Die neue Engelreligion

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2. Hilfreiche Helfer allüberall

Religionen tun sich in der Regel schwer damit, die Heilshaftigkeit des Glaubens konkret und überzeugend darzutun. Man spricht von Vergebung der Sünden, von Sinngebung und Orientierung. Aber was hilft mir das, wenn ich verzweifelt auf der Suche nach einem Parkplatz bin? Ganz anders in der Engelreligion. Die entsprechende Literatur quillt über von Berichten über konkret erfahrene Hilfe durch die Engel. Das Beispiel Parkplatzsuche habe ich gleich mehrfach gefunden. Giulia Siegel beschäftigt ihre Engel damit, ihr beim Finden eines Parkplatzes behilflich zu sein – in München, wo sie wohnt, wahrlich keine einfache Sache – und es funktioniert! Nun, die geflügelten Wesen haben ja auch eine größere Übersicht. Aber das ist es nicht allein. Einmal, als sie mit ihrem Vater unterwegs ist (der bislang nicht an die Engel glaubte), macht sie die Probe aufs Exempel. Man steuert ein Lokal in der Türkenstraße an. Natürlich sind alle Parkplätze belegt. Da ruft sie ihre Schutzengel an – sie heißen Viktor und Thaddäus –, und, als sie schon direkt vor der „Location“ stehen, da geschieht es: „Genau in dieser Sekunde fuhr ein Auto direkt vor der Tür des Karaoke-Restaurants aus einer Lücke, so dass ich einfach hineinrauschen konnte.“35 Giulias ganzes Buch handelt von solchen haarsträubenden Geschichten, in denen Engel eine fast ausweglose Situation zum Guten wenden. Sie hält ihre Engel wirklich gut beschäftigt. Da ist der geheimnisvolle Rabe, den sie wie vom Himmel geschickt auf der Straße sitzen sieht, und der bald darauf stirbt, um ihr auf diese Weise mitzuteilen, dass sie sich von ihrem Partner trennen muss. Der Engel als Rabe? „Wie auch immer deine Engel für dich aussehen, ist im Grunde völlig egal. Wichtig ist in meinen Augen jedoch: Engel setzen manchmal eben einfach Zeichen.“36 Engel helfen ihr, eine Wohnung zu finden. Engel bringen eine völlig verkorkste und auch finanziell katastrophale Geschichte mit einem Aupair-Mädchen zu einem guten Ende. Ihr Schutzengel bewahrt ihr Leben, als sie, die bei Schnee und Eis von München in die Schweiz gefahren war, um ein Weihnachtsgeschenk abzuholen (es hätte auch mit der Post geschickt werden können, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen), einen schweren Unfall hatte, ihr Wagen sich fünfmal überschlug und sie dennoch mit nur leichten Verletzungen davonkam. Der Bereich des Autofahrens scheint ausweislich dieser Literatur ein bevorzugtes Betätigungsfeld der Engel zu sein. Doreen Virtue erzählt von den Parkplatzengeln, von Engeln, die helfen den Autoschlüssel zu finden, von der vom Himmel stammenden plötzlichen Eingebung, die Spur zu wechseln – und „kurz darauf zeigt sich, dass Sie nur knapp an einem Stau oder an einem Verkehrsunfall vorbeigeschrammt sind“. Eine Frau („nennen wir sie Suzanne“) wurde nach einem schweren Verkehrsunfall von einem überaus freundlichen und gut aussehenden Sanitäter gerettet, und bei der späteren Nachfrage im Krankenhaus zeigt es sich, dass es diesen Sanitäter gar nicht gegeben hat. „Gottes Führung hält sich rund um die Uhr bereit“, das ist die Botschaft.37 Sie hilft, wenn man die Lebenshaltungskosten nicht in den Griff bekommt, wenn die Klimaanlage des Nachbarn nervt, wenn man den Geldberuf zugunsten einer schlechter bezahlten, aber erfüllenderen Tätigkeit aufgibt, und – natürlich – bei der Partnerwahl und Partnersuche. Das alles und viel mehr ist durch namentlich ausgewiesene Begebenheiten beglaubigt. „Gott sorgt für die Erfüllung all unserer Bedürfnisse – Liebe und materielle Unterstützung, Ermutigung und solider Rat inbegriffen. Wir brauchen nie zu befürchten, dass uns irgendetwas vorenthalten wird. Gott [= Engel] ist reine Liebe, reines Licht und reine Intelligenz. Von daher wird jedes Geschenk, nach dem es uns je verlangen könnte, von dieser Quelle hervorgebracht.“ Man muss auch nicht befürchten, dass Gott bzw. die Engel durch die vielen Anfragen, die an sie gerichtet werden, überfordert sind. „Gott ist kein Kriseninterventionszentrum, zu dem jeweils nur ein Anrufer durchkommt [diese moderne Horror-Erfahrung ist also in der Engelreligion überwunden!]. Er existiert in einer zeitlosen Dimension. Dementsprechend erfasst Gott alle Anfragen von allen gleichzeitig, ohne dass etwas durcheinandergerät oder sich gegenseitig stört.“38 Die Engelreligion ist wirklich die perfekte Religion der modernen Waren- und Konsumwelt. Was es für Geld nicht zu kaufen gibt, wird durch den Himmel nachgereicht.

Nicht ganz so platt äußern sich andere Autorinnen und Autoren zur Hilfe der Engel. Kurt Tepperwein verheißt Haltungen oder Tugenden wie Aufrichtigkeit, Ausdauer, Klarheit, Kreativität und Leichtigkeit als Gaben der Engel, die durch Meditation der Texte und Engel-Kalligraphien, die Tepperwein anbietet, zugänglich werden. Angelika Arnolds erfährt durch die Engel (Delfine) eine tiefe Erfüllung ihrer Liebessehnsucht, aber die Engel sind ihrer Erfahrung nach auch für alltäglichere Dinge zu gebrauchen: Parkplatzsuche, Bewachung des Fahrrads (man braucht nicht mehr abzuschließen), oder wenn man Ärger mit einem Mitmenschen hat, kann man sich an seinen Schutzengel wenden, der die Sache dann mit dem Schutzengel des anderen in Ordnung bringt. Jana Haas spricht von Engelerfahrungen auf einem höheren Niveau. Die spirituellen Energien bewirken authentisches Menschsein, Freilegung des wahren Selbst und Befreiung von falschen Bildern und Bindungen, Einfügung in die Ordnung des Universums und die Fähigkeit zur Liebe. „Was ist Liebe? Liebe ist, den anderen so zu akzeptieren, wie er bzw. sie ist.“39 Und doch ist ihre Engellehre mehr als nur Psychologie. Sie weiß vom Sterbe- und Todesengel, der die Verbindungen zum Leben trennt, beim Loslassen hilft und zusammen mit dem Schutzengel die Verstorbenen in die ihnen bestimmte himmlische Sphäre führt. Sie kennt, benennt und beschreibt die Inkarnations- oder Geburtsengel, die jede Phase der Schwangerschaft mit einer spezifischen Funktion unterstützen. Sie helfen auch bei der Geburt und sind ein- bis zwei Wochen nach der Geburt noch tätig, bis sie ihre Aufgabe an den Schutzengel übergeben.

Wie auch immer im Einzelnen, die Engelreligion kommt unseren Wünschen und Bedürfnissen so entgegen wie selten eine. Wer ihr anhängt und ihre Regeln und Rituale befolgt, kann eines glücklichen, erfüllten Lebens sicher sein. Welche andere Religion vermochte oder vermöchte das heute so zu behaupten? Wie könnte sich aber heute eine Religion halten, die weniger verhieße?

3. Dunkle Kräfte

Soweit nun ein Einblick in die lichte Seite der Engelreligion. Sie ist die, die in der entsprechenden Literatur und auf den Engel- und Heilerkongressen im Vordergrund steht. Aber traditionell gehören zur Welt der Engel auch die dunklen Kräfte, der Teufel und die gefallenen Engel, die Dämonen und die Besessenheit. Auch von ihnen muss die Rede sein, zumal wenn es um die Erfahrung des Bösen geht. Und ansatzweise ist diese dunkle Seite auch bei den bisherigen Schilderungen schon aufgeschienen. Jana Haas weiß von den Gefahren der schwarzen Magie, sie hat sie leidvoll am eignen Leibe erfahren. Sie kennt auch eine Art von Exorzismus. Einmal, als sie einer spirituell begabten Frau eine Frage stellt, sieht sie, wie hinter der Frau ein lichtvolles Wesen erscheint, um die Antwort zu geben, gleich darauf aber auch ein dunkles Wesen, das ebenfalls eine Antwort durchzugeben versucht. „Sofort sagte ich innerlich: ,Nur reine Liebe darf in mich hinein, alles andere weichen muss von mir.‘ Prompt konnte die Frau die Antwort dieses dunklen Wesens nicht durchgeben.“40 Liebe versus dunkle Gewalten, auf dieser Linie bewegen sich die Aufstellungen der hellen Engelliteratur in der Auseinandersetzung mit dem Bösen. Doreen Virtue, die doch die Engel ganz auf die Erfüllung unserer Bedürfnisse abgestellt hatte, kommt an der Frage nicht vorbei, wie die Engel zu unseren schlechten, egozentrischen Wünschen stehen. Hier führt sie die Figur der „gefallenen Engel“ ein. Sie stellen sich ein, wenn Wünsche und Vorstellungen von „Angst, Konkurrenz, Mangel und Zerstörung“ besetzt sind.41 Wie kann man aber zwischen den Gefühlen des höheren und des niederen, egoistischen Selbst unterscheiden, wenn doch auch die Wünsche des höheren Selbst auf Geld, Karriere, Sicherheit und unbegrenztes Autofahren gerichtet sind? Doreen macht es nur an der Unterscheidung der Gefühle fest – ob sie von Liebe oder von Angst bestimmt sind – und stellt umfangreiche Listen mit „emotionalem Vokabular“ zur Verfügung, um die eigenen Gefühle besser erkennen und ausdrücken zu können.42 Und doch bleibt die Unterscheidung undeutlich und problematisch. Eine Religion, die auf die Wahrheit der Bedürfnisse setzt, eine solche kapitalismuskompatible Religion hat Probleme, mit der Macht des Bösen fertig zu werden.

Eine, soweit ich sehe, große Ausnahme in der Engelliteratur ist Helga Schaubs Buch über die „Befreiung von Dunkel-Mächten“. Sie erklärt: „Die Zeit ist reif dafür, dass wieder offen und öffentlich über Besetzungen und dunkle Energien gesprochen wird.“43 Schaub hat einen protestantisch-christlichen Hintergrund, sie glaubt an Christus, gehört aber nach eigener Aussage keiner Kirche an. Sie hat eine Reiki-Ausbildung absolviert und ist als Heilerin im Kampf mit den dunklen Mächten tätig. Sie berichtet von ihrer Fähigkeit, schädliche Energien und böse Geister zu erkennen und von ihnen zu befreien. Im Zuge ihrer Tätigkeit ist sie in engen Kontakt mit dem in der katholischen Kirche geübten Exorzismus gekommen. Sie hat die exorzistische Literatur gründlich studiert und ist auch nach Rom gereist, um die führenden Exorzisten der katholischen Kirche persönlich kennen zu lernen, ja sie hat selbst einen Exorzismus an sich ausführen lassen. Liest man ihr Buch mit katholischen Augen, so ersteht die ganze in der Kirche weitgehend verdrängte Welt der bösen Geister und der teuflischen Mächte wieder auf, zusammen mit den Mitteln der Beschwörung und der Austreibung. Helga Schaub beansprucht, das in der Kirche bereitliegende exorzistische Wissen und Können auf einen zeitgemäßen, entwickelteren Stand zu führen. Ohne die Gebete, die im Christentum vorliegen, geht es nicht, aber „christliche Gebete im Verein mit asiatischer Energiearbeit, das wäre optimal“.44 Es genügt nicht, wenn meist sehr alte katholische Priester Gebete murmeln, sie müssen auch selbst eine kraftvolle, heilende Energie mitbringen. Ein Exorzismus wirkt nicht „ex opere operato“, durch seinen bloßen Vollzug. Und vor allem: Das in der katholischen Kirche übliche Anfahren, Bedrohen und Beschimpfen des Dämons ist der falsche Weg. Der Geist, der einen Menschen besetzt hält, will ja selbst ins Licht und in die Erlösung, und das wäre der rechte Exorzismus (Schaub: „Clearing“), der ihm den Weg dazu weist.

 

„Der beste Schutz vor schädlichen Energien ist das Gebet und der echte tiefe Glaube“, sagt Helga Schaub.45 Ich finde es bemerkenswert, dass hier, wo es um die Überwindung des Bösen geht, das Christliche eine weit größere Rolle spielt als sonst in der neueren Engelliteratur. Sollte etwa der christliche Glaube gerade an dieser Stelle eine besondere, unverzichtbare Bedeutung haben? Darauf ist zurückzukommen. Bei Helga Schaub aber ist nicht so recht klar, woran denn geglaubt werden soll. Sie spricht von einer „freundschaftlichen Beziehung zu dem eigenen höheren Selbst, dem Göttlichen in uns“, und dies sei völlig „unabhängig von Religion, Dogmen und Glaubensbekenntnissen“.46 Nun, wenn es so einfach wäre … Aber so wahrt sie jedenfalls ihren Platz in der dogmenfreien Engelreligion.

Lassen wir uns von Helga Schaub ein wenig in die Welt der dunklen Kräfte hineinführen. Ihre theoretische Grundlage ist das „Gesetz der Resonanz“. Gute wie schlechte Gedanken und Gefühle senden Schwingungen aus, diese wirken weiter und fallen irgendwann einmal auf ihren Urheber zurück. Wer Böses erlebt, hat zuvor Böses getan oder gedacht. Dieses von ihr so genannte „Gesetz von Ursache und Wirkung“ – „Was ich säe, das werde ich ernten“47 – geht nur auf, wenn man im Sinne des Karma-Gedankens mehrere Existenzen in Rechnung stellt. Und es enthält vielleicht eine allzu deterministische Erklärung für das Leid eines Menschen. Aber mit der Aufmerksamkeit für die Fortwirkung negativer und positiver Energien kann doch viel erklärt werden. Das in sachlichem Ton gehaltene Buch führt überzeugende Beispiele für die Wirkung von bösen Gedanken, Flüchen, Verwünschungen und spiritistischen Praktiken an. Ein Beispiel: Ein Mann heiratet eine Frau, deren Eltern und Verwandten aus Rumänien stammen. Die Beziehung zu den Schwiegereltern ist von Anfang an schlecht. Dann wird der Mann krank, mit Symptomen, die auf eine Vergiftung hindeuten. Alle medizinischen Untersuchungen verlaufen ergebnislos. „Als ich in seinen Arbeitsbereich im Haus kam, spürte ich nach etwa zwei Minuten einen metallenen Geschmack auf der Zunge, mir wurde übel und leicht schwindelig. Ich verließ den Raum und stellte einige Tests an, die einwandfrei Folgendes ergaben: Auf feinstofflicher Ebene, die mit herkömmlichen Methoden nicht messbar und nicht sichtbar ist, wurden diesem Klienten ganz gezielt in seinen Arbeitsbereich Giftstoffe geschickt, die die oben beschriebenen Symptome auslösten.“48 Es stellte sich heraus: Die Schwiegermutter hatte einen Magier damit beauftragt, dem Mann zu schaden. Nachdem nun die Räume „gereinigt“ und die schwarze Magie gebannt war, kann die Heilerin den Mann davon überzeugen, die Schwiegermutter in seine Gebete einzuschließen und ihr alles Gute zu wünschen. Denn nur mit Liebe ist gegen das Böse anzukommen, nur das Licht kann die Dunkelheit erhellen. – Helga Schaub ist Expertin für die Wahrnehmung feinstofflicher Wesenheiten, so sagt sie. Diese Wesenheiten sind normalen Analyseinstrumenten nicht zugänglich; ist damit schon ausgemacht, dass es sie nicht gibt? Sie erklärt: Ein Mensch kann durch dunkle Energien besetzt werden, vor allem dann, wenn seine Aura schwach und durchlöchert ist, etwa bei Alkoholikern. Die dunklen Kräfte können zum Beispiel durch okkulte Praktiken herbeigerufen werden, und die Autorin warnt nachdrücklich davor, dass junge Menschen an okkulten Handlungen und spiritistischen Sitzungen teilnehmen. „Viele Menschen sind sich dessen gar nicht bewusst, dass schon das Tragen oder Aufzeichnen des satanischen Pentagramms oder der Gebrauch des Satanskreuzes sowie die Anrufung des Fürsten der Dunkelheit genügen, um diese dunklen Energien anzulocken. Wehe den Geistern, die ich rief!“49 Es kann sich auch um die Geister Verstorbener handeln, die sich etwa nicht von ihren Besitztümern lösen können oder noch auf Rache sinnen. Da sie Energie benötigen, docken sie an andere Personen an und ernähren sich von deren Energie. Eine solche Person ist dann zeitweilig oder dauernd „besetzt“. Die Folgen sind Schwäche, Lustlosigkeit, tiefe Traurigkeit und eine Reihe körperlicher Beschwerden, die die Autorin zum Zwecke der Erkennbarkeit detailliert aufführt. Manche dieser verirrten Seelen machen auch als Poltergeister auf sich aufmerksam. Sie müssen davon überzeugt werden, sich abzulösen und abholen zu lassen in die jenseitige Welt. Gelingt dies, ist beiden Seiten gedient, der „besetzten“ Person und der armen Seele. „Geben Sie der verirrten Seele liebevoll zu verstehen, dass Sie alleine leben möchten, und dass sie sich im Licht weiterentwickeln darf. Sprechen Sie zu den Verstorbenen, nennen Sie sie beim Namen, wenn Sie wissen, um wen es sich handelt.“50 Auch dies ist ein Clearing, ein Exorzismus. Neben solchen durch menschliche Energie verursachten Schädigungen beschreibt Helga Schaub auch die negativen Energien, die durch technisch erzeugte Strahlung, durch Handys oder durch Elektrosmog im Büro ausgelöst werden und die nicht selten zu Erkrankungen führen. Dagegen kann man sich durch bestimmte Maßnahmen, unter anderem durch geeignete, strahlenabsorbierende Steine schützen. Doch der eigentliche Schutz gegen alle Arten dunkler Mächte wird erreicht durch Glauben, durch liebevolle Gedanken, durch Lachen, Singen und inneren Frieden, durch Gebet und Gedankenreinheit. Das ist gar nicht magisch, und es ist in jedem Fall zu empfehlen.

4. Satanische Mächte

Satan und seine Engel, den Fürsten der Hölle in seinem Schrecken, die finsteren Mächte und Gewalten, die nach alter Vorstellung mit zur Welt der Engel gehören, haben wir bisher noch nicht angetroffen. Sie kommen in dieser ,hellen‘ Engelreligion nicht oder nur ganz am Rande vor. Die niedlichen Parkplatzengel einer Giulia Siegel wären ohne Zweifel zu schwach, um gegen sie aufzukommen, und auch die Maßnahmen der Helga Schaub griffen wohl nicht. Ist die dunkle Seite der Engelwelt heute ganz vergessen? Nein, aber ich finde sie an einem völlig anderen Ort. Vor mir liegt der Band „Heavy Metal Thunder. Album Covers that Rocked The World“ von Neil Aldis und James Sherry. Er enthält Abbildungen von über 400 Covers von Alben aus der Heavy-Metal-Musikszene von 1970 bis 2005. Schon auf dem Titelbild grinst eine Teufelsfratze. Und dann sind sie in diesem Band alle versammelt: die Teufel und Dämonen, die Verdammten der Hölle, die Täter und die Opfer grausamer Gewalt. Es ist ein Pandämonium, ein Album des Grauens. „Welcome to Hell“ heißt eine Produktion der britischen Band Venom von 1981, auf dem Cover erscheint ein gehörnter Teufel im satanischen Pentagramm. „Possessed“ ist eine weitere Produktion der gleichen Band von 1985. Gezeigt werden geheimnisvoll durchleuchtete Kinder mit dem Satanszeichen auf der Brust. „Reign in Blood“ heißt ein Album der Band Slayer (1986). Das Cover zeigt eine Szene aus der Hölle in der düsteren Art, wie man es von mittelalterlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts kennt: Menschen, die bis zum Hals in einer feurigen Flüssigkeit stehen, bocksköpfige und gehörnte Teufel, weitere Insassen der Hölle, darunter auch ein Bischof. „A Catalogue of Destruction“ wird auf dem Sampler Speed Kills (1987) angeboten, ein weiterer Sampler ist „Hell Comes to Your House“ betitelt (1984) und zeigt ein muskulöses, schweins- oder drachenköpfiges Wesen, das ein friedliches Castle in seinen Klauen hält. Besonders grauenerregend sind die Covers der Gruppe Iron Maiden. In der Produktion „Life after Death“ (1985) ist das eiserne Mädchen51 dem Grabe entstiegen, enthäutet, mit leeren, wahnsinnig blickenden Augen und einem schrecklichen Gebiss treibt sie von nun an ihr Unwesen. Ein „Inkubus“ wird auf der Aufnahme der gleichnamigen Band unter dem Titel „Beyond the Unknown“ (1990) beschworen: eine bedrohliche, rotäugige und wie ein Mönch gekleidete Gestalt vor einer Ruinenlandschaft. Immer wieder Teufel und Dämonen, von einer beachtlichen Fantasie der Künstler ausgeführt. Der Gipfel der Scheußlichkeiten ist vielleicht: Cannibal Corpse mit den Alben „Eaten Back to Life“ (1990) und „Butchered at Birth“ (1991). Auf letzterem Cover wird eine junge Frau von halbverwesten Fleischerdämonen mit blutigem Messer geschlachtet, das Kind wird ihr aus dem Leib gerissen. Die abgerissene Nabelschnur ist inmitten all des Blutes noch zu erkennen. Darstellungen kruder, unvorstellbarer Gewalt auch auf vielen anderen Bildern. Daneben findet man Impressionen einer zerstörten, todverfallenen Welt. Nuclear Assault zeigt unter dem Titel „Survive“ (1988) ein zerbröckelndes Atomkraftwerk, darüber einen hässlich grinsenden gehörnten Totenkopf, das alles in einer schwefelgelben, giftigen Atmosphäre. Das Atomkraftwerk taucht auch bei „World Remise“ (1994) der Gruppe Obituary wieder auf, eingebettet in eine Landschaft grün-gelblich rauchender Fabrikschlote. „Cause of Death“ (1990) und „Slowly we Rot“ (1989) heißen weitere Produktionen dieser Gruppe. „Death Shall Rise“ (Cancer, 1991) könnte das Motto all dieser Bildmotive sein. Der Sensenmann mit Teufelskopf erhebt sich hier kraftstrotzend über einer Landschaft aus menschlichen Körperteilen.

Im Grunde genommen müsste man die Musik dazu hören. Aber für jemanden, der in der europäischen Musiktradition aufgewachsen ist, ist hier eigentlich keine Musik zu hören. Nur ein Grunzen, Stöhnen, Kreischen der „Shouter“ genannten Sänger, begleitet von wahnsinnig schnell hämmernden Rhythmen, in einer Lautstärke (live) von 100 Dezibel und mehr. In der Industrial-Musikszene werden gerne auch Geräte wie Hämmer oder Kreissägen zur Begleitung eingesetzt. Das sind für mich Geräusche aus der Hölle.

Was ist das alles? Der Reiz des Verbotenen? Die Faszination durch eine dunkle, mysteriöse Welt? Das Spiel mit den Tabus? Das Vergnügen am Schock? Die Lust am Horror? Oder einfach die Auswirkung einer Musikindustrie und ihrer Abnehmer, die mit Nervenkitzel um Marktanteile kämpft und in sich eine Dynamik zur immer weiteren Steigerung des Horrors erzeugt? Von allem sicher etwas, und doch: Irgendwie äußert sich hier auch eine echte Wahrnehmung. Hier werden Mächte erfahren, deren Ausdruck von selbst zur Gestalt des Satanischen und Dämonischen drängt – und darum ist diese Szene zur Engelreligion hinzuzunehmen.

„They know something is wrong. They don’t feel comfortable in their given setting in live“52, so charakterisiert der Leader der Band Misery Index, Jason Netherton, die Stimmung bei den „Metal People“.53 Etwas, das sie falsch finden, ist offensichtlich schon das Verschweigen und Verdrängen des Todes aus der Gesellschaft. Die Gothic-Leute54 tragen schwarz, behängen sich mit Symbolen des Todes, feiern in ihrer Musik die Macht des Todes; sie verleihen dem Tod Präsenz. Womöglich lieben sie den Tod sogar. Dies jedenfalls legt der Name der Berliner Band Thanateros nahe. Ihr Texter und Sänger Benjamin Richter erklärt: „Ich denke, dass der Tod und die Liebe von zentraler Bedeutung für den Menschen sind. Der Tod als der große unbekannte Gegenspieler des Lebens, das Unfassbare, Dunkle. Aber ohne Tod kein Leben. Unsere westliche, moderne Kultur versucht gerade alles zu tun, um den Tod […] zu verdrängen. Die Alten werden aus dem Blickfeld geräumt; man hat ewig jung und fit auszusehen; Todkranke werden an Maschinen angeschlossen, um sie um jeden Preis noch für ein paar Tage länger am Leben zu erhalten.“55 Richter, der Religionswissenschaft und Ethnologie studiert hat, versteht sich als Anhänger des Schamanismus. Mit diesem, einer uralten religiösen Tradition, begreift er die Einheit von Leben und Tod in einem zyklischen, natürlichen Ablauf, in einem „Circle Of Life“, wie ein Album von Thanateros von 2003 heißt. Seinen religiös fundierten Naturalismus stellt Richter bewusst gegen das westlich säkularisierte und auch gegen das christliche Weltbild, mit Recht übrigens, denn der christliche Glaube kann der natürlichen Wahrnehmung des Todes nicht beistimmen. Richter bezieht sich auf vorchristliche, vor allem keltische Traditionen und versteht sich als praktizierender Heide. Die Anknüpfung an heidnische Religion ist ein typisches Merkmal der Gothic-Culture. Thanateros und ein der Band angeschlossener, von Benjamin Richter mitbegründeter magisch-schamanischer Adarga-Orden (zusammen mit einem Adarga-Institut) beschränken sich nicht auf die Kritik unserer todvergessenen Gesellschaft, sie wollen auch einen Weg in die Zukunft weisen: „Thanateros versuchen […] das scheinbar verlorene Erbe einer vergangenen Ära, das Gestern mit dem modernen Geist, mit dem Heute zu verbinden und so einen möglichen Weg für das Morgen zu skizzieren.“56

 

Doch nicht nur die Todesvergessenheit, viel mehr noch die Todesverfallenheit, ja die Faszination durch den Tod in unserer Gesellschaft bewegt die Gothic- und Metal-Szene. Die Plattencover mit den Atomkraftwerken, den verödeten Fabriklandschaften, mit dem Sieg des Meisters Tod deuten schon darauf hin. Wir sind eine Zivilisation, die auf der Macht des Todes beruht, die sich weit mehr Tod leistet, als nach dem natürlichen Zyklus angemessen ist. Diese geheime, uneingestandene Liebe zum Tod wird bei Heavy Metal ausdrücklich! Mick Mercer, der Herausgeber eines Szene-Magazins, notiert über die Anfänge des Goth: „Leben und Tod waren die verbreitetsten Themen der frühen Achtziger, wo die nukleare Bedrohung über unseren Köpfen schwebte. […] Man musste nicht lange nach Inspiration suchen. Der Verfall der Gesellschaft umgab uns überall.“57 Die amerikanische Band Sacred Reich gibt in einem ihrer Songs zu Protokoll: „Our atmosphere clouded with poison. We’re killing ourselves to live filling the world with hate and dissention. […] Our ignorance means death.“58 Gegen die Ignoranz unserer Verbrüderung mit dem Tod geht nicht nur diese Band an, die vor allem den American Way of Life mit seiner Umweltschädigung und seinem Kriegstreiben aufs Korn nimmt. Nicht die Metal-Music verbreitet morbide Stimmung, sie verschafft ihr nur Ausdruck. Die Band Cannibal Corpse, angesprochen auf die Frage, ob sie mit ihren Covers und ihrer Musik die jungen Leute nicht zur Gewalt motiviert, antwortet: „We’re not out trying to teach your children about violence. I mean, all they have to do is watch the news if they want to learn about it.“59 Es genügt also, die Nachrichten zu sehen, dann weiß man genug über die Macht des Todes in unserer Zeit. Die industrielle Produktion, die Vorherrschaft einer leblosen kalten Technik, die Herabwürdigung der Menschen zu Bedienern der Maschine und der Natur zur Ressource, zum Materiallager eines überdimensionierten Wohlstands, das ist der Hintergrund der der Gothic-Culture oft vorgeworfenen Todesfaszination. Die US-amerikanische Band Cattle Decapitation, um auch dieses Beispiel noch zu erwähnen, macht mit ihren grauenerregenden Covers und ihren Texten auf unseren wahrhaft satanischen Umgang mit Tieren aufmerksam. In einem ihrer Songs versetzen sie die Menschen selbst als Vieh ins Schlachthaus: „AAAAHHHHH! Millions of human hung up hooks suspended in deep freeze Subzero, sterile environment keeps meat tender and lean choice cuts from the slaughter. Husband, mother, daughter. Dead families kept together.“60 Hier wird etwas gesehen, was sonst verborgen gehalten wird. Die Band will nicht predigen, will nicht überzeugen. „I think the shock value we use is preaching enough“, erklärt das Bandmitglied Ryan.61

Also ist Aufklärung die Sache des Metal, oder genauer: Aufwachen aus dem Traumschlaf unserer Zivilisation. „Punk war wie ein Faustschlag genau zwischen die Augen. Er haute dich aus den Socken, wenn du ihn das erste Mal hörtest, und auf einmal bedeutete der ganze Müll um dich rum überhaupt nichts mehr. Alles sollte sich verändern und entweder hast du das sofort und instinktiv begriffen oder nichts davon abgekriegt“, berichtet der Szenebeobachter Mick Mercer über die Anfänge der Goth-Bewegung.62 Man könnte sagen, dass die sich steigernde Brutalität und Härte dieser Musik darauf aus ist, immer neue solcher Faustschläge auszuteilen. Auch Gewalt kann aufklärerische Funktion haben, ohne Gewalt wird die kulturelle Vernebelung nicht zu durchbrechen sein (das wussten schon die Propheten der Bibel!). „In einem großen Umfang glaube ich fest daran, dass gewisse Formen der Gewalt positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben können. […] Gewalt ist ein Stellvertreter der sozialen Veränderung und ebenso eine gültige Form des künstlerischen Ausdrucks“, so war in einem Internet-Fanzine (Fan-Magazin) der Szene zu lesen.63 Die britische Band Grey Wolves, die sich, provozierend genug, in ihrer Namenswahl an die gleichnamige rechtsradikale türkische Terrorgruppe anlehnt, hat sich diesem Aufklärungsprojekt besonders verschrieben. Es gehe darum, „the dirt behind the dream“, den Dreck hinter dem Tagtraum, bewusst zu machen. Da aber das Bewusstsein dazu neigt, sich diesem Dreck gegenüber zu verschließen, ist nicht weniger als „cultural terrorism“ nötig, um es aufzuwecken. Die Gruppe übt ihren kulturellen Terrorismus durch bewussten Tabubruch, durch das Spiel mit unmoralischen und verbotenen Themen aus. Sie hat ein eigenes „Informationsministerium“, die Homepage „Open Wound Alliance“ begründet, um auf die offenen Wunden der Gesellschaft hinzuweisen. Dort findet man verwirrende, widersprüchliche, unkorrekte und provokative Informationen, die dazu dienen, die Benutzer zu irritieren und zu medienkritischen Menschen zu machen. Man sieht sich in einen „information war“ verwickelt und kämpft in diesem Krieg mit allen Mitteln.64

Damit wird vollends deutlich, dass die Gothic- und Metal-Szene nicht nur anprangert, sondern auch auf Gegenstrategien zum miserablen Zustand unserer Gesellschaft sinnt. Dass diese Gesellschaft scheinbar so alternativlos daherkommt, „that there are no alternatives or dissenting ideas being discussed“65, das regt Jason Netherton von der Band Misery Index auf. Der Name der Band kommt von einer Art Armutsbericht in den USA, und dieser fällt Jahr für Jahr katastrophal aus. Der studierte Ökonom Netherton kämpft gegen Neoliberalismus, Turbokapitalismus und Globalisierung. Für ihn ist unsere Wirtschaftsform ein Programm zur Zerstörung des Planeten. Menschen werden zu Sklaven „der Maschine“ erniedrigt, werden zur Mordlust gegeneinander angeregt. „What remains here …? Bowing to the dollar in their selfish church of capital, where wealth encrusts their bodies, yet cancer fills their hearts? Brother will kill brother in this stained-glass abattoir called Earth“66, heißt es in dem Song „Retaliate“ in Anspielung auf das „stahlharte Gehäuse“ Max Webers. Netherton möchte die Ideen des Anarchismus und des Sozialismus wach halten, nicht als einzigen Ausweg aus der Krise, sondern um über Alternativen überhaupt nachdenken zu können. Die Rolle des Musikers ist für ihn die, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst keine Möglichkeit haben sich auszudrücken.67

Einen viel radikaleren Weg geht die Band Dissection, die der Black-Metal-Richtung angehört. Und hier stoßen wir auch zum ersten Mal auf den vielbeschworenen Satanismus der Gothic-Szene.68 Die Band steht im Umkreis des „Misanthropisch-luziferischen Ordens“, der sich auf der Grundlage neognostischen, altgermanischen und sozialdarwinistischen Gedankenguts zu einem antikosmischen Satanismus bekennt. Das heißt, die Menschheit muss abgeschafft („misanthropisch“) und die Welt ins Nichts zurückgestoßen werden („antikosmisch“). Die Energien, die dazu nötig sind, kommen von Luzifer/Satan. „Anti-Cosmic has he function of bringing disharmonic Chaotic energies into Cosmos, this way speeding up the evolution that leads the creation back to the formless chaos that descends it from“69,so die Philosophie des „Ordens“ in einem Selbstzeugnis. Im Hintergrund steht eine gewisse politisch-religiöse Radikalisierung der skandinavischen Gothic-Szene, in deren Gefolge es zu Brandstiftungen an Kirchen und zu Morden – auch innerhalb der Szene – gekommen war.70 Von hier aus wird auch erkennbar, warum die Gothic-Szene anfällig ist für die Infiltration mit nationalsozialistischem und neofaschistischem Gedankengut. Kirche, Christentum und Demokratie sind die gemeinsamen Feindbilder. Wilde Zerstörungswut, gepaart mit der sozialdarwinistisch motivierten Hoffnung, dass eventuell die Über- oder Herrenmenschen die neue Welt regieren werden, das sind Verbindungslinien zwischen satanistischem Black Metal und der Neonazi-Szene. Rob Darken, der Frontmann der polnischen Band Graveland, erläuterte in einem Interview die Absichten der unter dem Banner NS-Black Metal zusammengeschlossenen rechten Gruppierungen wie folgt: „Der deutsche Kriegsgeist muss erwachen! Wir sollten menschenfreundliche Ideen zerstören! Aber wir tun nichts und viele Leute aus der Türkei, Neger und andere Subkulturen kommen in unsere Länder und mischen unser Blut! Sie zerstören unsere Kultur und Traditionen! Zerstören die Demokratie, das Christentum, die amerikanische Kultur. Es ist höchste Zeit, aufzuwachen und einen neuen Krieg zu beginnen!“ Die Ablehnung einer todverfallenen Kultur führt hier selbst zu Hass- und Gewaltfantasien. Oder anders: Wenn man Satan als den Herrn der Welt anerkennt, gerät man auch unter seine Gewalt.