endgültig etabliert.134

1.1.11 Einführung der Schiedsrichter

Bei der Formulierung der Fußballregeln im Jahre 1863 war es vollkommen selbstverständlich auf den Geist des Fairplay zu vertrauen, so dass die Vorstellung unter Vorschriften und einer sie durchsetzenden Strafmacht Fußball zu spielen ein fremder Gedanke war.135 Erst durch Veränderungen wie die Einführungen von Cup- und Ligawettbewerb oder die Zulassung des Professionalismus wurden diese Überzeugungen langsam ad acta gelegt. So konnten ab 1874 laut FA-Regeln sogenannte Umpires (Unparteiische) eingesetzt werden, die von den Teams selbst gewählt und in der eigenen Spielhälfte eingesetzt wurden. Dies war aber keine Pflicht. Die Umpires sollten Regelverstöße ahnden und durften spezielle Spielstrafen verhängen, zum Beispiel einen Freistoß nach einem Foulspiel. Da die Umpires aber von der eigenen Mannschaft gewählt wurden, verwundert es nicht, dass sie wohl nie ganz unparteiisch waren. Deswegen führte die FA 1880 den Referee (Schiedsrichter) ein, dessen Pflicht es war, bei Streitigkeiten zwischen den Umpires zu entscheiden.136

 

1.1.12 Alle gesellschaftlichen Kreise werden von der FußballLeidenschaft ergriffen

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Fußball in England zur mit Abstand beliebtesten Freizeitbeschäftigung. Dies ist sehr gut anhand einiger Zahlen nachweisbar:

 1871 hatte die FA 50 Mitgliedsvereine, 1905 waren es 10.000

 Die Zuschauerzahlen schnellten in die Höhe: Zum ersten Cupfinale 1872 kamen noch 2.000 Zuschauer während das Finale 1901 zwischen den Tottenham Hotspurs und Sheffield United 110.820 Zuschauer im Stadion verfolgten.

Zudem hatte sich mittlerweile ein gut organisiertes Ligasystem etabliert mit erster und zweiter Profiliga sowie mit Amateur- und Jugendligen.137

Wie erklärt sich aber dieser Zuschauerboom? Dafür gibt es mehrere Gründe, die alle zusammenwirkten:

 Die demographische Entwicklung: Die Bevölkerung in England war sehr schnell gewachsen und die Einwohnerzahlen der Städte stiegen stark an; teilweise verzehnfachten sie sich.

 Neue Freizeit: Parallel zur Bevölkerungsexplosion entstand das Phänomen der Freizeit. Die Einführung des freien Samstagnachmittag und des Neun-Stunden-Tages sowie die durch die Gewerkschaften erkämpften höheren Löhne waren einige Gründe dafür. Das heißt, die Arbeiter hatten mehr Zeit für sich und mehr Geld um diese Zeit zu füllen.138 In diese Lücke stieß nun der Fußball als Beschäftigungsmöglichkeit hinein, zumal man Dank der stark ausgebauten Eisenbahnnetze nahezu jedes Ziel zu erschwinglichen Preisen erreichen konnte.

 Neue Identifikationsbedürfnisse: Für die aus den ländlichen Gebieten in die Großstädte zugewanderten Menschen war es auch eine psychische Aufgabe diese neue Lebenssituation zu bewältigen, da sie aus ihren bisherigen traditionellen Lebenszusammenhängen herausgerissen wurden. Eine mögliche Alternative für die daraus entstandenen neuen Orientierungs- und Identifikationsbedürfnisse stellte in erster Linie der Fußball dar.139

 Die Kirche: Der Fußball wurde von vielen Kirchenmännern als Präventivmaßnahme gegen den sittlichen und körperlichen Verfall der Arbeiterschaft gesehen. In einem Fußballspiel konnte laut der Kirche die Leidenschaft des Volkes mit den moralischen Ansprüchen des Christentums in Einklang gebracht werden.

 Die Schulen: Als Reaktion auf den schlechten Gesundheitszustand der Arbeiterkinder und als pädagogische Maßnahme um sie zu integrieren, wurde der Fußball in den Grund- und Elementarschulen zum Standardspiel. 1906 wurde der Schulfußball schließlich offiziell in den Lehrplan der Grundschulen aufgenommen. Infolge dessen gab es etwa in Birmingham im Jahre 1882 schon 23 Fußballvereine an Schulen.140

Aus all diesen Gründen gelang der endgültige Siegeszug des Fußballs als Arbeitersport, den Christoph Bausenwein wie folgt zusammenfasst: „Zum ‘Arbeitersport’ konnte der Fußball also erst werden, nachdem kirchliche und bürgerliche Fußballmissionare das Spiel als gesundheits- und moralförderndes Allheilmittel für die Probleme einer Industriegesellschaft propagiert hatten. Erst als auf diese Weise der Boden bereitet war, konnte der Fußball in den neu entstandenen Großstädten und Industriegebieten jene soziale Funktion einnehmen, die zu seinem endgültigen Siegeszug führte (…). Die aus Geselligkeit, Arbeit und Nachbarschaft entstandenen neuen Fußballgemeinschaften, die dem Einzelnen außerhalb der Familie personale Nähe, Geborgenheit und Überschaubarkeit garantierten, waren ein wichtiger Orientierungspunkt in den neuen Arbeits- und Lebensverhältnissen (…). Bald stand der Samstagnachmittag in vielen Städten ganz im Zeichen des Fußballs.“141

Als bemerkenswert und für diese Dissertation höchst relevant erscheint der Umstand, dass bereits damals der Profifußball in ideeller Hinsicht wohl noch bedeutender war als das aktive Spielen im örtlichen Verein. Denn in der Unterstützung seines Lieblingsvereins ging es um viel mehr als den bloßen Wunsch, seine Freizeit am Wochenende irgendwie zu füllen. So wurde die Kneipe, in der man sich vor und nach dem Spiel zum Umtrunk und zur Debatte über das Spiel traf, zum sozialen Kontaktpunkt, wo sich die in der Anhängerschaft zum jeweiligen Lieblingsverein gefundene neue ideelle Heimat bestätigte142: „Der Verbrüderung im Stadion folgte das Debattieren in trauter Kneipenrunde, wo die Anhänger ihrer dauerhaften Identifikation mit dem Schicksal ihres Vereins Ausdruck verleihen konnten.“143

Diese Leidenschaft war auch bei den Vereinspräsidenten zu beobachten, die zumeist mehr am sportlichen Erfolg als am Gewinn interessiert waren. Trotzdem spielte neben dieser großen Leidenschaft auch die Kommerzialisierung in dieser Zeit schon eine Rolle, so dass die FA mit Gehalts- und Transferregelungen für ein reibungsloseres Funktionieren des Systems sorgen musste. Doch trotz dieses Systems benötigte ein Erstligaclub schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Stadion mit 60.000 Plätzen um in der Liga konkurrenzfähig zu bleiben.144

Die ersten Profis hatten sich von ihren Wurzeln nicht sehr weit entfernt und hatten dadurch noch eine große Nähe zum Fan. Der Verdienst war nicht so sehr die Motivation Profi-Fußballer zu werden, als vielmehr die Aussicht sein Hobby zum Beruf zu machen, was als angenehme Alternative zur harten körperlichen Arbeit erlebt wurde. Dies sollte auch bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts so bleiben.145

Die Etablierung der Football League hatte dem Leben der Fußballfans mittlerweile eine feste Struktur gegeben: „Durch die Kontinuität des Liga- und Cupbetriebs bekam der Fußball eine Erzählstruktur und generierte allmählich eine eigene Geschichte, in der legendäre Matches, außergewöhnliche Sieges- und Niederlagenserien, die Ära von Klubs und Spielern oder besondere Traditionen von Vereinen die Hauptkapitel schrieben (…). Und dieses entwickelte zugleich, in einer ewigen Erneuerung des Dramas, immer wieder neues ‚Material‘ für künftige Traditionen und Legenden.“146

Somit hatte sich eine eigene Fußballwelt etabliert, die durch die sich ausbreitende Massenpresse zusätzlich gefördert wurde, denn durch sie wurde der Fußball erst zu einem öffentlichen Ereignis. Durch diese „Informationsexplosion“147 und die Publicity, die der Fußball durch die Medien erhielt, wuchsen seine Popularität, sein Nachrichtenwert und seine gesellschaftliche Bedeutung.148

Die folgerichtige Konsequenz aus all diesen Entwicklungen war, dass allmählich alle gesellschaftlichen Kreise von der Fußballleidenschaft gepackt wurden149 und der Fußball über alle Klassenschranken hinweg ein wichtiger Bestandteil der modernen Freizeitkultur wurde.150 Der englische Schriftsteller John Boynton Priestley fasste dies bereits 1928 in die folgenden Worte: Der Fußball „verwandelte uns in Mitglieder einer neuen Gemeinschaft, in Brüder für eineinhalb Stunden, denn wir waren nicht nur jeder für sich der dröhnenden Maschinerie dieses armseligen Lebens entflohen, das sich zusammensetzt aus Arbeit, Löhnen, Mieten (…), sondern wir waren all diesem gemeinsam mit den meisten unseren Kameraden und Nachbarn, mit der halben Stadt entronnen (…) und da waren wir nun (…) nachdem wir uns durch ein Drehkreuz den Weg in eine andere und weit prächtigere Welt des Lebens erkämpft hatten.“151 Auch wenn dies sehr pathetisch ausgedrückt ist und der Fußball nicht immer eine prächtigere Lebenswelt versprach und übrigens auch heute weder versprechen kann noch möchte, beschreibt es doch die Leidenschaft und die Funktion des Fußballs in der damaligen Gesellschaft sehr gut.