Tamora - Im Sumpf des Lasters

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»Und dann willst du darüber schreiben?«

»Vielleicht«, meinte Tamora und lächelte. »Ich bin mir noch nicht sicher, was ich damit anfangen werde. Aber vermutlich: ja.«

Jetzt schenkte ihr Chloe ein gutmütiges Lachen. »Auf den Romanen steht aber sicher nicht dein richtiger Name, oder?«

»Sie meinen ein Pseudonym? … Nein, so etwas verwende ich nicht. Alles was ich schreibe, kann ich auch vertreten. Haben Sie denn hier im Salon Ihren richtigen Namen angegeben?«

»Nein, wie käme ich auch dazu«, entgegnete Chloe. Wieder glitzerte es in ihren Augen. »Hör mal, Mädchen, du bist anscheinend nicht auf den Mund gefallen. Das gefällt mir. … Du bist erfrischend anders. Wenn ich die anderen Frauen hier sehe, die bekommen doch sofort Stielaugen, wenn ich den Salon betrete. Ich kann an ihren Gesichtern gleich ablesen, was in ihren Köpfen vorgeht. Sie kommen fast um vor Neugierde. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie säuerlich sie reagieren, wenn ich mir den Wandschirm aufstellen lasse.« Für einen kurzen Augenblick huschte ein verächtlicher Ausdruck über ihr Gesicht. »Wenn sie käufliche Ware sehen wollen, dann sollen sie sich doch einfach den Straßenstrich anschauen. Aber dafür reicht ihr Mut dann wohl am Ende nicht aus … Vielleicht ist es ja auch ihre heimliche Angst, den eigenen Göttergatten dort anzutreffen.« Chloe ließ ein angenehmes, aber herablassendes Lachen hören.

Tamora wollte etwas erwidern, wurde aber schon im Ansatz unterbrochen, denn in diesem Augenblick betrat eine von Mays Angestellten die Kabine. »Ich müsste jetzt die Haare ausspülen«, stellte die Mitarbeiterin freundlich fest.

»Nur zu«, entgegnete Chloe knapp.

Tamora erhob sich, schob ihren Stuhl ein wenig beiseite und blieb in der Nähe stehen. Sie ließ Chloe nicht aus den Augen und überlegte, was so Seltsames, so Anziehendes an ihr war. Wenn Sie nicht gewusst hätte, dass hier eine Prostituierte vor ihr saß, sie würde Chloe für eine moderne, erfolgreiche und aufgeschlossene junge Frau gehalten haben. Da war etwas an ihr, das sie im Augenblick nicht zu beschreiben verstand. Verwundert darüber fragte sich Tamora, ob das einfach an ihrem Wissen lag, dass sie dem horizontalen Gewerbe nachging.

Aber auch Chloe betrachtete sie neugierig.

Tamora war völlig in ihre Gedanken versunken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Mays Angestellte mit dem Auswaschen der Haare schon fertig geworden war. Chloe musste sie schon eine Weile beobachtet haben.

»Wie lange dauert das denn noch?«, pflaumte sie die rothaarige Friseurin an.

»Eine knappe Stunde. Sie wissen das doch.«

Unzufrieden über die Antwort rümpfte sie die Nase.

Tamora wusste, dass Chloe gleich unter die Trockenhaube kommen würde, was eine vernünftige Unterhaltung ziemlich unmöglich machte.

Dasselbe schien auch ihr Gegenüber gedacht zu haben. »Du interessierst mich«, sagte sie plötzlich frei heraus.

Tamora war aufgefallen, dass Chloe alle sehr vertraulich anredete, aber es störte sie nicht im Mindesten. »Ja? … Das freut mich.«

»Wir sollten uns einmal näher über dein Projekt unterhalten. Vielleicht kann ich ja tatsächlich etwas dazu beitragen.«

Tamora lachte unwillkürlich. Du scheinst den Spieß umdrehen zu wollen, dachte sie. So habe ich mir das aber nicht vorgestellt.

Chloe warf einen beiläufigen Blick auf die kostbare Armbanduhr, die ihr zartes Handgelenk schmückte.

»Hör mal: wenn ich hier fertig bin, dann setzen wir uns zusammen. Einverstanden?«

Tamora überlegte kurz.

»Ah, du traust dich anscheinend nicht so recht, wie?«, schmunzelte Chloe, als sie nicht direkt zustimmte.

»Das ist es nicht. Ich bin gerade gedanklich meinen Terminplan durchgegangen und habe überlegt, ob ich heute noch so viel Zeit habe. Der Anruf meiner Freundin kam sehr überraschend.«

»Na, dann überlege du mal in aller Ruhe. Ich bin ja noch ein gutes Weilchen hier.«

*

Tamora verließ die Kabine und lief im Salon ein wenig auf und ab, bis May wieder zum Vorschein kam.

»Und? … Hast du schon etwas in Erfahrung bringen können?«, erkundigte sich May bei ihrer Freundin und sah sie neugierig an.

»Nein, noch nichts. Dafür ist es auch viel zu früh. Es braucht schlicht mehr Zeit, … auch um miteinander warm zu werden.«

»Ach, wie schade«, seufzte May. »Dann hast du dir den Weg also ganz umsonst gemacht?«

»Nein. Chloe will nachher noch mit mir reden.«

»Hier im Salon?«, fragte ihre Freundin erstaunt.

»Ganz bestimmt nicht«, lachte Tamora. »Da wird es schon eine andere Möglichkeit geben. Es interessiert mich ja wirklich, was sie zu sagen hat. Bestimmt hat sie eine Menge zu erzählen und ich habe natürlich irre viele Fragen. Wann hat man schon einmal die Möglichkeit alles aus erster Hand zu erfahren?«

»Meinst du? Ich dachte immer, darüber sei alles im Internet nachzulesen. Inzwischen haben einige der Mädchen doch sogar schon ihre Lebensbeichten veröffentlicht.«

»Stimmt, … aber direkt von der Quelle ist das eben doch was anderes«, beharrte Tamora.

»Hast du denn überhaupt soviel Zeit?«, wollte May wissen.

»Zeit oder nicht Zeit, ja, das ist die Frage«, verulkte Tamora ein Shakespeare-Zitat und schmunzelte. »In diesem Fall muss ich mir die Zeit einfach nehmen und ich nehme sie mir gern. Eine Chance wie diese kommt nicht so schnell wieder. Außerdem scheint mir unter ihrer rauen Schale eine ganz sensible Frau zu stecken, die es nicht leicht im Leben hatte.«

»Na, dann trinken wir oben solange noch einen Kaffee und quatschen etwas«, meinte May und legte Tamora freundschaftlich einen Arm um die Hüfte.

»Okay. Ich sage ihr nur schnell Bescheid.« Sie löste sich aus der Umarmung und huschte am Sichtschutz vorbei in die Kabine zurück.

Chloe hatte jetzt einen feuchten Wuschelkopf und sah irgendwie lustig aus. »Sieht irre gut aus, oder? Echt der letzte Schrei! Da braucht es gar nicht mehr viel, … nur noch etwas schneiden«, grinste die Prostituierte sie an.

»Mir würde das sicher nicht stehen«, meinte Tamora lachend.

»Und warum nicht? Du hast doch schönes langes Haar … Man muss schließlich alles Mal ausprobieren. Und, … wie sieht es mit dir aus?«

»Ich habe Zeit und bin pünktlich zur Stelle«, bestätigte sie lächelnd.

»Na, also! Das nenne ich ein Wort!«

Tamora lächelte ihr noch einmal zu und verschwand dann mit May wieder eine Etage höher.

Als eine halbe Stunde später Mays Kinder nach Hause kamen, konnte sie mit ihrer Freundin kein offenes Gespräch mehr führen. Ihr war das sogar recht, denn sie wollte noch einmal gründlich die Fragen durchgehen, die sie Chloe zu stellen gedachte.

So verging die Zeit viel schneller, als sie erwartet hatte.

***


Kapitel 3

Der hausinterne Anschluss klingelte. May nahm den Anruf an. Gleich darauf drehte sie sich zu Tamora um und sagte: »Chloe ist fertig. «

»Na, dann will ich mal zur ihr hinuntergehen.« Sie griff nach ihrer Handtasche und verabschiedete sich noch von den Kindern.

»Ich wünsche dir viel Spaß«, grinste May.

»Danke. Werde ich haben.«

*

Tamora fand Chloe wartend vor dem Friseursalon. Sie betrachtete sie und musste sich eingestehen, dass sie umwerfend aussah. Sie trug ein dunkelblaues tailliertes Kleid von Armani in Minilänge. Es war schlicht, dafür aber äußerst elegant und schien wie für sie gemacht. Hinzu kam ein kurzes passendes Jäckchen und Pumps in gleicher Farbe. Ihr Make-Up war ebenso dezent, wie die schlichte Halskette und die Ohrringe. Alles in allem machte sie mit ihrer unauffälligen Handtasche den Eindruck einer erfolgreichen Geschäftsfrau.

»Ist May deine Freundin?«, erkundigte Chloe sich wie beiläufig.

»Ja. Wir kennen uns schon eine gefühlte Ewigkeit«, erwiderte sie und erblickte das knallrote Mercedes-Cabriolet.

»Na, dann fahr mal mit deinem Wagen hinterher«, meinte Chloe und sah sie grinsend an.

Tamora nickte sprachlos.

*

Etwa zwanzig Minuten später hielten sie vor einer vierstöckigen Wohnanlage. Rundherum war ein völlig neues Viertel entstanden und Tamora musste sich eingestehen, noch nie in dieser Gegend gewesen zu sein. Neugierig sah sie sich um.

»Wenn ich dich jetzt mitnehme, gehe ich davon aus, dass du schweigen wirst«, stellte Chloe fest.

»Wohin soll ich mitgehen?«, fragte sie verunsichert.

»In meine Wohnung selbstverständlich«, lächelte Chloe. »Was hast du denn gedacht?«

»Keine Ahnung«, gestand sie. »Ich bin wohl eher davon ausgegangen, wir gehen in ein Café.«

»Ach, wozu denn«, meinte Chloe mit einer abwinkenden Geste. »Tee oder Kaffee kann ich selbst machen. Außerdem ist es viel ungezwungener, … man kann besser frei sprechen, ohne lästige Zuhörer.«

Tamora fühlte sich jetzt nicht mehr ganz wohl in ihrer Haut. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Doch sie hatte zugesagt und konnte nicht mehr zurück. Inzwischen hatte Chloe sie in den Hausflur gezogen und den Knopf am Fahrstuhl gedrückt.

»Im Haus hat keiner eine Ahnung, von dem was ich beruflich mache und das ist auch gut so. Hier lebt jeder für sich und kaum einer kennt den anderen. So etwas kann von Vor-, aber auch von Nachteil sein«, erklärte sie. »Und weil du es auf dem Türschild eh lesen kannst … Mein richtiger Name ist Violett.«

*

Wie sich herausstellte, hatte Violett ihre Wohnung in der vierten Etage – Räumlichkeiten, die es in sich hatten.

 

Die junge Prostituierte hatte ihr den Vortritt gelassen, war hinter ihr im Türrahmen stehen geblieben und musterte sie eindringlich. »Ja, das hast du wohl nicht erwartet, wie?«, schmunzelte sie.

Tamora drehte sich einmal langsam um ihre Achse und besah sich alles sehr genau. »Nachdem ich schon den Sportwagen bewundern durfte, habe ich mit einigem gerechnet … Ich muss gestehen, Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack«, bemerkte sie lächelnd. »Farblich alles Ton in Ton und dazu diese wundervollen weißen Möbel. Es ist alles so hell. Besonders der farbenfrohe Klecks mit der Sitzgarnitur ist ein fabelhafter Akzent … Gefällt mir, … sehr schön, wirklich!«

»Davon habe ich immer geträumt«, erklärte Violett nicht ohne einen gewissen Stolz.

»Aber das will auch jeden Tag geputzt werden«, warf Tamora ein.

»Hast du keine Reinigungskraft?«, erwiderte sie mit einem verschmitzten Zug um den Lippen.

»Kann ich mir nicht leisten«, gestand Tamora, die, noch immer zögernd, inmitten des Salons stand.

»Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Hier gibt es keinen Zuhälter oder dergleichen, der zuschlägt und dich rauswirft. Falls du davor Angst haben solltest.«

»Nein«, erwiderte sie hastig, auch wenn ihr dergleichen gerade durch den Kopf gegangen war.

Violett schien sich köstlich zu amüsieren. »Wenn mir das mal einer gesagt hätte, dass ich freiwillig eine anständige Frau einlade, also ehrlich, den hätte ich schallend ausgelacht.«

Violetts Lachen wirkte ansteckend und sorgte auf angenehme Weise dafür, dass Tamoras Anspannung nachließ. Diese Prostituierte ist schon eine komische Nudel, dachte sie. In einem Augenblick macht sie auf vornehm und im nächsten hat sie ein loses Mundwerk.

Violett war aus ihren hochhackigen Pumps geschlüpft und hatte sie lässig mit den Zehen in eine Ecke des Raumes befördert. Dann hatte sie sich in einen, der zum rotem ›Big Sofa‹ gehörenden Sessel gesetzt, die Beine angezogen und es sich bequem gemacht.

Wieder einmal betrachtete Tamora Violett eingehend, wie sie sich da so vor ihr räkelte. Sie ist ein bezauberndes Wesen. Alles an ihr ist perfekt. So wie sie, will wohl jede von uns sein, ging es ihr durch den Kopf. Sie ist eine wahrhaft außergewöhnlich schöne Frau. Sie wollte schon eine erste Frage loswerden, die ihr fertig auf der Zunge lag, als sie diese wieder herunterschluckte. Vermutlich wird sie es hassen, wenn ich sie danach frage, wie alles angefangen hat, dachte sie. Ich möchte ja schließlich auch nicht laufend gefragt werden, wie ich das mit dem Romane schreiben mache oder woher ich die Inspiration hernehme und ob ich einmal genau das erleben möchte, was meine weiblichen Figuren in den Geschichten an Sex ausleben.

»Ich werde uns beiden jetzt einen Tee machen … oder möchtest du etwas anderes?« Violett hatte sich erhoben und sah sie lächelnd an.

»Tee wäre nicht schlecht. Kaffee habe ich eben schon bei May bekommen.«

Mit den gleitenden Bewegungen einer Katze verschwand Violett in einem angrenzenden Raum, von dem Tamora vermutete, dass sich dort die Küche befand. Es ist einfach eine Freude, ihr zuzusehen, dachte sie. Sie weiß genau um ihre Reize. Es besteht kein Zweifel, dass sie Männer wie ein Magnet förmlich nur so anzieht. »Darf ich mir alles ansehen?«, erkundigte sich Tamora bei ihrer Gastgeberin.

»Ja, mach du mal«, kam es fröhlich aus dem Nebenzimmer zurück.

Der ungewöhnlich große Flachbildschirm fiel Tamora sofort ins Auge und auch der wundervolle Sekretär im ›Vintage-Look‹. Was sie aber weitaus mehr faszinierte, war das wertvolle Porzellan in einer Anrichte im Landhausstil. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sicher, ich habe auch schon über recht erfolgreiche Huren geschrieben, doch kennengelernt habe ich noch keine. Dann entdeckte sie Bücher und ihre Augen flogen über die Rücken. Neben Lyrik von Elizabeth Browning, Gerard Hopkins, Christina Rossetti und Alfred Tennyson, standen Dramen von Henry Jones, Arthur Pinero und Oscar Wilde. Es folgte Epik von Thomas Hardy, den Bronte-Schwestern, Charles Dickens, Elizabeth Gaskell und William Thakeray. Eine komplette Shakespeare-Ausgabe fand sich neben Bänden von Tolstois ›Anna Karenina› und ›Krieg und Frieden‹. Es war eine Auswahl, wie sie Tamora bei einer Frau wie Violett niemals erwartet hätte. Behutsam hatte sie eine Erstausgabe von Edgar Allan Poes ›Aventures d’Arthur Gordon Pym‹ in französischer Übersetzung von Charles Baudelaire in die Hand genommen und blätterte in Gedanken versunken darin.

»Ja, man mag es kaum glauben, aber ich kann sogar lesen und habe es auch getan«, bemerkte Violett fast trotzig. Ohne dass es Tamora bemerkt hatte, war sie in den Salon zurückgekehrt, »sogar auf Französisch.« Sie kam auf Tamora zu und nahm ihr das Buch aus den Händen. »Ah, der Albatros. Das mag ich ganz besonders … Souvent, pour s'amuser, les homme d'equipage prennent des albatros, vastes oiseaux des mers, qui suivent, indolents compagnons de voyage, le navire glissant sur les goufres amers.« Sie klappte das Buch zu und stellte es zurück. »Oft zum Zeitvertreib fangen die Seeleute sich Albatrosse ein, jene mächtigen Meervögel, die als lässige Reisegefährten dem Schiffe folgen, wie es auf bitteren Abgründen seine Bahn zieht.«

»Du musst mir nichts beweisen«, meinte Tamora betreten. »Ich habe das nie behauptet. Ich staune halt nur über die ungewöhnliche Zusammenstellung.«

»Und dennoch hast du mir das alles nicht zugetraut, weil ich aus ganz einfachem Hause komme! … Ist doch so, oder?«

»Es ist eben sehr ungewöhnlich«, gestand Tamora und nickte. »In einem Roman würden es meine Leser als überzogen betrachten … völlig an ihrer vermeintlichen Realität vorbei.«

»Ich bin dir nicht böse«, erwiderte Violett. »Auf den überwiegenden Teil von uns, trifft es ja auch zu … Aber so wie die, wollte ich nie sein.« In ihren Augen funkelte es. »Wenn meine alten Herrschaften das alles jetzt sehen könnten, sie würden es nicht für möglich halten. Ich habe es geschafft, … bin ganz oben. Alles ist bar bezahlt, auch die Wohnung, der Sportwagen … und Bildung habe ich mir auch beigebracht. Du glaubst gar nicht, wie oft ich dadurch lukrative Aufträge bekomme … Escort-Service für hohe Tiere, wenn sie in London verweilen.«

»Ihre Eltern sind tot?«, erkundigte sich Tamora zögernd.

»Wir sollten nicht so förmlich sein, meinst du nicht auch? Das machen sogar die Beamten von der ›Metro Police‹«, schlug Violett vor, ohne die Frage zu beantworten.

»Gern. Ich wollte nur nicht unhöflich sein«, entschuldigte sich Tamora.

»Du bist schon recht eigenartig«, schmunzelte die junge Prostituierte. Dann huschte sie barfüßig in die Küche zurück, holte Geschirr und brachte den Tee. »Also …«, begann sie, während sie einschenkte, »du bist gekommen, um mich auszuquetschen. Nun, … dann lass uns doch gleich damit anfangen.« Sie lächelte Tamora herausfordernd an. »Aber … ich will im Gegenzug auch etwas von dir wissen, klar?«

Tamora erwiderte ihr Lächeln und setzte sich in den freien Sessel.

»Ich mache es dir leicht«, fing Violett an und nippte einmal kurz an dem noch sehr heißen Tee. »Um mal mit meinen Eltern anzufangen: Nein, die sind noch nicht tot. Das wäre mir wohl kaum entgangen. Allerdings bin ich nicht so blond ihnen meine Adresse zu geben. Die würden wie Schmarotzer meine Wohnung belagern. Mein Vater ist Alkoholiker, … laufend betrunken, und das Milieu, in dem er lebt, kannst du dir ja ausmalen.« Sie warf Tamora einen forschenden Blick zu. »Das passt vermutlich genau in dein Bild, oder?«

Tamora zuckte unbeholfen die Achseln.

»Wie auch immer«, fuhr Violett direkt fort. »Es ist ja nicht nur mein Vater, der säuft, meine Mutter tut es ihm gleich. Und natürlich gehen beide auch nicht arbeiten. Sie lassen sich von der Fürsorge aushalten.« Sie strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »So wollte ich nicht leben und deshalb habe ich mich zeitig auf die Socken gemacht. Kannst du das verstehen?«

Tamora nickte. »Waren deine Eltern denn schon immer so?«, wollte sie wissen.

Violett schüttelte ihre langes rotes Engelshaar. Sie hatte ihre wohlgeformten Beine jetzt auf dem Sofa ausgestreckt und lehnte sich entspannt gegen das Polster. Offensichtlich machte es ihr nichts aus, dass ihr teures Kleid dabei zerknautschte und Tamora einen recht freizügigen Einblick gewährte.

»Nein. Sie haben nicht immer in einer Absteige am Rande der Gesellschaft gelebt. Inzwischen ist die Wohngegend zu einem echten Getto verkommen, wo keiner mehr rauskommt und erst recht keiner hinwill. Wer dort einmal gelandet ist, wird von der Allgemeinheit vergessen. Und verdammt, niemand sollte jemanden vergessen … keiner sollte das!«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Im Leben kann jeder abstürzen, aus welchem Grund auch immer, und viele schaffen es eben nicht aus eigener Kraft wieder auf die Füße zu kommen!« Violett hatte sich so darüber erregt, dass sie eine Weile kein Wort mehr herausbrachte. Sie erhob sich, ging zur Anrichte, holte Zigaretten aus einer Schublade hervor und bot Tamora eine an, die dankend ablehnte. »Meine Eltern waren einfach zu schwach. Mein Vater ist gelernter Schlosser und meine Mutter, … die wollte immer hoch hinaus. War schon ein echter Spleen bei ihr. Ich kann das vielleicht schlecht erklären, aber sie strebte einfach nach mehr, … mehr als eben erreichbar für sie war«, erzählte Violett. »Ihr ging es immer darum mehr als die Nachbarn, Freunde und Verwandten zu haben. Mein Vater muss sich dafür tot geschuftet haben, um all ihre Wünsche zu befriedigen. Vielleicht wäre ja auch alles gut gegangen, aber plötzlich kamen sie nicht mehr klar, und dann passte auch so einiges Anderes nicht mehr in den Rahmen.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und klopfte etwas Asche ab. »Sie konnten nämlich den Kindersegen nicht verhindern.«

Tamora schaffte es nicht sich ein leichtes Schmunzeln zu verkneifen.

»Ja, da schmunzelst du, aber das stimmt wirklich. Das Thema Verhütung haben die beiden anscheinend nie richtig verstanden, dafür waren sie offensichtlich zu doof. Keine Ahnung, was daran so kompliziert ist.« Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und versuchte den Rauch zu einem Kringel zu formen. »Als sie dann vier von uns hatten, reichte das Geld vorn und hinten nicht mehr. Sie begannen auf Raten zu kaufen, kamen ihren Verpflichtungen nicht mehr nach und nahmen Nebenjobs an. Hat aber alles nichts gebracht. Mein Vater zog sich von der Familie zurück, reagierte ansonsten recht aggressiv und wir Kinder hatten nie einen Penny Taschengeld. Wer Geld von ihm zu bekommen hatte, ließ direkt pfänden. Das hat ihn fix und fertig gemacht. Tja, … und dann fing er eines Tages mit dem Trinken an. In gewisser Weise kann ich ihn sogar verstehen. Er hat sich sein Leben ganz sicher auch anders vorgestellt.« Violett drückte ihre Zigarette aus und nahm einen Schluck Tee. Dann fuhr sie fort und erzählte Tamora, wie sich die Trinkerei ihres Vater zunehmend verschlimmert hatte und von den immer häufigeren, handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen ihm und ihrer Mutter. Erst noch im Haus, vor den Blicken der Nachbarschaft verborgen, später dann sogar in aller Öffentlichkeit auf der Straße. Irgendwann war es zur Kündigung der Wohnung gekommen, weil sich die Mietrückstände zu einer beachtlichen Summe aufgetürmt hatten. Niemand hatte Mitgefühl für die abgewirtschaftete Familie mit vier Kindern gezeigt, deren Mutter zu diesem Zeitpunkt obendrein in anderen Umständen war. Ihre Stimme hatte einen traurigen und verbitterten Klang angenommen. »Man hat uns daraufhin irgendwo untergebracht. Damit hatte der endgültige Abstieg begonnen, in eine Sackgasse, aus der es keine Rückkehr mehr gab, weil sich niemand wirklich die Mühe machte, die Ärmel hochzukrempeln, um bei einer Schuldensanierung oder Ähnlichem zu helfen.« Sie griff erneut zu den Zigaretten. »Vielleicht hätten es meine Eltern noch schaffen können«, sagte sie leise, »aber nichts passierte … Mir selbst wurde die Kindheit gestohlen. Ich musste die Verantwortung für meine jüngeren Geschwister übernehmen. Zeit für Schule und Hausaufgaben hat es kaum gegeben. Mit dem Abstieg musste ich auch die Schule wechseln. Glaube nur nicht, dass ich dort Anschluss gefunden hätte. Ganz im Gegenteil … ich war den Übergriffen meiner Mitschüler ausgesetzt.« Ihre Stimme bebte ein wenig, als sie eingestand, dass sie insbesondere die psychische Gewalt als extrem schlimm empfunden hatte. »All, das kümmert mich schon lange nicht mehr«, erklärte sie und ihre Stimme hatte wieder einen festen Klang. »Ich will dir was sagen: Wenn ich lese, dass man Kinder heute laufend zu Psychologen schleppt, weil sie sonst einen Schaden für das Leben davontragen könnten, dann frage ich mich, warum für mich nie einer dagewesen ist?« Sie nahm einen Schluck Tee. »Bei uns hieß es nur, zeig endlich mal Ellenbogen, fang an dich zu wehren. Nicht gerade einfach für ein Mädchen, meinst du nicht auch? Und wenn man nicht fein mit der Meute heulte, dann war man gleich der Außenseiter. Man wurde förmlich dazu gemacht. … Nur immer schön Pfötchen geben, alles mitmachen, dann war man für die anderen in Ordnung. Dann waren sie stolz auf dich. Aber in Wirklichkeit waren es doch alles nur Schleimscheißer, Drückeberger, die längst ihr Rückgrat verloren hatten.« Inzwischen hatte sie aufgeraucht und drückte den Stummel ihrer Zigarette im Aschenbecher aus. »Es kotzt mich einfach an, wenn ich das höre.«

 

»Und was hast du gemacht?«, fragte Tamora.

»Ich habe natürlich aufgemuckt! Habe geschrien und gefragt, wie ich das alles unter einen Hut bekommen soll? Das mit meinen Geschwistern, die mich gehasst haben, weil ich Mutter und Vater ersetzen sollte, oder mit meinen Eltern, die mich zum Diebstahl angehalten haben! Meinem damaligen Lehrer ist förmlich die Kinnlade heruntergefallen!« Sie lächelte gequält. »Gleich am nächsten Tag kamen auch schon Beschwerden … Ja, du hörst richtig … man beschwerte sich über mich! Anstatt, dass sich der Lehrer mal Gedanken gemacht hätte, wie er mir helfen könnte, hat er sich an meine Eltern gewandt: ich sei für die Klasse untragbar geworden und würde die Atmosphäre vergiften!« Violett hatte sich aufgesetzt und goss sich etwas Tee nach. »Tja, so ist das eben mit der Chancengleichheit! Ich wurde zum Prinzipal gerufen und es wurde mir nahegelegt die Schule zu verlassen.« Violett lächelte Tamora an, griff ein weiteres Mal zum Päckchen Zigaretten und zündete sich erneut eine an. Ein verbittertes Lachen kam ihr über die Lippen. Es war unverkennbar, wie sehr sie die Erinnerungen an ihre Vergangenheit aufwühlten. »Schulpflicht!«, meinte sie bissig. »Den Gefallen habe ich ihnen aber nicht getan. Ich sollte die Schule abbrechen. Gehustet habe ich denen was! Jeden Tag bin ich brav hingegangen, obwohl mich mein Vater deswegen regelmäßig geprügelt hat, denn der wollte, dass ich arbeiten gehe, um die Familie zu unterstützen. Ich sollte putzen oder als Packerin ans Fließband.«

Tamora nahm einen Schluck von ihrem Tee. Einerseits wollte sie Violett einige Fragen stellen, andererseits aber auch nicht unterbrechen und so hörte sie ihr einfach nur aufmerksam zu.

»Jedenfalls habe ich alle zur Weißglut gebracht, wenngleich ich dabei nicht mehr viel gelernt habe. Ich war allen einen Dorn im Auge, ein echtes Ärgernis, und das bin ich sicher heute noch … Aber zumindest habe Rückgrat. Ich habe gelernt zu kämpfen und mich zur Wehr zu setzen … Wenn mich das Leben in diesem beschissenen Sumpf etwas gelehrt hat, dann das!«

Dann bist du eine der wenigen Huren, die sich das bewahrt haben, dachte Tamora spontan. In der Regel lehnen sie sich ja nicht mehr auf, wenn man ihnen das Rückgrat erst einmal gebrochen hat.

»Na ja«, sinnierte Violett weiter, »ich habe jedenfalls keinen Bock mehr auf meine Eltern und dieses heruntergekommene Viertel. Ich denke, das kannst du nachvollziehen, oder?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Tamora. Sie wusste jetzt zwar einiges über Violetts Wurzeln, aber noch lange nichts über deren Leben, das sie als Prostituierte führte. Und schon gar nicht darüber, wie es überhaupt dazu gekommen war.

»Wie ist das mit deinen Geschwistern?«, hakte sie nach.

»Ich habe keine Ahnung, was die machen. Es interessiert mich auch nicht wirklich, wenn ich ehrlich sein soll. Ich bin einfach heilfroh, wenn ich von denen keinen sehen muss.« Violett hatte sich erhoben, war zum Fenster gegangen und sah hinaus. Nach einer kurzen Weile wandte sie sich wieder Tamora zu und betrachtete sie eingehend. »Ich will dir mal was sagen, ich werde es schaffen, verstehst du!«, brach es plötzlich aus ihr heraus. »Das ist mein fester Wille. Ich will nie mehr arm sein. Eines Tages habe ich genug auf die Seite gelegt, dann brauche ich das nicht mehr zu machen und werde jemand sein … Hat Marc Aurel nicht einmal gesagt, dass jeder nur so viel wert ist wie das Ziel seines Strebens?«

»Zumindest würde es zu ihm passen«, erwiderte Tamora, während sich Violett köstlich über die Verblüffung amüsierte, die sich angesichts des Zitats auf Tamoras Gesichtszügen zeigte. »Ich wünsche dir, dass du es schaffst … ganz ehrlich.« Sie dachte dabei an das, was ihr in der letzten Zeit alles passiert war. Nein, gegen das Schicksal kommt man nicht an. »Aber vergiss nicht, dass der Zufall die Vorsehung schnell untergraben kann.«

»Was ist deine Vorbestimmung?«, erkundigte sich Violett lächelnd, wartete aber nicht auf eine Antwort. »Letztlich ist es nur ein Wort. Eines, das ich zum Kotzen finde, um es mal so drastisch auszudrücken. Wir allein sind Schuld an unserer Situation, ganz allein, und nicht das Schicksal. Da geschieht etwas, wir haben für einen Augenblick nicht aufgepasst und schon ist es geschehen. Man muss vorbereitet sein, alles einplanen und sich in Acht nehmen, dann kann einem nichts mehr passieren.«

Tamora wollte etwas entgegnen, kam aber nicht dazu.

»Ich will ja nicht gerade behaupten, als Kind schon gewusst zu haben, was aus mir einmal werden würde. … Soll ich dir einmal sagen, wann ich das erste Mal mit einem Mann geschlafen habe?«

Tamora nickte.

Violett setzte sich wieder, goss abermals Tee nach und griff erneut zum Zigarettenpäckchen. Der Tee schien sie etwas zu beruhigen.

Ich kann es immer noch nicht glauben, ging es Tamora durch den Kopf. Ich sitze in dem vornehmen Salon einer Prostituierten und unterhalte mich ihr. Das wird mir keiner glauben.

»Ich war gerade elf Jahre, als ich in das Viertel kam. Damals meinten alle, an mir etwas Besonderes zu finden. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, was das gewesen sein könnte … schließlich war ich eher schnippisch, vorlaut und recht kess. Vielleicht meinten sie ja das und das ich anders angezogen war. Ich lief nicht so verdreckt herum, während die anderen Mädchen immer irgendwie schmuddelig aussahen.« Sie sog wieder an ihrer Zigarette und klopfte etwas Asche in die Kristallschale. »Jedenfalls war ich noch nicht lange dort, als ein baumlanger Bursche auf mich zukam. Ich erinnere mich daran noch sehr genau. Ich stand an einem Schuppen, der sich ganz hinten im Hof befand. Die anderen Mädchen fingen bereits an zu kichern, weil sie schon wussten, was kommen würde. Damals war ich noch echt bescheuert und hatte keine Ahnung.« Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und zog die Beine an ihren Körper. »Der Junge, den Namen habe ich vergessen, meinte dann plötzlich, ob ich schon mal oder ob eben noch nicht. Ein paar von den Mädchen kreischten und machten darüber lustig, dass ich ja gar nicht wüsste, wo es lang ginge und der Bursche fragte, ob ich mir denn damit noch keine Knete verdient hätte. Mir war das richtig peinlich und ich fühlte mich echt schlecht.« Um ihre Lippen zuckte es leicht. »Er kam dann später noch einmal auf mich zu und meinte, er hätte jetzt echt Bock auf mich. Ich sei ja so anders und er wolle mich einmal ausprobieren. Er stand dabei ganz dicht vor mir und wollte mich in den Schuppen stoßen. Ich dachte, der wird mich jeden Augenblick verprügeln, wurde wütend und versuchte mich verzweifelt zu wehren. Die Mädchen waren auch wieder da und kreischten vor Vergnügen. Ich weiß noch, dass eine schrie, sie hätten ihm doch gleich gesagt, dass ich noch ein Baby sei und von einem richtigen Fick nichts wüsste.«

Tamora stellte ihre leere Teetasse vor sich auf den Tisch und schenkte sich aus der Kanne nach. Aufmerksam lauschte sie jedem Wort und nickte Violett von Zeit zu Zeit auffordernd zu, doch weiterzuerzählen.

»Der Bursche war kräftig und schien auch mit denen machen zu können, was er wollte. Ich wusste damals jedenfalls nicht wirklich, was er von mir wollte. Auch war ich viel zu schwach, um mich lange gegen ihn aufzulehnen.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Als er mich im Schuppen hatte, jagte er die Meute vom Fenster und kam wieder auf mich zu. Ich stand stocksteif an der Wand. Dann hob er langsam meinen Rock hoch und grinste mich an. Mir war das alles furchtbar peinlich. Ganz plötzlich war er dann mit seiner Hand in meinem Slip und mir wurde ganz anders ... Da war ein eigenartiges, fremdes Gefühl. Er hat nur gelacht und gemeint, ich sei ja wirklich noch völlig ungebraucht und ich solle mich auf der Stelle hinlegen, weil er sehen wolle, ob er mit mir etwas anfangen könne. Meine Knie waren ganz weich. Ich überlegte wegzulaufen, aber damit hätte ich mich zu Gespött der anderen gemacht und irgendwie wollte ich auch gar nicht, dass er aufhört.«