Internationales Privatrecht

Text
Aus der Reihe: Schwerpunktbereich
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

III. Verkehrsschutz

620

1. Die Anknüpfung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit an das Heimatrecht bedeutet eine Gefahr für den Rechtsverkehr in anderen Staaten. Dritte kennen dort regelmäßig nicht die Bestimmungen des Heimatrechts und vertrauen auf die Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach dem Maßstab des am Ort eines Vertragsschlusses oder sonstiger rechtsrelevanter Handlungen geltenden Rechts. Dieses Vertrauen wird durch Art. 12 geschützt.

621

2. Voraussetzungen sind


eine nach dem Recht des Vertragsschlussortes bestehende Rechts-, Geschäfts- oder Handlungsfähigkeit einer vertragsschließenden natürlichen Person, die nach deren Heimatrecht nicht besteht. Beschränkung der Handlungsfähigkeit kann auch eine familienrechtliche Beschränkung (zB §§ 1365, 1821, 1822 BGB) sein, sofern diese nicht Art. 16 unterfällt (zB § 1357 BGB).
Keine Kenntnis und kein Kennenmüssen (vgl § 122 Abs. 2 BGB: fahrlässige Unkenntnis) der anderen Vertragspartei von diesem Mangel. Das Wissen, dass der Vertragspartner Ausländer ist, bedeutet keine Fahrlässigkeit hinsichtlich solcher Beschränkungen. Die Beweislast für Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis trägt derjenige, der sich auf die eigene mangelnde Fähigkeit beruft.

622

3. Rechtsfolge ist, dass die nach Heimatrecht in ihrer Rechts-, Geschäfts- oder Handlungsfähigkeit beschränkte Person sich darauf insoweit nicht berufen darf, als sie nach dem Recht des Vertragsschlussortes diese Fähigkeit hätte. Es findet ein Günstigkeitsvergleich statt, welche Rechtsordnung das Wirksamkeitsvertrauen des Vertragspartners besser schützt.

Wurde ein vertragsschließender Ausländer nach seinem Heimatrecht entmündigt und weiß der Vertragspartner ohne Fahrlässigkeit hiervon nichts, so greift Art. 12 zwar ein; die Entmündigung wirkt aber wie eine Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 BGB), weil gegen die Anordnung einer solchen Betreuung der inländische Rechtsverkehr auch bei einem deutschen Vertragspartner nicht geschützt wäre bzw dieser sich auch bei nicht fahrlässiger Unkenntnis der anderen Partei auf diesen Einwilligungsvorbehalt berufen dürfte.

623

4. Eine Ausnahme vom Vertrauensschutz nach Art. 12 gilt für familien- und erbrechtliche Geschäfte (Art. 12 S. 2); bei solchen Geschäften gehen die Interessen des in seiner Geschäftsfähigkeit Beschränkten dem Verkehrsschutz vor, es bleibt bei der Anwendung des von Art. 7 berufenen Rechts.

ZB gibt es keinen Vertrauensschutz in die Wirksamkeit eines Ehevertrages oder einer Erbausschlagung, wenn der Erklärende nach seinem Heimatrecht die erforderliche Geschäftsfähigkeit nicht besaß.

624

Dasselbe gilt für Verfügungen über Grundstücke, die in einem anderen Staat belegen sind; dabei ist der Begriff „Verfügung“ ausgehend vom deutschen Verständnis zu qualifizieren. Er erfasst also nur die Belastung, Änderung, Aufhebung oder Übertragung eines Rechts an einem Grundstück, nicht aber die Verpflichtung hierzu.

625

5. Für schuldrechtliche Verträge, die seit dem 17.12.2009 geschlossen werden, gilt nicht Art. 12, sondern Art. 13 Rom-I-VO. Bei Vertragsschluss zwischen Personen, die sich in demselben Staat befinden, kann sich eine natürliche Person nur dann auf ihre sich nach dem Recht eines anderen Staates ergebende Rechts-, Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit berufen, wenn die andere Partei diese bei Vertragsschluss kannte oder fahrlässig nicht kannte. Die Voraussetzungen sind damit identisch zu denen des Art. 12. Das Fehlen des Wortes „insoweit“ in Art. 13 Rom I-VO führt auch auf der Rechtsfolgenseite nicht zu einem von Art. 12 abweichenden Ergebnis; es findet auch unter Art. 13 Rom I-VO ein Günstigkeitsvergleich statt (Rn 622).

Es wird damit auch unter Art. 13 Rom I-VO nicht die Beschränkung der Handlungsfähigkeit nach dem Heimatrecht ausgeblendet, wenn sie in äquivalenter Weise auch im Recht des Abschlusslandes bestehen könnte, wie im Beispiel Rn 623.

IV. Partei- und Prozessfähigkeit (Beteiligten- und Verfahrensfähigkeit)

626

Die Parteifähigkeit, also die Fähigkeit, Aktiv- oder Passivsubjekt eines Prozesses zu sein, sowie die Prozessfähigkeit, also die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst oder durch einen gewillkürten Vertreter vorzunehmen, bestimmen sich nicht unmittelbar nach Art. 7. Teils wird jedoch die Partei- und Prozssfähigkeit vor deutschen Gerichten prozessual qualifiziert, also §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 ZPO angewendet; dort wird an die Rechts- und Geschäftsfähigkeit angeknüpft, was eine Vorfrage bedeutet, die nach dem von Art. 7 berufenen Statut entschieden wird. Nach hM besteht dagegen eine eigenständige prozessuale Kollisionsnorm, wonach die Partei- und Prozessfähigkeit dem Prozessrecht des Personalstatuts der betreffenden Partei untersteht; partei- und prozessfähig ist, wer dies nach dem Verfahrensrecht seines Heimatstaates ist.[4] Zu einer Vorfragenanknüpfung an das Statut nach Art. 7 kommt es dann, wenn jenes Verfahrensrecht die Parteifähigkeit an die Rechtsfähigkeit oder die Prozessfähigkeit an die (unbeschränkte) Geschäftsfähigkeit anbindet. Eine dritte Ansicht kumuliert beide Lösungen, so dass vor deutschen Gerichten jeder parteifähig ist, der im Heimatstaat rechtsfähig oder parteifähig (bzw prozessfähig, wer voll geschäftsfähig oder prozessfähig) ist. Im Familienverfahren und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit gelten dieselben Grundsätze für die Beteiligtenfähigkeit und die Verfahrensfähigkeit.

Literatur:

MüKoBGB/Lipp (6. Aufl., 2015) Art. 7 EGBGB Rn 32 ff (Geschäftsfähigkeit), Rn 92 ff (Partei- und Beteiligtenfähigkeit).

Teil III Besonderer Teil des IPR › § 7 Personenrecht › B. Juristische Personen

B. Juristische Personen

I. Gründungstheorie – Sitztheorie

627

1. Im geschriebenen deutschen Recht finden sich bisher keine Regelungen über die kollisionsrechtliche Behandlung der juristischen Personen. Es besteht aber Einigkeit, dass eine juristische Person ein „Heimatrecht“ besitzt, das für die inneren Beziehungen und die gesellschaftsrechtlichen Außenbeziehungen der juristischen Person maßgeblich ist, das Gesellschaftsstatut.

628

2. Für die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts bestehen weltweit zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze, die auch die Diskussion in Deutschland bis in jüngere Zeit maßgeblich prägten. Nach einer Ansicht (Gründungstheorie) ist die Gesellschaft der Rechtsordnung unterstellt, nach der sie gegründet wurde. Der Gründungsort spielt dabei nur insoweit eine Rolle, als konstitutive staatliche Akte zur Inkorporierung nur in dem Land erfolgen können, nach dessen Rechtsordnung die Gründung erfolgt. Die Gründungstheorie ist im anglo-amerikanischen Rechtskreis ganz herrschend und gilt in der Schweiz (Art. 154 schweizerisches IPRG) bei registrierten Gesellschaften. Sie führt dazu, dass eine Gesellschaft nach einer Rechtsordnung gegründet werden kann, obgleich sie ihre gesamte geschäftliche Aktivität einschließlich der Geschäftsleitung im Ausland entfaltet („overseas“ oder „offshore company“[5]) oder dass sie im Gründungsstaat ihre Geschäfte aufnehmen, aber später „umziehen“ kann. Diese Anknüpfung fördert die Interessen der Gründer, die mit dem Gründungsort gleichzeitig die ihnen genehme Rechtsordnung wählen können; hingegen sind die Interessen Dritter, aber auch die Interessen von Aktionären und Minderheitsgesellschaftern gefährdet. Dies wurde in der deutschen Rechtsprechung als die entscheidende Schwäche der Gründungstheorie angesehen.[6]

629

Das besonders „großzügige“ Gesellschaftsrecht des US-Bundesstaates Delaware hat dazu geführt, dass zahlreiche Gesellschaften dort inkorporiert sind, ohne tatsächliche Beziehungen zu Delaware zu unterhalten, mit Ausnahme eines Zustellungsbevollmächtigten, regelmäßig einer Anwaltsfirma, die für eine Vielzahl von Delaware corporations als Briefkasten dient.

 

630

3. Die in Deutschland herrschende Ansicht vertrat die Sitztheorie,[7] ehe sich diese durch die Rechtsprechung des EuGH (Rn 633 ff) für in einem EU-Mitgliedstaat gegründete Gesellschaften als partiell europarechtswidrig erwies. Gesellschaftsstatut ist nach der Sitztheorie das Recht des Staates, in dem die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hat. Für dessen Bestimmung kommt es nicht auf den satzungsmäßigen Sitz an, sondern auf die tatsächlichen Gegebenheiten: Anwendbar ist das Recht des Staates, in dem die Unternehmensleitung, der Geschäftsführer oder der Vorstand tatsächlich die Geschäfte der juristischen Person führt. Das gilt nach der Sitztheorie auch dann, wenn eine Gesellschaft in einem anderen Staat wirksam gegründet worden ist und sodann ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegt. Die Sitzverlegung begründete einen Statutenwechsel und die einmal erworbene Rechtsfähigkeit setzt sich nach Sitzverlegung nicht ohne Weiteres fort.

631

4. Im Verhältnis zu den USA ergibt sich dagegen die Geltung der Gründungstheorie seit 14.7.1956 aus Art. XXV Abs. 5 des Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrages.[8] Danach sind Gesellschaften, die gemäß den Gesetzen und sonstigen Vorschriften des einen Vertragsteils in dessen Gebiet errichtet sind, Gesellschaften dieses Vertragsteils; das legt das Heimatrecht der Gesellschaft auf das Gründungsrecht fest. Aus deutscher Sicht hat eine in einem Bundesstaat der USA nach dortigem Recht inkorporierte Gesellschaft das Personalstatut dieses Bundesstaates.

Literatur:

MüKoBGB/Kindler (6. Aufl., 2015) Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht Rn 351 ff; Henssler/Strohn/Servatius Gesellschaftsrecht (3. Aufl., 2016) Internationales Gesellschaftsrecht Rn 3 ff

II. Bedeutung von Art. 49, 54 AEUV (Art. 43, 48 EGV aF) für das Gesellschaftsstatut

632

1. Art. 49 AEUV verbietet wie Art. 43 EGV aF grundsätzlich den Mitgliedstaaten die Beschränkung der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats und gewährleistet insbesondere die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind. Art. 54 AEUV (Art. 48 EGV aF) stellt insoweit Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.

633

2. Ob sich hieraus eine Festlegung auf die Gründungstheorie im Verhältnis der Mitgliedstaaten oder eine die Sitztheorie einschränkende Anerkennungspflicht ergibt, ist seit langem strittig. Bis zu einer 1999 beginnenden Serie von Entscheidungen des EuGH wurde überwiegend die Sitztheorie als mit EG-Recht vereinbar angesehen.

Der EuGH hatte zunächst in einer Entscheidung aus 1988 (Daily Mail)[9] einen direkten Einfluss des EWG-Vertrages (damals Art. 52, 58 EWGV) auf steuerrechtliche Wegzugsbeschränkungen abgelehnt, was dahin gedeutet wurde, dass auch ein den Umzug hinderndes Gesellschaftsstatut im IPR der Mitgliedstaaten nicht vom EWG-Vertrag betroffen sei. Die Unterschiede, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen Anknüpfung sowie der Möglichkeiten und gegebenenfalls der Modalitäten einer Verlegung des satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen, seien Probleme, die durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des Vertragsschlusses (nach Art. 293 EGV, im AEUV entfallen) bedürften; da eine solche noch nicht gefunden sei, gewährten die Artikel 52 und 58 EWG-Vertrag (aF) den Gesellschaften nationalen Rechts kein Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaates ihrer Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.

634

3. Beginnend mit der Centros-Entscheidung des EuGH[10] setzte ein Wandel ein. In dieser Entscheidung hielt der EuGH Erschwerungen des dänischen Rechts bei Gründung einer dänischen Zweigniederlassung einer mit Satzungssitz in England gegründeten Gesellschaft für mit Art. 52, 58 EGV idF von Maastricht nicht vereinbar. Da freilich das dänische IPR ebenso wie das englische der Gründungstheorie folgen, war dies noch nicht als zwingendes Signal gegen die Sitztheorie zu verstehen.[11] Weil dänisches Recht die englische Gesellschaft nach ihrem Gründungsrecht unbeschadet ihres Verwaltungssitzes als existent ansah, verstieß auch aus Sicht der Vertreter der Sitztheorie eine Zuzugsbeschränkung gegen die Niederlassungsfreiheit.

635

4. Die Überseering-Entscheidung des EuGH[12] ließ sich nur noch mühsam mit der Sitztheorie vereinbaren. Der EuGH sah einen Verstoß gegen Art. 43, 48 EGV aF darin, dass deutsche Gerichte einer in den Niederlanden wirksam gegründeten Gesellschaft, die ihren Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt hatte, die Parteifähigkeit versagten. In dieser Entscheidung klang bereits an, dass der EuGH die Anerkennung einer solchen Gesellschaft in ihrer im Gründungsstaat bestehenden Identität für europarechtlich geboten hielt und deshalb die Gewährung der Parteifähigkeit in anderer Rechtsform, etwa als OHG deutschen Rechts, nicht genügen würde.[13] Die Inspire Art-Entscheidung des EuGH[14] stellte klar, dass Art. 43, 48 EGV aF jeden EU-Mitgliedstaat verpflichten, eine Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates wirksam gegründet ist und fortexistiert, anzuerkennen und ihr den Zuzug durch Gründung einer Zweigniederlassung zu gestatten, auch wenn diese Gesellschaft seit ihrer Gründung ihre Geschäftstätigkeit nur im Zuzugsstaat ausübt. Die Cartesio-Entscheidung des EuGH[15] knüpft für die Beurteilung von Wegzugsbeschränkungen wieder an Daily Mail (Rn 633) an: Da eine Juristische Person nur als ein Konstrukt der Rechtsordnung des Mitgliedstaats existiert, nach dessen Recht sie gegründet ist, darf jeder Mitgliedstaat weiterhin die Anknüpfung bestimmen, die eine Juristische Person aufweisen muss, um als nach seinem Recht gegründet angesehen zu werden; nach Verlegung des Verwaltungssitzes in einen anderen (Mitglied-)Staat steht es daher dem ursprünglichen Heimatstaat frei, diese Gesellschaft nicht mehr als nach seinem Recht bestehend zu betrachten. Er darf sie jedoch nicht zur Auflösung und Liquidation zwingen, wenn der Mitgliedstaat, in den sie sich im Wege eines Zuzuges begeben möchte, ihr die Umwandlung in eine Juristische Person seiner Rechtsordnung erlaubt. In der Vale-Entscheidung des EuGH[16] konkretiserte der Gerichtshof dieses Prinzip der innereuropäisch grenzüberschreitenden Umwandlung: Erlaubt das nationale Recht des Zuzugsstaates für inländische Gesellschaften eine Umwandlung in eine andere Rechtsform, so verstößt es gegen Art. 49, 54 AEUV, wenn einer zuziehenden Gesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat die Umwandlung durch Gründung einer inländischen Gesellschaft generell verweigert wird. Das schließt es ein, dass der Zuzugsstaat die zuziehende Gesellschaft als Rechtsvorgängerin der zugezogenen Gesellschaft eintragen muss, wenn er eine solche Eintragung in das Handelsregister bei innerstaatlicher Umwandlung vorsieht. Der Zuzugsstaat darf jedoch die Anforderungen an die Umwandlung (Bilanzerstellung, Form usw.), die er an eine innerstaatliche Umwandlung stellt, auf die EU-grenzüberschreitende Umwandlung anwenden.[17] In Vale betont der EuGH zudem eine wesentliche Voraussetzung für diesen Schutz grenzüberschreitender EU-Gesellschaften: Es genügt nicht, dass die Gesellschaft nur ihren Satzungssitz verlegt; Art. 49, 54 AEUV schützt nur eine tatsächliche Niederlassung zur Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit, die erst dann vorliegt, wenn die Gesellschaft auch ihren Verwaltungssitz verlegt und damit auf unbestimmte Zeit eine feste Einrichtung für die wirtschaftliche Tätigkeit im Zuzugs-Mitgliedstaat begründet.

636

5. Die nunmehr hM gibt die Sitztheorie als Grundsatz nicht auf, geht aber im Anschluss an diese Rechtsprechung des EuGH davon aus, dass im Verhältnis zu Gesellschaften, welche nach dem Recht eines anderen EU-Mitgliedstaats gegründet wurden, das Gesellschaftsstatut nach der Gründungstheorie zu bestimmen ist.[18] Da auch Art. 31 EWR-Vertrag eine Art. 49 AEUV vergleichbare Niederlassungsfreiheit gewährt, gilt dies auch gegenüber Gesellschaften aus EWR-Mitgliedstaaten.[19] Zwar hat der EuGH die Problematik immer als eine der Niederlassungsfreiheit behandelt und sich nicht ausdrücklich gegen die Sitztheorie und für die Gründungstheorie im IPR erklärt. Gleichwohl lassen sich die Anforderungen, die der EuGH aus der Niederlassungsfreiheit folgert, nicht mit den Folgerungen der Sitztheorie vereinbaren, wonach eine mit Verwaltungssitz in Deutschland gegründete englische Limited nicht existieren würde, weil es keine Limited im deutschen Gesellschaftsrecht gibt, und dass eine englische Limited bei Verlegung ihres Verwaltungssitzes nach Deutschland ihre Rechtspersönlichkeit verlöre. Auf die Gründung nach deutschem Recht kann Deutschland nach den Cartesio- und Vale- Grundsätzen weiterhin die Sitztheorie anwenden. Die Verlegung des Verwaltungssitzes einer deutsch gegründeten GmbH oder AG in das Ausland behindert deutsches Recht nach Streichung von § 4a Abs. 2 GmbHG und § 5 Abs. 2 AktG[20] ohnehin nicht mehr, die Verlegung des Satzungssitzes erfordert dagegen eine Umwandelung in eine Gesellschaft des Zuzugsrechts.[21]

637

6. Der Schutz Dritter kann nur ausnahmsweise durch die Überlagerung des Gründungsstatuts mit inländischen gesellschaftsrechtlichen Beschränkungen erreicht werden, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses dies verlangen. Der EuGH hat insbesondere in Inspire Art eine Bestimmung des niederländischen Rechts (das schon vorher der Gründungstheorie folgte) als europarechtswidrig angesehen, die eine Kennzeichnung von nur scheinbar ausländischen Gesellschaften im Geschäftsverkehr verlangte.[22] Eine EU-ausländische Gesellschaft kann sich nur dann nicht auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn ihr im konkreten Fall Missbrauch nachgewiesen werden kann. Die in den letzten Jahren äußerst beliebt gewordene Gründung „inländischer“ Gesellschaften in Rechtsformen anderer EU-Mitgliedstaaten bedeutet freilich nicht per se einen Missbrauch, auch wenn Irrtümer von Dritten, die mit einer solchen „Bäcker-Meier-Limited“ kontrahieren, sehr nahe liegen. Insbesondere die persönliche Haftung der für eine solche Gesellschaft Handelnden beurteilt sich nach dem Gründungsstatut und kann nicht auf die analoge Anwendung deutschen GmbH-Rechts gestützt werden.[23] Solche EU- oder EWR-Gesellschaften können auch Komplementär in einer KG deutschen Rechts sein, so dass nach dem Modell der beliebten GmbH & Co KG vielfach Limited & Co KGen und BV & Co KGen gegründet wurden. Die gezielte Einbindung ausländischer Gesellschaftsformen führt auch zu einem Problem auf der Ebene der unternehmerischen[24] Mitbestimmung. Die Zahl der „paritätisch mitbestimmten“ Unternehmen in Deutschland sinkt, was zu einem großen Teil darauf beruht, dass viele Unternehmen die unternehmerische Mitbestimmung durch gezielte Einbindung ausländischer Kapitalgesellschaftsformen vermeiden.[25] So unterliegt in der Limited & Co KG die KG zwar deutschem Recht, aber nicht dem MitBestG und die als Komplementär fungierende Limited nicht deutschem Recht.

 

638

Weite Bereiche nicht dem Gesellschaftsrecht zugehöriger Bestimmungen sind freilich durch den Übergang zur Gründungstheorie nicht berührt. So knüpfen individualarbeitsrechtliche Schutzbestimmungen an das Statut des Arbeitsvertrages an, kollektives Arbeitsrecht und Betriebsverfassungsrecht gelten auch für inländische Betriebsstätten ausländischer Gesellschaften. Auch dem deutschen Körperschaftssteuerrecht, das bei Geschäftsleitung oder Sitz im Inland die unbeschränkte Steuerpflicht vorsieht (§ 1 KStG), entzieht man sich nicht durch Wahl einer ausländischen Rechtsform. Auch die bei Fortlassung der vorgeschriebenen Angabe der Gesellschaftsform (§ 4 GmbHG) eintretende Rechtsscheinhaftung der für Gesellschaften Handelnden gilt entsprechend für ausländische Gesellschaften mit beschränkter Haftung, wenn der Rechtsschein in Deutschland gesetzt wird.[26] Insolvenzrechtliche Bestimmungen gelten, auch wenn sie normsystematisch im Gesellschaftsrecht eingeordnet sind, auch für eine in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft.[27]

639

7. Nicht betroffen durch die EuGH-Rechtsprechung ist die Anwendung der Sitztheorie gegenüber Gesellschaften aus Staaten, die nicht der EU und dem EWR angehören und auch nicht nach dem Recht eines US-Bundestaates (Rn 631) gegründet sind. Die sich daraus ergebende Differenzierung ist sachlich gerechtfertigt. Während die Niederlassungsfreiheit aus Art. 49, 54 AEUV auf gemeinsamen gesellschaftsrechtlichen Mindeststandards und wechselseitigem Vertrauen in die Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten gründet, besteht gegenüber den Rechtsordnungen von Drittstaaten für ein solches Vertrauen keine Grundlage. Dem durch die Sitztheorie gewährten Schutz Dritter ist insoweit weiterhin der Vorzug gegenüber den Mobilitätsinteressen der Gesellschaft zu geben. Zu den Konsequenzen vgl das Beispiel unten Rn 651; sofern nicht eine völkervertragliche Lösung gefunden wird, bedeutet dies auch für Gesellschaften nach einer Rechtsordnung des UK nach dessen Ausscheiden aus der EU/dem EWR (Brexit) den Übergang zur Sitztheorie.[28]

640

8. Rechtspolitische Pläne, in einem neuen Art. 10 das Gesellschaftsstatut auch im Verhältnis zu Drittstaaten-Gesellschaften der Gründungstheorie zu unterstellen,[29] werden – aus den eben genannten Gründen (Rn 639) zu Recht – ersichtlich nicht weiter verfolgt.

Literatur:

MüKoBGB/Kindler (6. Aufl., 2015) Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht;Henssler/Strohn/Servatius Gesellschaftsrecht (3. Aufl., 2016) Internationales Gesellschaftsrecht Rn 18 f; Eidenmüller Gesellschaftsstatut und Insolvenzstatut, RabelsZ 70 (2006) 474; Kindler Die Begrenzung der Niederlassungsfreiheit durch das Gesellschaftsstatut, NJW 2007, 1785; Zimmer/Naendrup Das Cartesio-Urteil des EuGH: Rück- oder Fortschritt für das internationale Gesellschaftsrecht?, NJW 2009, 545; Böttcher/Kraft, Grenzüberschreitender Formwechsel und tatsächliche Sitzverlegung – Die Entscheidung VALE des EuGH, NJW 2012, 2701; Metzing Grundlagen der Anerkennung und Besteuerung von EU-/EWR-Gesellschaften im Lichte der europäischen Niederlassungsfreiheit, ZEuS 2017, 43.