Internationales Privatrecht

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II. Interpersonale Rechtsspaltung

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Rechtsordnungen, die nach Bevölkerungsgruppen unterscheiden, finden sich zahlreich in Asien und Afrika. Solche interpersonalen Rechtsspaltungen beziehen sich durchgehend nur auf das Personen-, Familien- und Erbrecht (sog „Personalstatut“, dazu Rn 190 ff). Unterscheidungskriterium ist häufig die Religionszugehörigkeit, im südlichen Afrika die Stammeszugehörigkeit. Die sich hieraus ergebenden Kollisionen werden durch interpersonales Kollisionsrecht gelöst, wobei dessen Prinzipien bei Religions- oder Stammesverschiedenheit häufig auf den Vorrang eines Familienoberhauptes abstellen.

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Interreligiös gespalten ist das Personalstatut in den vorwiegend islamischen Staaten Nordafrikas (zB Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Ägypten), des Nahen Ostens[4] (Libanon, Jordanien, Syrien, Irak, Saudi-Arabien, Yemen, VAE, Oman) und Asiens (Iran, Pakistan, Bangladesch, Indonesien) sowie in Indien und Israel. Interethnisch gespalten ist das Personen-, Familien- und Erbrecht verbreitet im mittleren südlichen Afrika, zB in Gambia, Kenia, beide Kongo, Mosambik, Botswana, Simbabwe, wobei teilweise trotz staatlicher Gesetze faktisch gewohnheitsrechtliche Spaltung vorherrscht. Interreligiöse und interethnische Spaltung findet sich im Sudan. Häufig ist das gespaltene materielle Recht unkodifiziert; einige Staaten des Islamischen Rechtskreises haben jedoch das auf den muslimischen Bevölkerungsteil anwendbare Recht kodifiziert und sich dabei auf bestimmte konfessionelle Besonderheiten festgelegt (zB Iran, Ägypten, Syrien) oder das religiöse Recht teilweise reformiert (zB Iran, Tunesien). In ehemals kolonialen Staaten mit interpersonaler Rechtsspaltung finden sich noch heute fortgeltende koloniale Rechtssetzungsakte mit spezifischer Geltung für Europäer bzw Christen (zB Pakistan und Indien, wo die britische Kolonialmacht auch für die muslimische Bevölkerung Verfahrensbestimmungen zum Eherecht erlassen hat).

Literatur:

Eingehende Länderberichte in Bergmann/Ferid/Henrich Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht (Loseblatt); kurze Länderberichte in Staudinger/Hausmann (2013) Anhang 1 ff zu Art. 4 EGBGB; Elwan/Menhofer/Otto Gutachten zum ausländischen Familien- und Erbrecht, Naher und Mittlerer Osten, Afrika und Asien (2005).

III. Intertemporale Kollisionen

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Werden in einer Rechtsordnung einzelne geltende Normen durch neue ersetzt, das Recht also zu einem bestimmten Zeitpunkt geändert, so stellt sich die Frage, welche Tatbestände nach den alten und welche nach den neuen Vorschriften zu behandeln sind. Dieses Problem ergibt sich in allen Rechtsbereichen und tritt bei Sachverhalten mit Auslandsbezug sowohl im Kollisionsrecht als auch im materiellen Recht auf. Im selben Sachverhalt können intertemporale Fragen im eigenen und im ausländischen Recht vorkommen, was die Lösung von Fällen in der Praxis komplex werden lässt. Diese Frage wird durch intertemporales Kollisionsrecht oder Übergangsrecht entschieden, wobei in jüngerer Zeit zunehmend gesetzgeberische Rechtsreformen in hochentwickelten Rechtssystemen von ausdrücklichen Übergangsbestimmungen begleitet werden.

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Im deutschen Recht finden sich Übergangsbestimmungen bei kleineren Gesetzesänderungen häufig nur in einem der letzten Artikel des jeweiligen Reformgesetzes. Bei größeren Reformen werden wieder (vgl Art. 64 ff zum Inkrafttreten des BGB 1900) zunehmend intertemporale Bestimmungen im EGBGB, nun in Art. 219 ff aufgenommen (Art. 220 zum Inkrafttreten der Neuregelung des IPR 1986; Art. 230 ff zum Inkrafttreten des BGB im Beitrittsgebiet).

Teil I IPR: Grundlagen › § 1 Einführung und Abgrenzung › C. Geschichte des IPR

C. Geschichte des IPR

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Ein knapper geschichtlicher Überblick kann verdeutlichen, dass die heute in Europa gründlich fundierte Theorie des Internationalen Privatrechts auf lange Phasen zurückblickt, während derer die Problemstellung aufeinander treffender Privatrechtsordnungen kaum erkannt, geschweige denn in ähnlicher Vollständigkeit wie heute diskutiert wurde. Die Geschichte des IPR der Neuzeit zeigt aber auch, dass im IPR stärker als in anderen Rechtsgebieten noch heute fundamentale Prinzipiendiskussionen, die angesichts der Europäisierung des IPR neues Gewicht erlangen,[5] teilweise unmittelbar aus geschichtlichen Entwicklungen gewachsen sind, auch wenn sie sich im rechtspolitischen Gewand präsentieren. Da niemand daran denken wird, heutige kollisionsrechtliche Probleme mit historischen Ansätzen zu lösen, geht es nur um die Erkenntnis der Herkunft von heute noch diskutierten Prinzipien. So verstanden will der hier vorgestellte Überblick vor allem eine Grundlage für die sehr wertvolle Rechtsvergleichung (zur Funktion der Rechtsvergleichung Rn 141 ff) im Bereich des geltenden IPR moderner Staaten sein.

I. Antike

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1. In den Stadtstaaten Griechenlands war die Rechtsanwendung zunächst auf das jeweilige Gemeinwesen beschränkt. Zwischen Griechen verschiedener Städte fehlte es am Bedürfnis nach IPR, da die Privatrechte sehr ähnlich waren. Da Fremde regelmäßig einen minderen Status einnahmen oder gar rechtlos waren, ergab sich kein Bedarf, auf sie ein anderes Recht anzuwenden. In heutigem Verständnis folgt daraus das einfache kollisionsrechtliche Prinzip der Anwendung der lex fori: Das Gericht wendet auf einen Fall, den es zu entscheiden hat, sein Recht an.

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2. Erst fortschreitende Beziehungen von Rechtsträgern, also Bürgern dieser Stadtstaaten, zu fremden Ländern ließen das Bedürfnis entstehen, das am Ort geltende Recht von der Person des Beteiligten zu trennen. Hieraus entstand der Gedanke, dass die Person ihr eigenes Recht mit sich trage, der sich allerdings nur dort durchsetzen kann, wo ein Gericht bereit ist, diesem Personalitätsprinzip zu folgen. Dies führte zur Schaffung eigener griechischer Gerichte in den griechischen Kolonien, deren Zuständigkeit personal auf Griechen beschränkt war. Materiell-rechtlich war man dort bestrebt, gemeinsame Grundsätze griechischen Rechts zwischen Bürgern verschiedener griechischer Städte anzuwenden. Das – als barbarisch verstandene – örtliche Recht war den einheimischen Gerichten vorbehalten – eine Haltung, die übrigens Jahrhunderte später auch die britische Kolonialpolitik prägte.

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3. Im römischen Recht tritt erstmals der Gedanke einer Anwendung verschiedener Rechtsordnungen auf Bürger und Fremde auf. Das auf Fremde und auf Rechtsbeziehungen von Römern mit Fremden anwendbare ius gentium (lat. Recht der Völker) war freilich eine Sammlung von Rechtsgrundsätzen des römischen Rechts, welche die Römer für Gemeingut aller Völker hielten.

II. Frühes Mittelalter

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1. Die Völkerwanderung führte auf der Alpensüdseite zur Gründung von unabhängigen Staaten auf dem Gebiet des römischen Reiches durch germanische Eroberer, in denen auf Untertanen römischer Herkunft anderes Recht (römisches bzw am römischen Recht orientiertes) angewendet wurde als auf die Germanen. Diese hatten wiederum unterschiedliche Rechtsordnungen aus ihren Ursprungsstämmen mitgebracht. Die dadurch entstehenden Kollisionen wurden nach dem Personalitätsprinzip (vgl Rn 20) gelöst; jeder konnte in allen Rechtssachen beanspruchen, nach seinem angeborenen (Heimat-) Recht behandelt zu werden. Welches Recht dies war, wurde durch eine in Urkunden oder zu Prozessbeginn abgegebene professio iuris (lat. Bekenntnis des Rechts) durch den Betroffenen bestimmt, was eine nahezu freie Rechtswahl bedeuten konnte.

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Das warf Probleme auf, wenn Personen verschiedener Stammeszuordnung in dasselbe Rechtsgeschäft verwickelt waren. Dies galt schon für Vertragsschlüsse, insbesondere aber in familienrechtlichen Beziehungen. In römischer Zeit prägt sich hierbei ein Mannesvorrang aus: Ein Römer, der eine Germanin heiratet, macht sie zur Römerin, so dass römisches Recht anwendbar ist. Andererseits zeigen sich bereits gewisse Zugeständnisse hinsichtlich der Form eines Rechtsgeschäfts. Eheschließung zwischen Angehörigen verschiedener Stämme wird alternativ nach dem Recht eines der beiden Stämme beurteilt.

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2. Mit zunehmender Vermischung der Bevölkerung war dieses hohe Maß an Personalität im Kollisionsrecht (das weit über den Rahmen des Personalstatuts hinausging) nicht mehr zu verwirklichen; es wurde ersetzt durch den Grundsatz der Territorialität des Rechts. Nur Personen, die sich zumindest seit (einem) Jahr und (einem) Tag in einem Territorium aufhielten, waren der dortigen Rechtsprechung und dem dortigen Recht unterworfen. Teilweise entstanden in einigen germanischen Städten Gastgerichte für Rechtsstreitigkeiten mit Beteiligung von Fremden.

 

III. Hochmittelalter: Statutenlehre

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1. Die hierdurch bewirkte enge Verknüpfung von gerichtlicher Zuständigkeit und anwendbarem Recht musste zu Konflikten führen angesichts zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung und der großen Zahl von Stadtstaaten mit jeweils unterschiedlichen Gesetzen (lat. statuta). Anders als im modernen IPR wurde jedoch nicht die Frage gestellt, welchen Staates Recht einen Sachverhalt beherrscht. Es wurde danach unterschieden, welche statuta eines bestimmten Staates geeignet waren, auch auf Personen Anwendung zu finden, die nicht Untertanen dieses Staates waren.

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2. Die nach diesem Ansatz benannte Statutenlehre entwickelte sich zwischen dem 12. und dem frühen 19. Jahrhundert in unterschiedlich orientierten theoretischen Ansätzen.

a) Die Glossatoren, also die Interpreten des Corpus Iuris folgerten aus Codex 1,1,1 des Codex Iustiniani – wonach alle Völker, welche der römischen Herrschaft unterstehen, der katholischen Religion und ihrem Recht angehören sollen – den Grundsatz, dass nur die Untertanen dem Recht des jeweiligen Staates unterstehen. Nicht-Untertanen wurden durch diese Regeln davor bewahrt, nach der lex fori behandelt zu werden. Die lex fori galt für den Prozess, die lex rei sitae (lat. Recht der belegenen Sache) für Sachen; personenbezogene Gesetze galten nur für die Bürger der jeweiligen Stadt.

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b) Den langfristig am deutlichsten prägenden Einfluss sollten die sog Kommentatoren oder Postglossatoren (darunter der Bologneser Professor Bartolus de Sassoferrato und sein Schüler Baldus de Ubaldis) haben, die um 1350 die Statuten erstmals klassifizierten in statuta personalia, realia und mixta (lat. persönliche, dingliche und gemischte Gesetze).


Statuta personalia sind solche, welche auf die Person bezogen sind und sich nach deren Herkunftsrecht beurteilen. Hierzu zählt das Personenrecht, aber auch das Mobiliarsachenrecht, das auf die Person des Besitzers bezogen wurde.
Statuta realia sind rein sachbezogen und beurteilen sich nach dem Belegenheitsrecht; hierzu rechnet das Immobiliarsachenrecht.
Statuta mixta sind alle sonstigen Normen. Hierzu gehören familienrechtliche Normen mit hoheitlichem Einschlag (zB die Legitimation durch den Landesherrn), die territorial behandelt wurden; aber auch schuldrechtliche Geschäfte wie Vertragsschlüsse und deliktische Handlungen, für die das Recht des Handlungsortes galt.

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3. Spätere Anhänger der Statutenlehre in Frankreich (Charles Dumoulin und Bertrand d’Argentré, 16. Jhdt.) verfeinerten die Klassifizierung der Statuten, wandelten zum Teil ihre „Anknüpfungskriterien“ (zB bei statuta personalia von der Herkunft hin zum domicile der Person). Andere in den Niederlanden (Paul und Johannes Voet, Ulrich Huber, 17. Jhdt.) suchten nach tragfähigeren Begründungen für die Statutenlehre in der Reichweite der Souveränität des die Statuten setzenden Staates. Zum ersten Mal taucht dabei im Werk von Ulrich Huber ein Gedanke auf, der noch bis in das 20. Jahrhundert hinein als Rechtfertigung für die Anwendung ausländischen Privatrechts überhaupt wirken sollte: Die comitas gentium (lat. Gemeinsamkeit der Völker) lege es nahe, fremde statuta im eigenen Land durchzusetzen, soweit dies der eigenen Souveränität nicht abträglich sei.

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4. Das Ende der Statutenlehre wird allgemein Carl Georg von Wächter zugeschrieben, der in den Jahren 1841/1842 im 24. und 25. Band des AcP die Nachteile der Statutenlehre deutlich machte; seine im selben Band veröffentlichten kollisionsrechtlichen Alternativen liefen freilich auf einen Rückschritt zum Territorialitätsprinzip und damit zur lex fori hinaus und wurden in der Wissenschaft nicht angenommen.

IV. 19. Jahrhundert: Comity of nations, der Sitz des Rechtsverhältnisses und das Nationalitätsprinzip

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1. Das IPR des 19. Jahrhunderts ist geprägt durch die Ideen dreier Juristen, die bis heute die Basis der IPR-Dogmatik im kontinentaleuropäischen Raum einerseits und im angelsächsischen Rechtskreis andererseits ausmachen: der Amerikaner Joseph Story, der Deutsche Friedrich Carl von Savigny und der Italiener Pasquale Stanislao Mancini.

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2. Story griff den Huber’schen Gedanken der comitas gentium auf und entwickelte ihn als comity of nations zur Grundlage seines IPR-Ansatzes. Obgleich er noch nicht die elementare Wende der kollisionsrechtlichen Fragestellung bewirkte, ordnete er die von ihm untersuchte kollisionsrechtliche Rechtsprechung nicht mehr nach Statuten, sondern nach Gegenständen, wie dies im heutigen IPR gebräuchlich ist.

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3. V. Savigny, dessen vollständige Umorientierung der Kollisionsfrage in seinem 1849 erschienenen System des heutigen Römischen Rechts (Bd. VIII) gerne als „kopernikanische Wende des IPR“ tituliert wird, formulierte erstmals die moderne Fragestellung, die heute unstreitig das IPR beherrscht: Wo ist der Sitz des einzelnen Rechtsverhältnisses? Seit v. Savigny geht es nicht mehr um die Klassifizierung des Geltungsbereichs von Statuten, also Gesetzen, sondern um die Lokalisierung eines Lebenssachverhaltes in einer bestimmten Rechtsordnung.

Wenn heute im IPR von „Statut“ gesprochen wird, bedeutet dies nicht mehr „Gesetz“. Gemeint ist vielmehr die Rechtsordnung, welche für den jeweiligen Sachverhalt maßgeblich ist. „Erbstatut“ ist das auf einen Erbfall anwendbare Recht, also das Ergebnis der Suche nach dem anwendbaren Recht mithilfe der das Erbrecht betreffenden Normen des IPR.

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Die durch v. Savigny ausgelöste theoretische Kehrtwende des IPR musste nicht notwendig zu anderen praktischen Ergebnissen führen. Sie verband sich jedoch mit der von Story übernommenen comitas gentium; die geänderte Fragestellung nach dem Sitz, dem Schwerpunkt oder der Natur des Rechtsverhältnisses erlaubte eine wesentlich stärker gleichberechtigte Anwendung eigenen und fremden Rechts als die unter der Statutenlehre geübte hoheitliche Orientierung am Geltungsanspruch der eigenen – naturgemäß als angemessen empfundenen – Gesetze.

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4. Nicht entschieden war damit die bis heute jede Reform des IPR am heftigsten bewegende Frage, wo das einzelne Rechtsverhältnis seinen Sitz hat, welche Rechtsordnung ihm am angemessensten ist. Während Story und v. Savigny den Schwerpunkt – vor allem personen- und familienrechtlicher Verhältnisse – am Domizil des Betroffenen sahen, entwickelte Mancini 1851 den Gedanken der Nationalität als Grundlage des Völkerrechts, den er später auch auf das IPR übertrug. Er wurde damit zum Begründer des Staatsangehörigkeitsprinzips, das mit vielen modernen, an kollisionsrechtlichen Interessenwertungen orientierten Einschränkungen das IPR in Mittel-, Süd- und Osteuropa sowie in weiten Teilen Lateinamerikas beherrscht. Die Gegenströmung, das Domizilprinzip, hat sich vor allem im angelsächsischen Rechtskreis erhalten. Die gegenwärtige Diskussion der geeigneten Anknüpfung des jeweiligen Rechtsverhältnisses wird jenseits dieser Grundprinzipien stark geprägt durch die Gewichtung der beteiligten Interessen (vgl Rn 46 ff) und verfassungsrechtliche Notwendigkeiten. Beides führt zunehmend zu einer Lockerung des Staatsangehörigkeitsgrundsatzes. Hinzu kommen in jüngster Zeit europarechtliche Entwicklungen, die weniger von Prinzipien als von der Suche nach erträglichen Kompromissen geprägt sind.

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Beispiele verfassungsrechtlicher Impulse finden sich in der deutschen Reform des Internationalen Familienrechts 1986, die aus Gründen der Gleichberechtigung von Mann und Frau für alle familienrechtlichen Sachverhalte Hilfsanknüpfungen für den Fall verschiedener Staatsangehörigkeiten der Ehegatten schuf. Interessenwertungen stehen im Vordergrund, wenn im Internationalen Kindschaftsrecht die Staatsangehörigkeit weitgehend dem gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungskriterium weicht (Art. 19 bis 21 idF des Kindschaftsrechtsreformgesetzes seit 1.7.1998 sowie die im KSÜ 1996 (dazu Rn 97) verwirklichte Streichung von Art. 3 Haager Minderjährigenschutzabkommen).

V. Das Jahrhundert der Kodifikationen des IPR

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1. Das IPR nimmt seit der Kodifikation in den italienischen preleggi al codice civile des Jahres 1865, die zugleich die erste Umsetzung der Lehre Mancinis bedeuten, an der das 19. Jahrhundert prägenden Tendenz zu nationalen Kodifikationen teil. Die Nationalisierung des IPR war nicht in gleicher Weise selbstverständliche Konsequenz der nationalstaatlichen Entwicklung, wie dies für das Privatrecht im Übrigen gilt. Gerade Mancini, der Begründer des Staatsangehörigkeitsprinzips, sah nicht im nationalen IPR, sondern im staatsvertraglichen IPR die eine ideale, einheitliche Rechtsanwendung sichernde Lösung. So fällt auch in denselben Zeitraum der Beginn der Bemühungen um eine völkervertragliche Vereinheitlichung des IPR, die seit der ersten Haager Konferenz für IPR (1893) bis heute andauern (vgl Rn 96 ff).

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2. Die erste Kodifikationswelle steht in engem Zusammenhang mit den großen Zivilrechtskodifikationen des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Österreich, dessen ABGB bereits 1811 verabschiedet wurde, an dieser ersten Kodifikationswelle nicht teilnahm und das französische IPR im geschriebenen Recht lange Zeit nur die der Statutenlehre verhaftete Kollisionsnorm des Art. 3 code civil kannte. Berühmte IPR-Kodifikationen dieser Phase schufen neben den genannten italienischen preleggi der spanische código civil von 1889, das deutsche EGBGB von 1896 und das schweizerische Bundesgesetz betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter von 1891.

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3. Eine zweite Kodifikationswelle hat seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in Europa[6] zahlreiche neue IPR-Gesetze gebracht. Dabei ist eine erfreuliche Tendenz zu einer rechtsvergleichend orientierten Diskussion der IPR-Kodifikationen über nationale Grenzen hinweg ebenso zu beobachten, wie ein Einwirken staatsvertraglicher Kollisionsnormen auf Grundprinzipien nationaler Kodifikationen.

Ein hervorstechendes Beispiel rechtsvergleichender IPR-Diskussion ist die erstmals im österreichischen IPR-Gesetz von 1978 verwirklichte Idee einer „Anknüpfungskaskade“ im Eherecht, die das jugoslawische, deutsche und italienische IPR beeinflusst hat. Der schon Ende des 19. Jahrhunderts in Haager Übereinkommen verwendete, im Haager Minderjährigenschutzabkommen von 1956 zum zentralen Anknüpfungsmerkmal fortentwickelte Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ hat seither einen Siegeszug als Alternativanknüpfung in nationalen Kodifikationen angetreten.

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Kodifikationen[7] dieser jüngeren Phase finden sich im portugiesischen código civil von 1966, im österreichischen IPRG von 1978, dem türkischen IPRG von 1982, das 2007 reformiert wurde,[8] dem jugoslawischen IPRG von 1982, der deutschen Reform der Art. 3 ff EGBGB von 1986, dem schweizerischen IPRG von 1989, im rumänischen IPRG von 1992 und dem italienischen IPRG von 1995 sowie dem liechtensteinischen IPRG von 1996.

 

Im romanischen Rechtskreis, wo das französische Mutterrecht noch immer keine umfassende IPR-Kodifikation besitzt,[9] hat Belgien 2004[10] erstmals ein vollständiges IPRG erlassen. Die Niederlande haben seit 1996 das IPR schrittweise kodifiziert[11] und zum 1.1.2012 im 10. Buch des Burgerlijk Wetboek zusammengefasst. Auch Tunesien hat 1998 ein modernes IPRG erlassen.[12]

In Staaten des ehemaligen Ostblocks galten die seit den 1960er Jahren erlassenen IPR-Gesetze[13] nach dem politischen Wandel zunächst weiter, nach den Dismembrationen Jugoslawiens[14] und der UdSSR[15] übernahmen zunächst die Nachfolgestaaten das alte IPR mit rechtsstaatlichen Korrekturen; diese Zwischenphase mündete in zahlreiche Neukodifikationen: Neues IPR erließen Estland 1994 im ZGB, Slowenien 1999 im IPRG[16] Weißrussland 1999 im ZGB, Kasachstan 1999, teils im ZGB, teils im FamGB,[17] Armenien 1999 im ZGB,[18] Aserbaidschan 2000 im IPRG,[19] Litauen 2001 im ZGB,[20] Russland 2002 im ZGB,[21] Bulgarien 2005 im IPRG,[22] Mazedonien (FYR) 2007 im IPRG[23] Polen 2011 im IPRG[24], Tschechien 2012 im IPRG[25] und Montenegro 2013 im IPRG;[26] Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina arbeiten an IPR-Gesetzen.[27]

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Mit Ausnahme der Schweiz folgen die mittel-, ost- und südeuropäischen Gesetze im Grundsatz dem Staatsangehörigkeitsprinzip Mancinis; die von v. Savigny eingeleitete Entwicklung zu Kollisionsnormen für bestimmte Lebenssachverhalte (Personenrecht, Ehegüterrecht, Erbrecht etc) ist für alle genannten Kodifikationen selbstverständlich. Teilweise werden in neueren Kodifikationen Südosteuropas (Rumänien, SFRJ-Nachfolger) auch Tendenzen des EU-IPR zum gewöhnlichen Aufenthalt aufgegriffen. Die skandinavischen Staaten und die Reformwelle in den baltischen Staaten tendieren dagegen weiter zum Wohnsitzgrundsatz.

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4. Im angelsächsischen Raum hat das Kollisionsrecht eine eigenständige Entwicklung genommen, die seit Joseph Story zwar nicht mehr – wie in England bis weit in das 18. Jahrhundert hinein – gänzlich der Anwendung fremden Rechts ablehnend gegenübersteht, jedoch weit weniger zur Anwendung ausländischen Rechts führt, als dies in Zentraleuropa unter dem Einfluss v. Savignys, vor allem aber von Mancinis Staatsangehörigkeitsprinzip, der Fall ist. In zahlreichen Varianten haben Kollisionsrechtler (Albert Ehrenzweig, Brainerd Currie, Robert Leflar) in diesem Jahrhundert in den USA flexible Regeln entwickelt, nach denen amerikanische Gerichte ausländisches Privatrecht anwenden. In der grundsätzlichen Skepsis gegenüber den als starr empfundenen Kollisionsnormen der Civil Law-Staaten, vor allem Kontinentaleuropas, schwingt ein wesentliches Grundprinzip des Common Law mit, den Richter nicht durch das Gesetz zu binden, sondern ihm Leitlinien der Abwägung zu geben. Im Grundsatz ist es jedoch, wenngleich mit verschiedenen Begründungen, in vielen Bereichen bei der Anwendung der lex fori geblieben.

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Die Dominanz der lex fori stellt den deutschen Rechtsanwender vor zahlreiche Probleme, die vor allem im Zusammenhang mit der Rückverweisung noch anzusprechen sein werden. Weithin fehlt es am Bewusstsein für die Existenz von Kollisionsnormen, so dass aus Zuständigkeitsregeln auf die Anwendung der lex fori, also mittelbar auf eine Kollisionsnorm geschlossen werden muss.

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Das IPR des Vereinigten Königreichs wurde schließlich teilweise kodifiziert im Contracts (Applicable Law) Act 1990 (entsprechend dem Römischen EWG-Übereinkommen) und im Private International Law Act 1995.

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5. Die ersten 16 Jahre des 21. Jahrhunderts haben eine Welle der Europäisierung des IPR eingeleitet. Nachdem das EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht vom 19.6.1980 (EVÜ, dazu Rn 90) lange Zeit das einzige Rechtsinstrument eines Europäischen IPR (EuIPR) war, wurden das IPR der vertraglichen und außervertraglichen Schuldverhältnisse, das Unterhaltsstatut, das Erbstatut und – nur in Verstärkter Zusammenarbeit nach Art. 329 AEUV und daher räumlich beschränkt – das Scheidungsstatut europarechtlich vereinheitlicht. Die Vereinheitlichung des Güterrechtstatuts in Ehe und ELP für ab dem 29.1.2019 einzugehende Ehen und ELPen zeigt, dass es in manchen Bereichen für geraume Zeit auch zu einem Nebeneinander von nationalem und europarechtlichem IPR kommen kann (zur Entwicklung Rn 91, zu den Verordnungen im Einzelnen bei den jeweiligen Materien).

Literatur:

Jayme Mancini heute – Einige Betrachtungen, FS Zweigert (1981) 145; Gutzwiller Geschichte des Internationalprivatrechts. Von den Anfängen bis zu den großen Privatrechtskodifikationen (1977); Kegel Joseph Story, RabelsZ 43 (1979) 609; ders. Wohnsitz und Belegenheit bei Story und Savigny, RabelsZ 52 (1988) 431; Kropholler Der Einfluß der Haager Übereinkommen auf die deutsche IPR-Kodifikation, RabelsZ 57 (1993) 207; Neuhaus Abschied von Savigny?, RabelsZ 46 (1982) 4; Roth Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung, EWS 2011, 314; Mansel/Thorn/Wagner Europäisches Kollisionsrecht 2012: Voranschreiten des Kodifikationsprozesses – Flickenteppich des Einheitsrechts, IPRax 2013, 1.

Länderberichte: Einen vorzüglichen Überblick über die Grundsätze des IPR in zahlreichen Staaten gibt Staudinger/Hausmann (2013) Anhang 143 ff zu Art. 4 EGBGB. Familienrechtliches IPR in den Länderberichten bei Bergmann/Ferid/Henrich. Erbrechtliches IPR in den Länderberichten bei Ferid/Firsching/Dörner/Hausmann. Ältere Textsammlungen wurden nicht mehr neu aufgelegt, weil ausländische Gesetzestexte im WWW regelmäßig aktueller zu finden sind.

Teil I IPR: Grundlagen › § 1 Einführung und Abgrenzung › D. Interessen im IPR