Qualität in Pfarreien

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Insgesamt nimmt die Komplexität der Gesellschaft zu. Dazu gehören neben der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch die verschiedenen Ebenen sozialer Wirklichkeit: Beziehungen, Organisationen, Teilsysteme, in denen sich unterschiedliche soziale Prozesse finden. Diese entwickeln in Kombination mit ihrer Funktionalität eine selbständige Eigendynamik. Traditionen werden durch eine Vielzahl von Möglichkeiten relativiert, die ständig neue Entscheidungen fordern. Arbeitsteiligkeit und wachsende Komplexität relativieren zugleich Hierarchien, Entscheidungen werden dezentraler, die Welt polyzentrischer, Wissen vermehrt sich und damit wächst Unübersichtlichkeit, das Internet tut das Seine dazu. Das einheitsstiftende Moment der Moderne ist also nicht zu erwarten, sondern eher ein kultureller Pluralismus, wie er mit der Postmoderne beschrieben wird.288

„Die Modernisierung transformiert also gleichzeitig die Gesellschaftsstruktur, die kulturellen Leitmuster und die sozialen Beziehungen. Sie läßt die traditionellen Formen des Zusammenlebens ebenso obsolet werden wie ihre Legitimationen. Sie erweitert die Lebensmöglichkeiten der sich auf sie einlassenden Menschen in ungeahnter Weise. Sie macht in diesem Sinne frei - und ersetzt die Qual des Mangels durch die Qual der Wahl.“289

Die Pluralisierung und damit die Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft ist Fakt. Sie ist nahezu überall erfahrbar.290 Keiner kann mehr Spezialist in allen Bereichen sein, daher benötigt und nutzt man die Teilbereiche als Dienstleister. Zugleich werden die Lebensräume immer kleiner, die eine übergreifende Integrationsfunktion besitzen, wie dies z. B. in der Familie der Fall ist.291

Die moderne Gesellschaft vereint in sich einen wesentlichen Zuwachs an Pluralität und Komplexität, die aufgrund der multiplen Ausdifferenzierungsprozesse zustande kommen. Das Leben wird vielfach pluralisiert, die Einzelperson ist mit vielen Rollen und Identitäten sowie Entscheidungsnotwendigkeiten konfrontiert.292

Der Einzelne muss verschiedene Rollen wahrnehmen und im Rahmen verschiedener Systeme agieren. Er muss, weil es keine übergeordnete Autorität gibt, die ihm sagt, was er wie zu tun hat. Einerseits kann er zwischen einer riesigen Angebotsvielfalt beim Einkaufen wählen, andererseits passen Familie und Beruf kaum unter einen Hut, da beide von ihm genügend Zeit fordern. Die verschiedenen Lebensbereiche sind autonom, manchmal sogar gegenläufig und haben ihr je eigenes Selbstverständnis und eigene Notwendigkeiten. Religion ist dann nur ein Subsystem neben anderen. Der Einzelne ist gefordert, sich selbst zu orientieren und zu wählen (Individualisierung).293

„Dass damit der Einzelne oft überfordert ist, ist die schmerzliche Kehrseite dieses Freiheitsfortschritts. Kirche und Gesellschaft müssen den Menschen beistehen, ohne sie wie in früheren Zeiten zu bevormunden, damit sie nicht an der Riskiertheit des Lebens scheitern.“294

Die Relevanz großer Organisationen nimmt tendenziell ab. Das geht Parteien so und das geht der katholischen Kirche so, auch wenn es nicht alle gleich treffen muss.

Kirche als typische Glaubensgemeinschaft, wie es noch in den katholischen Milieus lebbarwar, ist in Veränderung.

„Was heute oft als ‘Glaubensschwund’ beklagt wird, ist zunächst einmal (nicht nur!) ein Schwund an gesellschaftlich tragenden Glaubensmilieus.“295

Die soziale Form von Kirche, die Lebens- oder Ausdrucksform, ändert sich also. Die neuen Formen sind noch nicht sichtbar.296 Ebertz spricht in diesem Zusammenhang von der „Erosion der Gnadenanstalt“. Die Art und Weise wie sich Kirche bis zur Moderne organisiert und selbst verstanden hat, steht in Frage und verändert sich. Der „typische“ Katholizismus befindet sich nun schon seit längerem im Wandel. Ebertz macht dies an veränderten kirchlichen Leitbildern oder priesterlichen Rollenverständnis genauso fest wie an der Frage, wer unter welchen Bedingungen dazugehört und wer nicht.297

Kirche ist somit wie Gesellschaft insgesamt von den typischen modernen Indivi-dualisierungs- und Pluralisierungstendenzen betroffen. So schmolz nicht nur das typische katholische Milieu Ende der Nachkriegszeit in Deutschland ab, sondern ebenso das typische kirchenferne Arbeitermilieu. Die Modernisierung betraf und betrifft die gesamte Gesellschaft.298

Die Säkularisierungsthese ist mit Vorsicht zu genießen. Stattdessen muss deutlich wahrgenommen werden, dass zwar die Teilnahme am Gottesdienst deutlich gesunken ist, aber im Verhältnis die Wahrnehmung der Kasualien immer noch ein deutliches Stück darüber liegt. Die biographische Anknüpfbarkeit öffnet also Zugänge zu den Menschen, sie wurzeln im Leben. Aneignung von Glaube ist also auf der Basis der jeweiligen Biographie möglich.299

Dies zeigt auch der MDG-Trendmonitor sehr deutlich, wenn er danach fragt, warum die Menschen weiterhin Mitglied in der Kirche bleiben. 68% bejahen die Aussage, dass man nicht auf die Rituale an entscheidenden Lebenswenden verzichten möchte.300

Kirche ergeht es wie anderen Organisationen auch, die auf Mitgliedschaft angewiesen sind: Sie haben Probleme, Mitglieder zu generieren oder intensiv und dauerhaft zu erreichen. Zugleich sind diese Organisationen wichtig, um die einzelnen autonomen Funktionsbereiche der Gesellschaft zu strukturieren und zu gestalten (z. B. Kirche im Bereich Religion oder Unternehmen im Bereich Wirtschaft).301

„Der Preis für dieses Wachstum an persönlicher Wahlfreiheit und an organisatorischer Spezialisierung ist allerdings hoch.“302

Rascher sozialer Wandel oder auch die geforderte Flexibilität in der Arbeitswelt führt zu einem veränderten Bindungsverhalten. So führt allein schon eine Fluktuation der Bevölkerung und damit von Gemeindemitgliedern zu veränderten Zeitperspektiven, die geplant werden können und damit auch zu einer geringeren Fähigkeit oder Bereitschaft, sich dauerhaft zu binden und für etwas zu engagieren. Dagegen ist es weniger problematisch, Menschen für kurzfristige Projekte zur Mitarbeit zu gewinnen - im Gegensatz zu langfristigen Projekten. Auch Reziprozität funktioniert dann anders. Hat man früher eine Gegenleistung langfristig erhalten, so kann bei einem kurzzeitigen Engagement (wie z. B. in einer Mutter-Kind-Gruppe) dies auch unmittelbarer einkalkuliert werden. So kommt es zu einem aktiven Tauschverhalten, in dem z. B. eine vernünftige Ausbildung eines Ehrenamtlichen als Angebot mit eingeplant werden muss. Das muss nicht zwingend mit größeren Schwierigkeiten verbunden sein, möglicherweise kann eine geeignete Reaktion der kirchlichen Gemeinden darauf sogar sehr positive Erfahrungen erzeugen und Bindung ggf. verstetigen, indem immer wieder passende Zugänge ermöglicht werden.303

Kirche ist Teil der Gesellschaft und ist damit mit deren Entwicklungsprozessen konfrontiert. Es erscheint daher sinnvoll,

„die Entwicklung der Sozialformen des modernen Katholizismus im Kontext des historisch einmaligen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zu interpretieren.“304

Eine extrem arbeitsteilige Gesellschaft gestaltet sich so, dass Religion ebenfalls nur ein Subsystem ist. Sie ist somit in der sonstigen Alltagswelt nicht präsent und wird eher Teil der Privatsphäre. Auch der individualisierte Einzelne, der gar nicht mehr anders kann, als sich als Subjekt zu verhalten, nimmt Religion aus dieser Subjekt-Zentriertheit wahr. Religion wird unter diesen Umständen durch eine Marktsituation herausgefordert, in der kulturelle Plausibilitäten nicht mehr selbstverständlich scheinen und synkretistische Handlungsweisen auftreten. Sinnstifter sind dann nicht mehr nur die Kirchen, sondern auch andere Sinnanbieter, worunter nicht zwingend andere Religionen fallen. Dies können Therapeuten genauso sein wie Unternehmen, die indirekt mit einer religiösen Botschaft arbeiten. Implizite Religion und damit Vorstellungen von Erlösung finden sich z. B. in Kunst oder auch Popkultur (z. B. das Wohlfühlen im Urlaub oder in einem Konzert).305

„Die zahlreichen Anbieter auf dem ‘Markt’ von Sinngebungsalternativen relativieren jedoch nicht nur die Geltung kirchlicher bzw. christlicher Werte und Normen. Sie relativieren sich auch wechselseitig selbst und zeugen damit immer und immer wieder neue Nachfragen und Angebote von Sinngebungsalternativen (…) Es ist nicht abzusehen, wie diese Dauerrelativierung gesellschaftlich an ein Ende gelangen oder eine Umkehr erhalten soll. Die Last der Entlasung von diesem Sinngebungsstreß wird privatisiert und individualisiert.Jeder hat sie für sich selbst zu tragen.“306

 

Die funktionale Ausdifferenziertheit führt dazu, dass Kirche als ein Anbieter von Religion in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Sie wird zu einem Dienstleister. Kirche ist also Experte in einem bestimmten Bereich, an sie wird delegiert:

„Der christlich-religiöse Bereich wird weithin an ihre Zuständigkeit delegiert; die einzelnen und ihre primären Sozialformen (wie Familie, Ausbildungsstätten, Freizeitgruppen, o. ä.) entlasten sich davon. Die Kirche hat dafür zu sorgen, daß dieser Bereich ‘funktioniert’. Daß also die spezifisch religiösen Erwartungen und Bedürfnisse der einzelnen und der Gesellschaft im ganzen angemessen erfüllt werden. (…) Wo sie es nicht genügend tut, wendet man sich an kompetentere Instanzen, die sich bei dem gegenwärtigen Boom an psychologischer Lebenshilfe und an religiösen Heilsbewegungen auch sehr zahlreich anbieten.“307

Kirche auf dem Markt

Die Weiterentwicklung der Moderne in der sogenannten Postmoderne macht deutlich wie sehr Institutionen mit der Wahlfreiheit und der Individualität der Menschen heute leben müssen. Man könnte auch anders sagen, statt monopol- (ein Akteur) oder oligopolartiger (wenige Akteure) zentraler Steuerung ist Kirche längst einem religiösen Markt ausgesetzt.

„Kirchliche Institutionen geraten (…) unter den permanenten Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder.“308

„Die Kirche hatte ihre Aufgabe unter den Bedingungen der spätantiken religionspluralen Gesellschaft ebenso zu erfüllen wie im feudalen Mittelalter (…). Sie hat sie natürlich auch heute zu erfüllen, wo sie wieder (teil-)entmachtet wurde und tatsächlich auf den (religiösen) Markt angekommen ist.“309

Mit Bucher ist das nicht unbedingt ein Nachteil. Einerseits kann der Kontext sowieso nicht bestimmt werden. Andererseits ist der Markt sogar von Vorteil, wenn er Herrschaft beschränkt und kontrolliert oder auch die Übereinstimmung von Aussage und Tun überprüft. Bucher sieht aber die Gefahr, dass Unverbindlichkeit die wichtigen Dinge im Leben umgreift („Konsumhopping“310). Das sind die Rahmenbedingungen kirchlicher Verkündigung.: Es sind Marktbedingungen unabhängig jeglicher These, die zur Moderne gebildet wird:311

„Die Säkularisierungsthese hält die Freiheit vor dem religiösen Markt, die Individualisierungsthese die Freiheit im religiösen Markt und die Postsäkularitätsthese die Freiheit des religiösen Marktes - etwa gegen den mehr oder weniger Gebildeten unter seinen Verächtern - fest.“312

Die Vorstellung, dass es einen religiösen Markt gibt, wirkt also wie eine Synthese über die verschiedenen theoretischen Thesen: so ist Säkularisierung, Modernisierung (Individualisierung) oder auch die Wiederkehr (Postsäkularitätsthese) parallel denkbar.313 Kirche muss also in einer Marktsituation agieren. Die damit einhergehende Freiheit des Menschen ist positiv zu werten. Kirche kann aber nicht in der Weise auf dem Markt agieren, dass sie irgendwie Erfolg sucht. Der christliche Auftrag ist entscheidend und damit erfolgskritisch.314

Geht man von einer Marktsituation aus, dann ist die Zufriedenheit von Mitgliedern mit ihrer Institution für deren Bindung sehr wichtig. Die Ökumenische Basler Kirchenstudie hat den Zusammenhang zwischen Qualitätswahrnehmung, Zufriedenheit und damit Kirchenbindung untersucht. Die Studie weist signifikante Zusammenhänge nach, zunächst zwischen der Beurteilung der Dienste (z. B. Seelsorge, Sakramente, Gottesdienste, Wertevermittlung, Ehrenamt, Soziales) und der Zufriedenheit mit der Institution. Zufriedene Personen denken wiederum seltener an einen Kirchenaustritt. Dabei gilt zugleich, dass die Zufriedenheit mit kirchlichen Mitarbeiterinnen auch mit einer positiven Wahrnehmung von Kirche korreliert. Gerade Menschen, die aus Enttäuschung aus der Kirche ausgetreten sind, verweisen auf eine deutliche Lücke zwischen den eigenen Erwartungen und tatsächlicher Beurteilung der Leistungen bzw. Dienste. Der Austritt hat ein deutliches Gefährdungsmoment für die Kirche. Rückständigkeit, Kirchensteuer aber auch Enttäuschungen werden als Gründe angeführt.315 Insgesamt schlussfolgerten die Autoren der Ökumenische Basler Kirchenstudie, dass deutlich mehr auf die Qualität der Dienste geachtet werden müsse, um die Diskrepanz zwischen Erwartung und Wahrnehmung zu reduzieren. Gerade den Mitarbeitenden kommt dabei eine zentrale Rolle zu, die dazu befähigt werden müssen (z. B. durch Personalentwicklung, Führung, Anreize, Motivation). Sie müssen in der Lage sein, die Perspektive des Gegenübers wahrzunehmen und zu verstehen, was so offenbar noch nicht funktioniert und z. B. durch Qualitätsmanagement-Modelle behoben werden könnte.316 Aber auch die Gründe für Enttäuschungen müssten noch stärker herausgeschält werden. Ein gutes Beschwerdemanagement kann dazu beitragen, Austrittspotentiale abzubauen. Auch sollte auf mehr Transparenz z. B. zur Verwendung der Kirchensteuer geachtet werden. Zugleich wird das Potential des Wiedereintritts gesehen, das gezielt durch den Abbau von Qualitätshürden vorangetrieben werden kann, gerade weil fehlender Glaube häufig keine Begründung darstellt. Dort, wo Leistungen nicht verbessert werden können, z. B. aufgrund beschränkter Mittel, müssen hohe Erwartungen in der Bevölkerung realistischer werden, weshalb die Außenkommunikation realistisch sein und zugleich ein transparentes Bild der Dienste nach außen getragen werden sollte. Nach Bruhn dient das nicht nur einer Relativierung übertriebener Erwartungen, sondern auch dazu, dass die Menschen möglicherweise Angebote wahrnehmen können, die sie so noch nicht realisiert haben. Vielfältige Arten der Kommunikation (von Hotlines bis Internet) dienen ebenfalls der Kirchenbindung.317

Erkenntnisse der Milieu-Forschung

Eine wichtige Wahrnehmungshilfe zur Situation der katholischen Kirche ist seit einigen Jahren die Sinus-Milieu-Kirchenstudie, mit der die Menschen mit ihren Wertvorstellungen und Lebensstilorientierungen besser verstanden werden können. Zugleich wird daraus ersichtlich, in welchen Milieus die Angebote der Pfarreien und anderen kirchlichen Einrichtungen wirklich Fuß fassen und in welchen nicht.

„Und man beginnt zu fragen, ob und inwieweit in kirchlichen Einrichtungen und Organisationen soziokulturelle Barrieren wirksam sind, die dadurch selektiv wirken, dass ganz bestimmte Milieumerkmale höher wertgeschätzt werden als andere; dass die kirchlichen Geldausgaben asymmetrisch auf die Milieus verteilt sind.“318

Sinus-Milieus vereinen Personen mit ähnlichen Werthaltungen, Lebensstilorientierungen, Einstellungen zum Leben usw. Auch die Bildung spielt dabei eine Rolle. Dabei ist es unwesentlich, ob sich die Einzelpersonen des Milieus kennen, vielmehr geht es um ähnliche Lebens- und Verhaltensmuster, die hier Zusammenkommen.319

Sinus Sociovision macht insgesamt zehn Einzelmilieus aus.

„In allen zehn Milieus sind Mitglieder der katholischen Kirche zu finden. (…) am stärksten sind sie im Milieu der Konservativ-Etablierten und der Traditionellen vertreten (41 bzw. 40%), am wenigsten im Expeditiven und im Prekären Milieu (30 bzw. 29%). In allen anderen Milieus ist der Katholikenanteil im durchschnittlichen Bereich. Mitnichten sind die Katholiken also auf wenige Milieus beschränkt (…).“320

Die Milieus machen deutlich, wie die Kirche gesehen und wahrgenommen wird. Es zeigt sich, dass Kirche offenbar mit einem beschränkten Blick auf die Menschen zugeht, insbesondere die Pfarrgemeinden, die Milieu-Schranken aufweisen.321 Mit den Milieus der B- und C-Schiene, d. h., mit den modernen bzw. postmodernen Milieus (z. B. Prekäre, Performer, Adaptiv-Pragmatische, Hedonisten) tut sich Kirche schwerer als mit den A-Milieus (Traditionelle und Konservativ-Etablierte).

„Im Alltag spielen Religion und Glaube für viele Befragte kaum eine Rolle, besonders in den jungen und unterschichtigen Milieus. Viele verstehen sich weder als im traditionellen Sinn gläubig noch suchen sie bewusst nach einer Beziehung zu Gott (…). Oftmals findet sich ein individualisierter Glaube, der sich aus Elementen verschiedener religiöser Traditionen zusammensetzt.“322

Hier ein paar Schlaglichter aus der Milieustudie:323

• Der normale Sonntagsgottesdienst wird kaum als Verpflichtung wahrgenommen.324

• Was die Institution Kirche angeht, so wird selbst in den kirchlich verwurzelten Milieus inzwischen Kritik an der Führung geübt. Hier wird insbesondere als Grund die Irritation durch die Missbrauchsfälle und den Umgang damit genannt. Die kirchliche Basis vor Ort wird häufig positiv, wenn auch als überfordert wahrgenommen.325

• Der Sinn des Lebens wird bei vielen nicht mehr unmittelbar aus dem katholischen Glauben abgeleitet.

• Die Zehn Gebote werden als universelle Regeln geschätzt.

• Esoterische Elemente spielen eine Rolle.

• Meditation wird bei einem Glauben an eine höhere Macht ausgeübt.

• Strukturreformen erzeugen Unsicherheiten und Skepsis.

• Geselligkeit im Rahmen der Kirche ist v. a. Thema von Traditionellen und Bürgerlicher Mitte.

• Kasualien werden wertgeschätzt.

• Als Erwartungen werden geäußert:

■ dass sich Kirche an einigen Stellen modernisieren soll (bei jüngeren Milieus hat Kirche im Alltag aber kaum Bedeutung, und von daher hat man auch keine Erwartungen),

■ Angebote: Spirituelles Leben, Orientierungshilfen, Seelsorge, Gemeinschaft, kirchliche Bestattung.

• Der katholische Priester steht häufig so fern, dass er bei Bedarf meist nicht aufgesucht wird.

• Ehrenamtliches Engagement in langfristiger Form ist nur im Bereich traditioneller und bürgerlicher Milieus zu finden.Jüngere und postmaterielle Milieus lassen sich eher durch Projekte motivieren, während gehobenere Milieus (nicht traditionell geprägte) mehr Eigeninteressen umsetzen (z. B. zusätzlicher Lerneffekt).

• Die Sozialisation spielt eine wesentliche Rolle bei der Frage, wie wichtig Gott für den eigenen Alltag und damit das eigene Leben ist. Bei den traditionellen Milieus wird die Relevanz Gottes eindeutig gesehen. In den jüngeren Milieus spielt dagegen die Sozialisation mit Medien oder Peer-Groups eine wichtige Rolle, so dass Religion eher situativ Bedeutung hat.326

An dieser Stelle können die Unterschiede der Milieus-Studie zwischen den deutschsprachigen Ländern bzw. Regionen nicht vertieft werden. Es sei hier lediglieh darauf hingewiesen, dass einige Grundlinien sehr ähnlich sind, wenn auch manche Differenz besteht. In Österreich ist vieles ähnlich zu Deutschland, allerdings haben z. B. Status und Prestige in Österreich für die Menschen mehr Bedeutung. Die Schweiz wird daneben weder als postmodern noch als traditionell beschrieben, sondern als „klassisch modern“.327

Die Milieustudie hält wichtige Erkenntnisse bereit. Angefragt wird aber, ob die Kategorien zur Abfrage von Religiosität schon genügen. Unter anderer Fragestellung mit einem weiten Verständnis von Religion und Religiosität kann durchaus mehr religiöser Bezug festgestellt werden.328

Religion in der (Post-)Moderne – Plurales „Basteln“

Die Frage nach der richtigen Erfassung von Religion oder Religiosität kann also vertieft werden. Geht man von einem engen Religionsbegriff aus, der dann die Rede von Säkularisierung oder Entchristlichung mit sich bringt, beinhaltet Religion nicht nur eine transzendente Wirklichkeit sondern auch eine entsprechende Experten-Organisation. Ein weiter Begriff ist dagegen funktional begründet und schließt alle Formen ein, die Sinn generieren, so dass neben Religionen auch Weltanschauungen oder Evolutionismus, Positivismus o. ä. gemeint sein kann. Das ist ein diffuser Religionsbegriff, der aber die Unklarheiten religiöser Praxis im Heute wahrnimmt. Heutzutage ist Religion individualisiert früher eher institutioneil organisiert, auch wenn es sicher im Mittelalter genügend innerlich Distanzierte gab. Individuelle Wahlfreiheit betrifft auch die Religion. Sozialformen pluralisieren sich genauso wie die normativen Grundverständnisse. Typische Bindungsformen an gesellschaftliche Organisationen sind nicht mehr im gleichen Maß selbstverständlich, normative Leitbilder werden individuell ausgestaltet. Davon sind auch Pfarrgemeinden betroffen und z. B. die Gottesdienstteilnahme.

 

Religion ist inzwischen pluralisiert, man „bastelt“ sich Sinn-haltige Angebote zusammen. Das gilt auch für den kirchlichen Bereich, der die unterschiedlichsten Bewegungen aufweist (z. B. Schönstatt, charismatische Bewegungen, …), die nicht zwingend miteinander einheitlich agieren. Daneben werden organisierte Strukturen oft als starr erlebt. Strukturen kommen in der Folge in anderer Weise vor, nämlich mehr als Szenen: wesentlich unverbindlicher, gebildet aus gemeinsamen Interessen (nicht aus einer gemeinsamen sozialen Lage heraus), gültig nur für einen Teil der eigenen Lebenswelt (ohne sich damit woanders auszuschließen). Es bilden sich so zeitlich begrenzte Gruppen, die sich an gewissen Orten sammeln. Solche Szenen gibt es auch innerkirchlich, z. B. in der Taizé-Bewegung oder in geistlichen Gemeinschaften. Weltdeutung passiert hier individueller, Bindung ist unverbindlicher als in Verbänden oder in Pfarrgemeinden. Das für eine Szene notwendige „Wir-Gefühl“ wird durch Events aktualisiert. Hier wird ein Erlebnis professionell organisiert, das ästhetisch zu einer Einheit zusammengebunden wird. Der Weltjugendtag ist ein solcher Event, aber auch die Kirchentage haben sich dahin entwickelt. Erlebnis ist dabei ein im Subjekt stattfindender Vorgang, in dem die eigene Person intensiv und positiv spürbar wird.

„Gesucht wird überall das totale religiöse Erlebnis, das ‘ganz einfach schön ist’, das einem ‘wohl tut’ und einen für einen Moment ‘eins sein läßt mit dem Universum’ oder die Geborgenheit einer in der Sicherheit der Tradition aufgehobenen festen Gruppe.“329

Religion ist dann eher Spiritualität, die die eigene religiöse Kompetenz betont, die sich gegen intellektuelle, lebensferne Theologien richtet und auf religiöse Erfahrung setzt. Damit hängt auch eine „Ästhetisierung“ der Religion zusammen.

„Ästhetisierung heißt, daß zunehmend alte religiöse Rituale und Lebensformen oder neue religiöse performances und spektakuläre Inszenierungen von Religion, wie es beispielsweise einige der neuen ‘Jugendkirchen’ tun, gesucht werden, die Religion auch körperlich und mit allen Sinnen, also anschaulich erfahren und gelebt werden lassen. Kerzengottesdienste, Lichterprozessionen, Laserprojektionen in der Kirche haben Konjunktur.“330

Dazu gehört, dass Religion auch Teil der Popkultur geworden ist. Viele Künstler (auch der Popkultur) verstehen es besser als manche theologisch ausgebildeten Vermittler, religiöse Erfahrung oder Inhalte zu transportieren und erfahrbar zu machen.331 Es findet so in breiter Ausprägung eine Vermischung religiöser Symbolik oder Thematik mit populärer Kultur statt: einerseits innerkirchlich z. B. auf dem Weltjugendtag, auf dem der Papst zu einem Pop-Star wird, andererseits auch in nicht-kirchlichen Szenen, in denen religiöse Elemente in Inszenierungen durchaus einfließen. Es entwickelt sich eine Art „populärkulturelle Volksfrömmigkeit“ gerade bei jungen Menschen, die sich vermischt mit der pragmatischen Wahrnehmung, dass jeder seinen eigenen, auch religiösen Weg finden muss.332

Der Weg zur Erfahrung spielt dabei eine wichtige Rolle. Daher werden viele Methoden und Techniken zur individuellen Vertiefung angeboten. Verschiedene Wege werden ausprobiert, um etwas hilfreiches zu finden. Beispiele sind

„Bewusstseinssteigerungstechniken (wie Yoga, Zen, etc.), Psychomethoden (wie Enneagramm, (…) Körper- und Körpererfahrungstechniken (wie meditativer, liturgischer Tanz, Bibliodrama (…)“333

oder auch Events und Exerzitien.

Damit wird deutlich, dass Religion auch heutzutage eine wichtige Rolle spielt. Nur die Formen und Zugänge sind andere, nämlich deutlich individualisierter und auswahlorientierter. Als religiöse, spirituelle, karitative Dienstleister, aber auch als gesellschaftspolitische Akteure nehmen religiöse Organisationen eine wichtige Rolle ein, aber wohl weniger als Institution, die den Mitgliedern eine Lebensführung vorgibt.334

Krise?

Warum wird von einer schwierigen Situation, von einer Krise, gesprochen? Nach Först kann das weniger an „objektiven“ Zahlen liegen. So sei zwischen 1965 und 2010 die Zahl der Katholiken in Deutschland stabil geblieben. Lediglich deren Anteil habe sich verringert, da mit Ost-Deutschland ein großer Anteil an Bekenntnislosen hinzukam. Auch die Tatsache, dass die Gesellschaft säkular ist, mag zeitweise als Krise erlebt worden sein, aber mit GS 36 und der Anerkennung der Autonomie der gesellschaftlichen Funktionssysteme ist dies wohl nicht mehr als Krise zu deuten. Der Rückgang der Priesterzahlen setzt die Mitarbeitenden unter Druck, aber ist das die Krise?

„Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Frage, ob die Kirche sich in einer Krise befindet, entlang des Kriteriums zu ermitteln ist, inwieweit gegenwärtig die ‘Rettung der menschlichen Person’ (Gaudium et spes 3) zur Disposition steht oder nicht. Fragen wie diese sind dann wichtig: Welchen Verlust erfahren Menschen, wenn sie keine sonntägliche Eucharistiefeier mehr mitfeiern können, weil es unter den gegebenen kirchlichen Bedingungen nicht genug Priester gibt? Was wird Menschen vorenthalten, wenn kirchliche Jugendoder Sozialarbeit nicht mehr stattfinden kann?“335

Först macht weniger einen „Religionsverlust“ als einen „Veränderungsprozess“336 aus. Existenzielle Suchbewegungen, die auf Gott und den Glauben verweisen, sind demnach gegeben.337 Für Först liegen die zentralen Probleme eher in einem kulturellen Graben zwischen moderner Gesellschaft und kirchlichem Handeln. Die kirchliche Botschaft ist nicht mehr im Alltag der Menschen von heute verwurzelt, die Übersetzungsleistung ins Leben der Menschen fehlt oder reicht nicht aus. Dabei gilt es, weniger abstrakt oder prinzipiell, sondern mehr konkret und situationsorientiert zu kommunizieren und zu agieren. Man könnte auch sagen, dass an der Verwertbarkeit oder auch Nützlichkeit für das Leben der Menschen gearbeitet werden müsste. Die Kasualien zeigen, dass es an diesen Stellen gelingt, wo biographische Ereignisse ganz konkret theologisch aufgenommen werden.338

Auch wenn Kirche eine über die Welt hinausreichende Dimension hat, so ist sie doch Teil der heutigen Gesellschaft.

„Das besagt für die Kirche, daß die von ihr zu tragende Wirklichkeit dem Menschen nur dann plausibel ist, wenn die Auffassung ihrer Wirklichkeit von anderen geteilt und bestätigt wird.“339

Wenn sich Gesellschaft verändert, verändern sich Plausibilitäten. Verändert sich die Gesellschaft, fordert das die Kirche heraus. Die Kirche ist zur Veränderung aufgefordert, damit Verständigung wieder hergestellt werden kann. So lässt es aufhorchen, dass selbst unter Katholiken viele den Zweifel hegen, ob Gott in der Kirche anwesend ist.340

Mit Blick auf die Pfarrgemeinden schließen Gabriel/Geller, dass im Gesamten die kirchlichen Gemeinden viel positiver in ihrem Nahraum wirken, als dies vielfach im Rahmen eines Abgesangs auf territoriale Gemeinden wahrgenommen wird. Sie setzen sich mit ihrer Umwelt auseinander, sind aktiv und innovativ. Es ist die Verortung im Lebensraum der Menschen, die Kirche stark dazu zwingt, sich mit den Herausforderungen vor Ort auseinanderzusetzen und sich dort zu engagieren. Das behält seine Gültigkeit, auch wenn das von den Möglichkeiten der Personen abhängig bleibt. So ist Kirche weiterhin recht nah bei den Menschen und ist in die Fortentwicklung von Nahräumen aktiv eingebunden.341

„Insofern bleiben Territorialgemeinden der unverzichtbare Ort einer alltagsbezogenen Glaubens- wie Sozialpastoral, deren Bedeutung für eine gemeinschaftsbezogene, intermediäre Glaubensvergewisserung und -tradierung gegenwärtig im wissenschaftlichen wie kirchlichen Diskurs eher unterschätzt wird.“342

Es sind die Umweltbedingungen wie z. B. die Überalterung oder Verarmung eines Lebensraumes, die stark auf die Möglichkeiten einer Pfarrgemeinde einwirken. Trotz allem bleiben offenbar die Gemeinden Orte, die den Menschen auch weiterhin ein Selbstbewusstsein geben. Zugleich schaffen es viele Gemeinden, angemessen auf Herausforderungen, wie z. B. im Bereich ehrenamtlichen Engagements oder der Firmvorbereitung, zu reagieren und neue Ansätze zu entwickeln. Kirchliche Gemeinden sind somit ein Resonanzraum der Umweltsituation, die durchaus in einen gesellschaftlichen Sog mit hineingezogen werden, die aber trotzdem Orte stabilisierender Solidarität sein können.343

Kritisch erscheint laut Gabriel/Geller die Frage nach den Beziehungsmöglichkeiten in den Pfarrgemeinden, gerade angesichts von Neustrukturierungen. Eine Bindung hat etwas mit einer gepflegten Beziehung zwischen Pfarrer und Gemeindemitgliedern zu tun. Spontane Hausbesuche sind in großen Seelsorgeeinheiten durch die Priester schwieriger möglich.344

Die Ökumenische Basler Kirchenstudie macht aus anderer Perspektive wie schon Först und Gabriel/Geller auf eine wichtige Wahrnehmung aufmerksam. Auch wenn Austritte und fehlende Teilnehmerzahlen immer wieder zu beklagen sind, stellt die Studie trotzdem fest, dass sich Mitglieder und Ausgetretene in ihren Erwartungen (und damit auch der Feststellung von Qualitätslücken) wie auch in ihrem eigenen tatsächlichen Verhalten der Kirche gegenüber kaum unterscheiden. Die Erwartungshaltungen sind nach dem Austritt weiterhin hoch. Die innerkirchliche Wahrnehmung entspricht nicht dem Fremdbild der Menschen außerhalb: