Internationales Privatrecht

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III. Lösungen

570

Die Lösung des Anpassungsproblems erfolgt entweder auf internationalprivatrechtlichem oder auf materiell-rechtlichem Weg.

1. Kollisionsrechtlich kann im Fall der Normenhäufung oder -unverträglichkeit der gesamte Lebenssachverhalt einer der konkurrierenden Rechtsordnungen unterstellt werden, oder es wird im Fall des Normenmangels der Anwendungsbereich einer Kollisionsnorm ausgedehnt auf die nicht gelöste Fragestellung. Beides bedeutet jedenfalls eine Abkehr von der eigenen kollisionsrechtlichen Qualifikation der Fragestellung und damit von den Interessen, die der gewählten Anknüpfung zugrundeliegen.

571

2. Materiell-rechtlich ergibt sich eine Lösung durch modifizierte, einschränkende oder ausdehnende Anwendung der „eigentlich“ berufenen Rechtsordnungen. Das wahrt die kollisionsrechtliche Grundsatzentscheidung, verletzt aber das Interesse an einer realen Rechtsanwendung, also der Anwendung einer so wirklich existierenden Rechtsordnung.

572

3. Die Wahl des Lösungsmodells hängt von der Art des Widerspruchs, häufig aber auch von der individuellen Gestaltung des Falles und der beteiligten Rechtsordnungen ab. Dabei trifft das Gericht Wertentscheidungen zugunsten einer Rechtsordnung oder eines materiellen Ergebnisses; dennoch verlangt die Rechtssicherheit nach einer dem formalen und widersprüchlichen Ergebnis möglichst nahen Lösung (weshalb ein Ausweichen auf die lex fori oder gar ein drittes Recht meist ausscheidet).

573

a) Normenmangel ist regelmäßig kollisionsrechtlich durch die Ausdehnung des Anwendungsbereichs einer Rechtsordnung zu beseitigen. Mit dieser harmoniert sodann das Ergebnis; der Eingriff besteht im Grunde nur in einer erweiternden Qualifikation aus Sicht des deutschen IPR.

574

b) Normenhäufung lässt sich kollisionsrechtlich nur beseitigen, wenn man einer der beteiligten Rechtsordnungen, die beide gelten sollen, den Vorzug gibt. Dies bedeutet nicht nur einen Eingriff in die Qualifikation des deutschen IPR, sondern auch eine bedenkliche (letztlich ergebnisorientierte) Bevorzugung eines Regelungsmodells. Besonders deutlich wird der Nachteil dieser Lösung, wenn man bedenkt, dass für Standardprobleme der Normenhäufung gerade entgegengesetzte Standpunkte vertreten werden.

Soll im Fall des US-Erbstatuts bei deutschem Ehegüterstatut (Rn 567) der überlebende Ehegatte insgesamt nach dem Modell des deutschen Rechts (Güter- und Erbrecht) oder dem der beteiligten US-Rechtsordnung beteiligt werden?

575

Daher sollte in solchen Fällen immer erwogen werden, ob eine materiell-rechtliche Anpassung den Konflikt schonender bereinigen kann. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Ergebnisse der beteiligten Rechtsordnungen nur quantitativ voneinander abweichen. Es wird dann eine Lösung, die den „Mittelweg“ sucht, gerechter erscheinen als die kollisionsrechtliche Bevorzugung eines der Extreme.

576

Im Fall der Kollision von US-Erbstatut und deutschem Ehegüterstatut kann die Lösung sogar von der Nachlassgröße abhängen: Bei kleinen Nachlässen besteht keine Anpassungsmöglichkeit, denn der Ehegatte erhält schon nach dem US-Erbstatut wenigstens den „Voraus“ von $ 50.000; das folgt nicht aus einer Kumulation, sondern schon aus der Wertung des Erbstatuts und bedeutet daher kein Anpassungsproblem. Beträgt der Nachlasswert $ 1 Mio., so steht die fiktiv nach deutschem Erb- und Ehegüterrecht ermittelte Ehegattenquote von ½ der US-amerikanischen von ½ (aus dem um $ 50.000 geminderten Nachlass) zzgl. $ 50.000 gegenüber, was kaum noch stört. Dazwischen wird man mit einer materiell-rechtlichen Lösung, die den „Voraus“ von $ 50.000 schrittweise auf die zwischen den beiden Rechtsordnungen nicht problematische Hälftequote anrechnet, dem – rein quantitativen – Problem gerecht.

577

Trifft deutsches Ehegüterrecht (§ 1371 Abs. 1 BGB) auf österreichisches Erbrecht, so stellt sich die Frage, ob die österreichische Ehegattenerbquote neben Abkömmlingen von 1/3 um das Viertel nach § 1371 Abs. 1 BGB zu erhöhen ist, obgleich österreichisches Recht eine güterrechtliche pauschale Erbquotenerhöhung nicht kennt. Österreichisches Erb- und deutsches Ehegüterrecht, also 1/3 + 1/4 = 7/12 sprengt jedenfalls die Grenzen beider Rechtsordnungen. Zwischen den quantitativen Alternativen 1/3 (österreichisches Recht) oder 1/2 (deutsches Recht) wird man sich eher für die Lösung entscheiden, die dem deutschen Recht entspricht, weil diese Lösung der durch Normenhäufung entstandenen und abgelehnten Lösung am nächsten kommt.[3]

578

Bei qualitativen Abweichungen zweier Rechtsordnungen lässt sich hingegen kaum eine materielle Lösung finden; insoweit ist eine kollisionsrechtliche Lösung zu suchen.

579

c) Normenunverträglichkeit lässt sich regelmäßig nur im materiellen Recht korrigieren; insbesondere, wenn Rechtsinstitute aus einer anderen Rechtsordnung sich nicht in das aktuell anzuwendende Statut einbetten lassen, handelt es sich nicht wirklich um Konflikte zweier nebeneinander stehender Rechtsordnungen, so dass die kollisionsrechtliche Bevorzugung einer der beiden ausscheidet.

580

Das unterhaltsrechtliche Problem des vierfachen Ehemannes (Rn 567) ist in Anwendung des deutschen Unterhaltsrechts materiell-rechtlich zu bereinigen, wobei das Phänomen mehrerer gleichrangig Unterhaltsberechtigter (zB Ehegatte und geschiedener Ehegatte) auch innerhalb des deutschen Rechts vorkommt: Bei der Bemessung des Unterhaltsanspruchs jeder der Ehefrauen nach § 1361 BGB ist der eigene Bedarf des Ehemannes ebenso zu berücksichtigen wie gegenüber einem Ehegatten; die Ansprüche der jeweils anderen Ehefrauen mindern jedoch gleichrangig die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners. Es wird also nicht schlicht ein fiktiver Ehegattenunterhalt auf vier Ehefrauen verteilt; soweit der Ehemann leistungsfähig ist (Selbstbehalt), kann er bis zum vollen Bedarf jeder Ehefrau verpflichtet sein.

Teil II Allgemeine Lehren des IPR › § 6 Korrektur der Verweisung › C. Ordre Public

C. Ordre Public

I. Problemstellung

581

Der deutsche ordre public[4] wird in Ausnahmefällen durch Art. 6 gegen die Anwendung ausländischer Rechtsnormen geschützt. Grundsätzlich ist ein vom deutschen IPR berufenes ausländisches Recht so anzuwenden, wie es im Herkunftsstaat angewendet wird. Durch die Verweisung des deutschen IPR auf eine ausländische Rechtsordnung dürfen aber deutsche Gerichte nicht zu Entscheidungen genötigt werden, die im Ergebnis grundlegenden deutschen Rechtsanschauungen eklatant zuwiderlaufen.

582

Art. 6 ist eine Ausnahmevorschrift, die die regelmäßige Anknüpfung durchbricht; sie hat nur eine negative Funktion, indem sie bestimmt, dass eine Norm nicht Anwendung findet. Sie schützt den sog negativen ordre public, setzt also nicht bestimmte Wertungen des deutschen Rechts positiv durch, sondern verhindert lediglich die Normanwendung, wenn elementare Wertungen des deutschen Rechts verletzt werden. An die Stelle der verdrängten Norm tritt nicht ohne weiteres die deutsche Regelung.

583

Völkervertragliche und europarechtliche Kollisionsnormen enthalten ebenfalls ordre public-Vorbehalte (zB Art. 13 HUntStProt 2007, Art. 21 Rom I-VO, Art. 35 EU-ErbVO), die in gleicher Weise die öffentliche Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts schützen. Anders als bei nur zwischen Mitgliedstaaten wirkenden Regelungen des EuZPR, wo gerne das wechselseitige Vertrauen beschworen wird, ist der Vorbehalt des ordre public im EuIPR unumstritten, da dessen Kollisionsnormen als loi uniforme auch das Recht von Drittstaaten berufen.

II. Voraussetzungen

584

Voraussetzung des Eingreifens des ordre public ist, dass das bei regelentsprechender Anwendung einer ausländischen Norm erzeugte (1) Ergebnis im Einzelfall mit (2) wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts (3) offensichtlich unvereinbar ist.

585

1. Art. 6 ist auf materiell-rechtliche und kollisionsrechtliche Regelungen im ausländischen Recht anwendbar. Es genügt aber nicht, dass eine solche Norm abstrakt gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts verstößt, zB formal eine ausländische Kollisionsnorm an das Heimatrecht des Ehemannes anknüpft. Zunächst ist vielmehr das Ergebnis der Anwendung der ausländischen Norm im konkreten Fall zu ermitteln, ehe beurteilt werden kann, ob sich der deutsche ordre public gegen dieses Ergebnis wendet. Eine Anpassung (Rn 562 ff), durch die im konkreten Fall ein unerträgliches Ergebnis vermieden wird, schließt die Anwendung des Art. 6 aus.

 

586

ZB wäre es im Fall des mehrfach verheirateten Ägypters (Rn 567) verfehlt, damit zu argumentieren, dass polygame Ehen dem deutschen ordre public widersprechen. Da jede der Ehen im Ausland geschlossen wurde, fehlt es insoweit am hinreichenden Inlandsbezug (dazu Rn 590 ff). Das gleichzeitige Bestehen mehrerer Ehen einer Person ist in Abwägung gegen die kulturelle Prägung der Familie hinzunehmen, zumal selbst nach deutschem Recht eine bigamische Ehe nur aufhebbar ist (§§ 1314 Abs. 1, 1306 BGB). Was den Unterhalt angeht, wird ein unerträgliches Ergebnis, nämlich die Überforderung der Leistungsfähigkeit des Mannes, durch eine Anpassung im deutschen Recht vermieden. Anders verhält es sich in der Fallgruppe einer in Deutschland weitergeführten Kinderehe, die nicht nur im Entstehen, sondern in ihrem Bestand in Deutschland den ordre public berührt (Rn 591).

587

2. Wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts umfassen die in der Vorgängernorm (Art. 30 aF) genannten guten Sitten und den Zweck deutscher Gesetze, werden aber durch die Begriffe nicht ausgeschöpft. Art. 6 ist vielmehr eine umfassende Generalklausel, die jedoch hinsichtlich der Eingriffsschwelle eng auszulegen ist.

588

a) Die guten Sitten unterliegen dabei dem Wertewandel, wie er auch in der internen Rechtsprechung zu § 138 BGB Ausdruck findet. Der Zweck eines deutschen Gesetzes ist – in Hinblick auf das Erfordernis der „offensichtlichen“ Unvereinbarkeit – eng auszulegen. Es genügt nicht, dass die ausländische Regelung grundlegend von der deutschen abweicht, selbst wenn die deutsche Regelung intern zwingendes Recht ist. Art. 6 schützt nur den internationalen ordre public, also den nach außen gerichteten Durchsetzungswillen von Grundsätzen des deutschen Rechts gegenüber einer eigentlich anwendbaren ausländischen Rechtsordnung. Der interne ordre public als Summe aller zwingenden (nicht zur Disposition stehenden) Regeln des deutschen Rechts greift erheblich weiter.

589

b) Besondere Bedeutung kommt der Konkretisierung des deutschen ordre public durch die Grundrechte[5] (Art. 6 S. 2) zu. Art. 6 greift ein, wenn die Anwendung der ausländischen Norm im konkreten Fall zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt. „Grundrechte“ iSd Art. 6 S. 2 sind nicht nur die Grundrechte des GG, sondern auch die der Länderverfassungen sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention.

590

3. Eine offensichtliche Unvereinbarkeit setzt einen eklatanten Verstoß des Ergebnisses im Einzelfall gegen die genannten Maßstäbe voraus. Neben die Bedeutung des Grundsatzes, gegen den verstoßen wird, muss hierzu immer auch ein genügender Inlandsbezug des Sachverhalts treten.

591

Selbst wenn die Anwendung einer ausländischen Bestimmung gegen ein deutsches Grundrecht verstößt, ist damit ein eklatanter Verstoß noch nicht indiziert; lediglich der Maßstab der Prüfung ist bei einer Grundrechtsverletzung einer Abwägung nicht mehr zugänglich. Die für Art. 6 erforderliche Intensität ist jedoch davon abhängig, dass der inländische Rechtsverkehr betroffen ist; Art. 6 ist insbesondere kein Instrument, um der ganzen Welt die deutschen Grundrechtswertungen aufzudrängen.

Ein shiʼitischer Iraner, der mit drei Frauen auf Dauer und mit einer weiteren auf Zeit verheiratet ist, verstirbt mit letztem Wohnsitz in Teheran. Er hinterlässt ein Wertpapierdepot bei einer deutschen Bank. Das AG Frankfurt – Nachlassgericht – soll einen Erbschein erteilen. Es bestehen keine Bedenken an der Anwendung shiʼitischen Erbrechts, das den Ehefrauen Erbquoten zumisst, auch wenn die Polygamie und die Zeitehe (abstrakt und im konkreten Fall) gegen die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG verstoßen; es fehlt am Inlandsbezug und damit jedenfalls an der offensichtlichen Unvereinbarkeit des Ergebnisses mit den Grundrechten.

An dieser Stelle ist insbesondere bei Statusbeziehungen, die ursprünglich keinen Inlandsbezug hatten, diesen aber durch Zuzug nach Deutschland erlangen, zu prüfen, ob nur die Begründung oder auch der Fortbestand des Status eklatant gegen Grundwerte deutschen Rechts verstößt.

Anders als das Beispiel der polygamen Ehe (Rn 586) zu bewerten ist insoweit das jüngst in den Blick breiterer Öffentlichkeit[6] gelangte Problem von im Ausland wirksam geschlossenen Ehen unter 16-jähriger ausländischer Staatsangehöriger – meist Frauen aus dem islamischen Rechtskreis (Rn 50). Zwar fehlt auch in dieser Fallgruppe dem Vorgang der Eheschließung im Ausland der hinreichende Inlandsbezug, doch berührt bei Umzug der Ehegatten nach Deutschland die Führung einer solchen Ehe im Inland das zu den Grundprinzipien deutschen Rechts gehörende Verbot der Kinderehe.[7] Folgerichtig wäre es allerdings, dieses Problem aus deutscher Sicht über Art. 6 oder eine Sondernorm des ordre public zu lösen und die Nichtigkeit einer solchen Ehe nur dann anzunehmen, wenn im Zeitpunkt des Zuzuges nach Deutschland der den deutschen ordre public störende Zustand noch besteht;[8] das ist nicht nur dann der Fall, wenn – gemessen an § 1303 BGB bisheriger Fassung – ein Ehegatte in diesem Zeitpunkt das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat, sondern auch dann, wenn der bei Eheschließung unter 16-jährige in Deutschland an der Ehe gegen seinen Willen festgehalten wird. Hingegen bedeutete es einen nicht gebotenen Eingriff in fremde Wertvorstellungen, wenn eine solche Ehe gegen den Willen beider nun ausreichend einsichtsfähiger Ehegatten nicht als wirksam anerkannt würde.

Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen[9] geht hier äußerst weit. Art. 13 Abs. 3 nF erklärt nach ausländischem Eheschließungsstatut wirksame Ehen unter 16-Jähriger für nichtig (Nr. 1) und bestimmt Aufhebbarkeit (Nr. 2) nach deutschem Recht bei Eheschließung zwischen dem 16. und dem vollendeten 18. Lebensjahr. Der Inlandsbezug findet sich erst in Abs. 4 der Überleitungsvorschrift: Art. 13 Abs. 3 nF gilt nicht, wenn bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten kein Ehegatte gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Zugleich wird § 1303 BGB verschärft, obgleich die familiengerichtliche Befreiung nach § 1303 Abs. 2 BGB gewiss keine problematischen Kinderehen förderte.

Fraglich ist ein Verstoß gegen den ordre public im konkreten Einzelfall, wenn eine islamische Rechtsordnung Erbstatut ist, die einer überlebenden Ehefrau abstrakt die Hälfte der Quote eines überlebenden Ehemannes zumisst. Da im selben konkreten Einzelfall nie ein Witwer und eine Witwe zusammentreffen, könnte es immer an der Einzelfallrelevanz fehlen. Wer dennoch einen Verstoß annimmt, muss hypothetisch argumentieren, also den spiegelbildlichen Fall zum Vergleichsmaßstab machen.[10]

592

Andererseits bedeutet die Nichtanwendung der ausländischen Rechtsnorm keine Diskriminierung oder negative Bewertung der fremden Rechtsordnung. Diese wird sogar häufig im Kontext der jeweiligen Rechts- und Gesellschaftsordnung sinnvoll sein und meist einem vom deutschen Recht abweichenden Gerechtigkeitsverständnis folgen.[11] Die Anwendung des Art. 6 besagt lediglich, dass die Anwendung der betroffenen Norm mit unserer Rechts-, insbesondere Verfassungsordnung nicht zu vereinbaren ist.[12] Dies kann im Übrigen auch bei Normen der Fall sein, die einem christlich-religiösen Recht angehören; obgleich in jüngerer Zeit vielfach die europäische Kultur als christlich-abendländisch der religiös geformten islamischen Kultur gegenübergestellt wird, sollte nicht übersehen werden, dass die deutsche Verfassungsordnung insbesondere auf Prinzipien der Aufklärung beruht und sich durchaus auch den Wertungen christlicher Rechtsnormen entgegensetzt.[13]

593

Bei der Feststellung des hinreichenden Inlandsbezuges ist Zurückhaltung geboten. Selbst wenn Beteiligte eines formal gegen die Grundrechte verstoßenden Rechtsverhältnisses in Kontakt mit der deutschen Rechtsordnung kommen, sich in Deutschland niederlassen oder hier Vermögen erwerben, muss dies nicht zu einem hinreichenden Inlandsbezug führen. Hier besteht auch eine Wechselwirkung zwischen der Intensität des Verstoßes gegen deutsche Grundwertungen und der erforderlichen Stärke des Inlandsbezuges: Je schwerer der Verstoß, umso eher liegt auch bei schwächerem Inlandsbezug ein ordre public-Verstoß vor. Vor allem kommt eine auf den ordre public gründende Nichtanerkennung von statusrechtlichen Vorgängen nur ausnahmsweise in Betracht, weil hierdurch hinkende Rechtsverhältnisse provoziert werden (auch insoweit sind polygame Ehe und Kinderehe differenziert zu sehen, vgl Rn 591). Andererseits liegt hinreichender Inlandsbezug nicht nur bei deutscher Staatsangehörigkeit eines durch den Verstoß Betroffenen vor, sondern kann auch bei längerfristigem gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland und kontinuierlicher Betroffenheit bestehen.[14]

594

Die im islamischen Recht als Grundform gebräuchliche Scheidung der Ehe durch einseitige nicht empfangsbedürftige Willenserklärung des Ehemannes (talaq) verstößt objektiv gegen Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 GG. Der deutsche ordre public ist


nicht verletzt, wenn ein Marokkaner seiner marokkanischen Ehefrau in Marokko den talaq erklärt und anschließend in Deutschland eine Deutsche heiratet (fehlender Inlandsbezug);
verletzt, wenn ein Ägypter willkürlich bei gemeinsamem gewöhnlichem Aufenthalt in Ägypten seiner deutschen Ehefrau den talaq erklärt und diese nicht damit einverstanden ist (konkreter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG – Benachteiligung der Frau – und Art. 6 Abs. 1 GG – Scheidung einer nicht gescheiterten Ehe); der Inlandsbezug folgt aus der deutschen Staatsangehörigkeit der Ehefrau.

III. Rechtsfolge

595

1. Als Rechtsfolge ergibt sich aus Art. 6 nur die Nichtanwendung der jeweiligen ausländischen Bestimmung. Das ausländische Recht bleibt im Übrigen anwendbar, dh die Nichtanwendung beschränkt sich isoliert auf die Norm, die das unerträgliche Ergebnis herbeiführt.

596

2. Ergeben sich durch die Nichtanwendung keine regelungsbedürftigen Lücken, so bewendet es hierbei. Das berufene ausländische Recht findet im Übrigen Anwendung.

Der Cuban Democracy Act 1992 (sog Helms-Burton-Gesetz) verbietet die Lieferung US-amerikanischer Waren über Mittelsleute an Abnehmer in Cuba. Verkauft ein New Yorker Hersteller Waren an einen deutschen Zwischenhändler, der diese Waren nach Cuba weiterliefern soll, und ist für den Kaufvertrag die Geltung des Rechts von New York vereinbart, so wäre dieses Verbot Teil des Vertragsstatuts. Das Verbot verstößt jedoch gegen den deutschen ordre public (Art. 5 Abs. 1 der EG-Verordnung v. 22.11.1996 Nr 2271/96 verbietet sogar die Befolgung). Der Kaufvertrag untersteht weiter dem Recht von New York; das Verbot kann außer Anwendung bleiben, ohne dass eine Regelungslücke eintritt.

 

597

3. Häufiger wird das anwendbare Recht durch die Streichung einer ordre public-widrigen Bestimmung unvollständig. Die entstandene Lücke wird in diesem Fall so schonend wie möglich in Anlehnung an das fremde Recht in seinem mit dem ordre public vereinbaren Restbestand geschlossen, wenn dies möglich ist.[16] Dazu kann auch eine Lückenfüllung durch modifizierte Anwendung der Rechtsgedanken des fremden Rechts in Betracht kommen. Es ist dann eine Lösung zu suchen, die den Prinzipien des fremden Rechts unter Aussparung der nicht anwendbaren Norm entspricht.[17] Dabei kann auch auf Rechtsprinzipien derselben Rechtsfamilie zurückgegriffen werden.

598

4. Nur wenn eine solche Lückenfüllung nicht gelingt oder der Verstoß gegen den deutschen ordre public gerade im Fehlen einer nach Grundsätzen des deutschen Rechts erforderlichen Regelung besteht bzw wenn auch die Anwendung des Restbestandes der fremden Rechtsordnung gegen den ordre public verstieße,[18] kommt als ultima ratio die Anwendung deutschen Rechts als Ersatzrecht in Betracht.[19] Auch in diesem Fall ist jedoch die Anwendung deutschen Rechts auf die zu schließende Lücke zu begrenzen und wirkt nicht weiter als unbedingt notwendig.[20]

Eine ausdrückliche Kodifikation dieses Prinzips enthielt Art. 17 Abs. 1 S. 2 aF und in ähnlicher Weise Art. 10 Rom III-VO: Sieht ein anwendbares Scheidungsstatut keine Möglichkeit zur Ehescheidung vor, so lässt sich nicht durch Lückenfüllung eine solche entwickeln; hier hilft nur die Anwendung der lex fori. Beide Normen regeln einen kodifizierten bzw speziellen ordre public-Vorbehalt und treten neben den allgemeinen ordre public-Vorbehalt