Internationales Privatrecht

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II. Vorfrage und Erstfrage

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Eine Vorfrage im Tatbestand einer deutschen Kollisionsnorm wird oft als Erstfrage oder kollisionsrechtliche Vorfrage bezeichnet. Wichtiger als diese Nomenklatur ist die strukturelle Besonderheit der Erstfragen. In einer logisch aufgebauten Abfolge der Fallprüfung ist in dem Zeitpunkt, da sich die Erstfrage stellt, eine lex causae noch nicht gefunden. Damit kann für die Beantwortung der Erstfrage immer nur vom eigenen Recht ausgegangen werden, wobei sich allerdings die Alternative zwischen dem materiellen Recht der lex fori (man wendet das BGB an) und dem IPR der lex fori (man wendet das vom EGBGB für die Materie der Erstfrage berufene Recht an) stellt; richtig dürfte es sein, vom IPR auszugehen.

Art. 21 handelt von dem Rechtsverhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern. Die Frage, ob zwischen drei Personen K, V und M eine Beziehung von einem „Kind“ und seinen „Eltern“ existiert, berührt ein präjudizielles Rechtsverhältnis, also eine Erstfrage; erforderlich ist, dass K von M und V im Rechtssinne abstammt, worüber das gemäß Art. 19 bestimmte Abstammungsstatut entscheidet. Falsch wäre es, „Kind“ in Art. 21 in einem natürlich-biologischen Sinn als reine Tatsache aufzufassen.

III. Vorfragen in materiellen Normen

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1. Vorfragen im Tatbestand einer materiellen deutschen Norm (deutsches Recht ist lex causae) lassen in gleicher Weise nur die Alternative zwischen der Ausfüllung der Vorfrage nach deutschem Recht und der Anwendung des deutschen IPR. In diesem Fall ist noch nicht einmal potentiell eine fremde Rechtsordnung beteiligt, da die Hauptfrage ja vom deutschen Recht bestimmt wird.

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2. Vorfragen im Tatbestand einer ausländischen Rechtsnorm treten seltener im IPR, häufig aber im materiellen Recht auf. Da die Verweisung einen Lebenssachverhalt nur deshalb der fremden lex causae übergibt, weil er als einem bestimmten Statut zugehörig qualifiziert ist und dieses Statut den bestimmten Systembegriff beherrscht, kann nicht ohne weiteres jede präjudizielle Frage auch nach dieser Rechtsordnung beantwortet werden. Vor allem käme es zu merkwürdigen Ergebnissen, wenn ein in vielen Konstellationen vorgreifliches Rechtsverhältnis immer nach dem Statut der jeweiligen Hauptfrage – mit wechselnden Ergebnissen im selben Fall – beantwortet würde.

Das Bestehen einer Ehe ist vorgreiflich für das Ehewirkungs-, das Ehegüter-, das Unterhalts- und das Erbstatut. Ist zB die materielle Wirksamkeit der Ehe fraglich, so besteht die Gefahr, dass deutsche Gerichte für güterrechtliche Ansprüche von einer wirksamen Ehe, für das Erbrecht aber von einer Nichtehe ausgehen.

IV. Teilfrage

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Gelegentlich wird gegen die Vorfrage und Erstfrage die sog Teilfrage abgegrenzt. Die Figur der Teilfrage bezieht sich auf die Anknüpfung im deutschen IPR, dort aber nicht auf präjudizielle Fragen. Gemeint sind solche Elemente des einheitlichen Lebenssachverhalts, die im IPR aus der Hauptfrage herausgelöst und einem eigenen Statut unterstellt werden. Anders als bei der Vorfrage oder Erstfrage hängt hier die Anknüpfung der Hauptfrage nicht von der Beantwortung der abgespaltenen Teilfrage ab.

Hat ein Deutscher ein Testament in den USA errichtet, später die brasilianische Staatsangehörigkeit erworben und verstirbt mit Wohnsitz in Brasilien, so beurteilt sich die Beerbung (Hauptfrage) nach brasilianischem Recht. Die Formwirksamkeit des Testaments (Teilfrage) bestimmt sich aber nach dem Haager Testamentsformübereinkommen (alternative Anknüpfungen) und die Testierfähigkeit (Teilfrage) nach dem Erbstatut im Zeitpunkt der Testamentserrichtung (Art. 26 Abs. 5 S. 1 aF/Art. 24 Abs. 1 EU-ErbVO).

501

Teilfragen können rechtspolitisch problematisch werden, wenn das IPR einen Lebenssachverhalt so zersplittert, dass die Ergebnisse der verschiedenen Teilstatute zueinander inkompatibel sind.

V. Vorfrage und Rechtsfolge

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Nicht mit einer Vorfrage zu verwechseln ist die Folgerung aus einer Vorfrage, die in einer ausländischen lex causae ggf in anderer Weise gezogen wird als im deutschen Recht. Theoretisch liegt der Unterschied zur Vorfrage auf der Hand: Die Folgerung aus einer bestimmten Beantwortung der Vorfrage steht auf der Rechtsfolgenseite der ausländischen Bestimmung. Die Vorfrage gehört zum Tatbestand, ist für diesen präjudiziell. In der praktischen Fallbehandlung sind diese Bereiche schwer abzugrenzen, wenn die ausländische Rechtsordnung einen rechtlich relevanten Vorgang nicht oder nicht mit denselben Folgen anerkennt, wie das deutsche Recht.

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In der dem Spanier-Beschluss des BVerfG vorangehenden, die nun in Art. 13 Abs. 2 Nr 3 geregelte Situation betreffenden Entscheidung formulierte der BGH[1] unzutreffend eine Vorfrage als Rechtsfolgenproblem: Es geht nicht darum, ob das (damals geltende!) spanische Familienrecht einem Spanier die Ehe mit einer geschiedenen Deutschen erlaubte (=Rechtsfolge), sondern um die sich im Rahmen des Ehehindernisses der Bigamie stellende Vorfrage nach der bestehenden Ehe der geschiedenen deutschen Verlobten. Beantwortet man diese Vorfrage in selbständiger Anknüpfung, so hätte die Wertung des spanischen Rechts keine Rolle spielen dürfen. Das BVerfG[2] erkennt zutreffend, dass der sich aus einer äußeren Entscheidungsharmonie (mit dem spanischen Recht die Verlobte als verheiratet zu betrachten…) ergebende innere Widerspruch (…obwohl sie vor deutschen Gerichten geschieden war) die Eheschließungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG) verletzt.

Teil II Allgemeine Lehren des IPR › § 5 Erstfrage, Vorfrage und Substitution › B. Anknüpfung

B. Anknüpfung

I. Beantwortung nach der lex fori

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1. Die einfachste Lösung bestünde darin, die Vorfrage ohne Einschaltung eines IPR nach deutschem Recht zu beantworten. Diese Methode hat den offenkundigen Nachteil, dass die Erst- oder Vorfrage nach einer Rechtsordnung behandelt würde, die über diese Frage nicht zu befinden hätte, wenn sie sich isoliert als Hauptfrage stellt. Da anlässlich der Beurteilung als Hauptfrage immer das IPR vorzuschalten ist – das deutsche IPR, wenn man die Frage aus deutscher Sicht, ein ausländisches IPR, wenn man sie aus der Sicht dieser Rechtsordnung behandelt – erscheint die Beantwortung lege fori systematisch falsch.

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2. Dennoch ist in Ausnahmefällen eine andere Lösung nicht praktikabel. Diese Methode muss immer dann in Betracht gezogen werden, wenn ansonsten die Ermittlung der maßgeblichen Rechtsordnung in einen logischen Zirkel gerät, insbesondere wenn ein Anknüpfungsmerkmal für das gesuchte Statut erst nach Ermittlung dieses Statuts feststeht.

Solche Situationen treten vor allem bei der Abstammung auf; eine typische Verwicklung dieser Art schufen Art. 18, 20 EGBGB der Fassung bis 1986; dort war die Anknüpfung der Abstammung von der Ehelichkeit abhängig, obgleich damals die Ehelichkeit im materiellen Recht durch Abstammung von verheirateten Eltern begründet wurde. Da seit 1.7.1998 das deutsche IPR die Abstammung eines Kindes einheitlich dem Aufenthaltsrecht unterstellt (Art. 19 Abs. 1), sind solche Situationen aus deutscher Sicht selten geworden. Durch Verweisung in andere Rechtsordnungen treten sie aber weiter auf: Wird ein Kind, dessen Mutter Italienerin und dessen – vermutlicher – Vater Deutscher ist, mit erstem gewöhnlichen Aufenthalt in Italien geboren, so verweist Art. 19 Abs. 1 für die Abstammung in italienisches IPR (Gesamtverweisung). Dieses knüpft an die Staatsangehörigkeit des Kindes an und verweist damit zurück, falls das Kind ausschließlich Deutscher ist, es nimmt die Verweisung an, wenn das Kind auch Italiener ist. In dieser Lage hängt die Anknüpfung der Abstammung von der Staatsangehörigkeit des Kindes ab, diese aber von der Abstammung, die es gerade anzuknüpfen gilt. Diesem Zirkel entkommt man, indem die Abstammung als Grundlage des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit nach der deutschen lex fori bestimmt wird.

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3. Im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht wird die anknüpfungslose Behandlung von Vorfragen vor allem für den Erwerb der Staatsangehörigkeit aufgrund Adoption vertreten. Wenn § 6 StAG „mit der nach den deutschen Gesetzen wirksamen Annahme als Kind durch einen Deutschen“ den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit verbindet, so muss dies nach dem Wortlaut zwar nicht zwingend bedeuten, dass auf das deutsche materielle Recht abgestellt wird. Dennoch wird sicher eine beliebige nach §§ 2 ff AdWirkG sowie § 108 FamFG anerkannte und damit „nach deutschen Gesetzen wirksame“ Adoption nicht genügen können, um die deutsche Staatsangehörigkeit weiterzugeben. Grund hierfür ist, dass „Adoption“ als nur rechtlich hergestellte Verwandtschaftsbeziehung kein rechtsvergleichend harmonisch ausgefülltes Institut ist wie „Verwandtschaft“. Der Inhalt einer Adoption ergibt sich, auch wenn sie nach §§ 108, 109 FamFG anerkannt wird, aus dem jeweiligen Gesetz, nach dem sie ausgesprochen wurde. Die möglichen Wirkungen reichen von der Volladoption des deutschen Rechts bis hin zu bloßen Namensadoptionen ohne Verwandtschaftsfolgen. Die deutsche Staatsangehörigkeit soll nur eine den deutschen Maßstäben entsprechende volle Adoption vermitteln (vgl zur Substitution Rn 537 ff, 548); hierzu muss die Adoption jedoch nicht notwendig nach deutschem materiellem Recht stattgefunden haben; es genügt auch eine Adoption, deren Wirkungen weitestgehend denen einer deutschen Adoption entsprechen.[3]

 

II. Selbständige Anknüpfung nach der lex fori

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1. Die regelmäßige Behandlung von Erst- und Vorfragen erfolgt durch selbständige Anknüpfung nach der deutschen lex fori, also nach deutschem IPR. Es wird somit für die Erst- oder Vorfrage eigenständig das Statut ermittelt, welches auch maßgeblich wäre, wenn die Frage als Hauptfrage aufträte.

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2. Für die Vorfrage im deutschen IPR (Erstfrage) ist diese Methode zwingend – soweit nicht unmittelbar materielles deutsches Recht angewendet wird (Rn 504 ff). Da bei Anknüpfung der Hauptfrage nach dem deutschen IPR noch keine ausländische Rechtsordnung beteiligt ist, kann die Erstfrage nur aus Sicht des deutschen IPR behandelt werden.

Ein Italiener und eine Österreicherin haben auf einer Urlaubsreise in Jamaica geheiratet, hatten aber beide bereits vorher in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Wie bestimmt sich das Ehegüterstatut, wenn die formelle Wirksamkeit der Ehe fraglich ist? Das Güterstatut ist nach Art. 15 Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr 2 zu bestimmen, da die Ehegatten nie eine gemeinsame Staatsangehörigkeit hatten. Voraussetzung ist aber, dass es sich um „Ehegatten“ handelt. Dies wirft die Vorfrage der wirksamen Eheschließung auf, die selbständig nach Art. 11 (der in formeller Hinsicht bei Eheschließung im Ausland gilt) angeknüpft wird; es genügt jedenfalls alternativ die Wahrung des Rechts des ausländischen Eheschließungsortes.

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3. Dasselbe gilt für Vorfragen, die in einer materiellen Norm des deutschen Rechts (lex causae) auftreten. Auch hier gibt es keine ausländische beteiligte Rechtsordnung. Das gilt auch, wenn deutsches Recht kraft Rückverweisung Anwendung findet, selbst wenn das rückverweisende IPR die Vorfragenbehandlung anders sieht.

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4. Auch bei Auftreten der Vorfrage im Tatbestand einer ausländischen Norm (materiell oder IPR) ist grundsätzlich selbständig anzuknüpfen. Es wird also das Statut der Vorfrage gesondert nach dem deutschen IPR ermittelt. In diesem Fall führt die selbständige Vorfragenanknüpfung dazu, dass aus deutscher Sicht auf die Vorfrage möglicherweise ein anderes Recht angewendet wird, als aus Sicht der Rechtsordnung der Hauptfrage anzuwenden wäre.

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Die italienische Staatsangehörige M ist die Mutter des Kindes K. M hat ein Jahr vor der Geburt des K mit dem deutschen Staatsangehörigen V die Ehe geschlossen. Die Eheschließung erfolgte in Deutschland vor einem katholischen Priester, ohne dass eine standesamtliche Eheschließung vorlag. Die Mutter und das Kind haben gewöhnlichen Aufenthalt in Italien. Ist V Vater des K?

Da Art. 19 Abs. 1 S. 1 die Abstammung einheitlich anknüpft, spielt es für die Grundanknüpfung keine Rolle, ob die Mutter M (wirksam) verheiratet ist. Anwendbar ist das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes, also italienisches Recht. Diese Gesamtverweisung führt in ein IPR, das zwischen ehelicher und nichtehelicher Abstammung unterscheidet. Art. 33 Abs. 1 des italIPRG bestimmt den Status nach dem Heimatrecht des Kindes bei Geburt; da die Mutter Italienerin ist, hat das Kind jedenfalls diese Staatsangehörigkeit erworben, diese geht aus italienischer Sicht jeder anderen kollisionsrechtlich vor. Damit ist italienisches Recht anzuwenden. In Art. 231 codice civile („Der Ehemann ist der Vater eines während der Ehe empfangenen Kindes“) stellt sich die Vorfrage, ob zwischen M und V eine Ehe bestand. Diese Vorfrage knüpfen wir selbständig an; es kommt bei Eheschließung im Inland Art. 13 Abs. 3 S. 1 zur Anwendung, so dass die Ehe mangels Wahrung der deutschen Eheschließungsform unheilbar Nichtehe ist. Dieses Ergebnis nimmt keine Rücksicht darauf, ob aus italienischer Sicht die Ehe als wirksam und damit das Kind als ehelich angesehen wird.

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5. Die selbständige Anknüpfung fördert den internen Entscheidungseinklang. Ein vorgreifliches Rechtsverhältnis wird unabhängig davon, in welcher Hauptfrage es auftritt, vor deutschen Gerichten und Behörden immer gleich behandelt.[4] Da eine fallweise Beurteilung des Rechtsverhältnisses nach der jeweiligen lex causae zu Ungereimtheiten führt, die dem Rechtssuchenden nicht verständlich zu machen sind, ist die grundsätzliche Entscheidung für die selbständige Anknüpfung zustimmungswürdig.

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Andererseits gerät die selbständige Anknüpfung in Konflikt mit dem äußeren Entscheidungseinklang, denn die Vorfrage wird ohne Rücksicht auf die Sicht des Rechts der jeweiligen Hauptfrage entschieden. Dieser Effekt kann nicht ignoriert werden, denn der äußere Entscheidungseinklang ist ebenfalls ein Ziel, welches das deutsche IPR anstrebt. Die Technik des renvoi wird ja vor allem deshalb praktiziert, um zu einem äußeren Entscheidungseinklang zu gelangen.

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In der Abwägung zwischen beiden Zielen erscheint aber innere Entscheidungsharmonie vorzugswürdig. Dass deutsche Gerichte einen Fall gelegentlich anders entscheiden, als Gerichte eines anderen Staates dies täten, liegt in der Natur unterschiedlicher Rechtssysteme; es ist zwar misslich, wenn ein Paar in einem Staat als verheiratet, in einem anderen als unverheiratet gilt, also in einer „hinkenden Ehe“ lebt. Schlichtweg unbegreiflich ist ein solches Ergebnis jedoch auch für den Rechtssuchenden nicht.

III. Unselbständige Anknüpfung nach der lex causae

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1. Ausnahmsweise findet die Technik der unselbständigen Anknüpfung der Vorfrage Anwendung. Diese kommt nur für die Anknüpfung von Vorfragen im Tatbestand einer ausländischen materiellen Norm in Betracht. Die Erstfrage im deutschen IPR und die Vorfrage im ausländischen IPR können noch nicht nach einer lex causae beurteilt werden, da sie sich stellen, ehe eine lex causae ermittelt ist.

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2. Unselbständige Anknüpfung bedeutet die Beantwortung der Vorfrage nach dem Recht, welches die lex causae in ihrem IPR beruft. Es wird also – im Unterschied zur unmittelbaren Anwendung der lex causae – nicht deren materielles Recht auf die Vorfrage angewendet. Vielmehr wird die Vorfrage als eigenständig anzuknüpfende Frage, jedoch aus der Sicht eines Gerichts im Land der lex causae beurteilt. Meistens wird die unselbständige Anknüpfung zum äußeren Entscheidungseinklang führen.

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3. Eine unselbständige Anknüpfung findet nur ausnahmsweise statt, wenn der äußere Entscheidungseinklang in einem Bereich aus besonderen Gründen so wichtig wird, dass der innere Entscheidungseinklang zurücktreten muss. Das ist vor allem in einzelnen Personenstandsfragen der Fall, um für die Beteiligten unerträgliche Ergebnisse zu vermeiden.

518

a) Im internationalen Namensrecht werden Vorfragen nach der Abstammung grundsätzlich unselbständig an das Namensstatut, also das Heimatrecht (Art. 10 Abs. 1) angeknüpft. Der Name hat Identifikations- und Ausweisfunktion; es ist sehr nachteilig, wenn jemand in Deutschland einen anderen Namen führt, als in seinem – vom Heimatstaat ausgestellten – Personalausweis vermerkt ist. Der Name hat eine Ordnungsfunktion: Zweck der Anknüpfung der Namensführung an das Personalstatut ist es, dass die Person auch aus deutscher Sicht den Namen führt, den sie nach ihrem Heimatrecht führt. Daher sind, soweit es um den Namen geht, familienrechtliche Vorgänge unselbständig anzuknüpfen und gleichfalls nach dem durch das Personalstatut berufenen Recht zu beurteilen.[5]

519

b) Familienrechtliche Verhältnisse (Abstammung, Eheschließung) als Vorfragen des Staatsangehörigkeitserwerbs werden unselbständig angeknüpft, soweit nicht sogar unmittelbar das Familienrecht des betroffenen Staates – ohne Vorfragenanknüpfung – angewendet wird (vgl Rn 506 zur Adoption). Insoweit verlaufen nicht nur die individuellen Interessen ähnlich wie im Namensrecht; die Staatsangehörigkeit hat Ordnungsfunktion und kann nicht abweichend von der Sicht des betroffenen Staates beurteilt werden. Es kommt hier noch der völkerrechtliche Aspekt hinzu, dass ein Staat nicht eine Person als Staatsangehörigen eines anderen Staates ansehen kann, wenn der betroffene Staat dies nicht tut. Das kann dazu führen, dass ein Kind eine ausländische Staatsangehörigkeit von einem Elternteil erwirbt, der bei Anknüpfung nach Art. 19 aus Sicht des deutschen Rechts nicht Elternteil ist.[6]

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c) Vorfragen in einem von völkervertraglichen Kollisionsnormen berufenen Recht müssen ebenfalls unselbständig angeknüpft werden; das durch solche Verträge angestrebte Ziel der Vereinheitlichung der Rechtsanwendung ist nur durch äußeren Entscheidungseinklang sinnvoll zu verwirklichen.

Die Verwandtschaft als Vorfrage einer Unterhaltspflicht wurde unter Geltung des HUntStÜbk 1973 nach dem IPR der Rechtsordnung angeknüpft, die Art. 4 bis 6 HUntStÜbk 1973 beriefen. Sie wurde aber nicht unmittelbar nach den materiellen Vorschriften dieser Rechtsordnung beantwortet (vgl Rn 523 ff), weil Art. 2 Abs. 2 des Übereinkommens das Bestehen der für den Unterhaltsanspruch vorgreiflichen familienrechtlichen Beziehungen aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens ausklammert. Daran hat sich unter Art. 1 HUntStProt 2007 nichts geändert, auch wenn eine Art. 2 Abs. 2 HUntStÜbk 1973 entsprechende ausdrückliche Regelung fehlt. Das Unterhaltsstatut bestimmt Ob und Umfang des Anspruchs (Art. 11 HUntStProt 2007) aus einer Familienbeziehung (Art. 1 HUntStProt 2007), nicht aber deren Bestehen.

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Nicht zu vermeiden ist dagegen, dass Erstfragen, die in der Anwendung völkervertraglicher Kollisionsnormen auftreten, selbständig angeknüpft werden; Erstfragen können immer nur selbständig angeknüpft werden (Rn 508), weil in diesem Stadium der Prüfung noch keine lex causae ermittelt ist. Etwas anderes gilt, wenn die völkervertragliche Kollisionsnorm für eine Erstfrage eine interne Definition vornimmt, um den Rückgriff auf andere Rechtsordnungen zu vermeiden, der zu einer uneinheitlichen Anwendung führen würde.

Art. 15 iVm Art. 5 ff KSÜ setzen voraus, dass die betroffene Person ein „Kind“ ist. Art. 2 KSÜ definiert den Begriff des Kindes autonom.

522

d) Ähnlich wie im völkervertraglichen IPR ergeben sich auch im EuIPR Vorfragen- und Erstfragenprobleme. Ausdrückliche Bereichsausnahmen verdeutlichen, dass die Kollisionsnormen einer Verordnung bestimmte Vorfragen nicht erfassen, sich also nach einem anders angeknüpften Recht beurteilen. Klar ist damit, dass diese Vorfragen nach nationalem IPR oder einem anderen, ihre Materie erfassenden europäischen oder völkervertraglichen Rechtsinstrument anzuknüpfen sind. Nicht eindeutig ist dagegen, ob bei nationalem IPR das IPR der lex fori (selbständige Anknüpfung) oder das der europarechtlich bestimmten lex causae (unselbständige Anknüpfung) anzuwenden ist.

 

ZB formuliert Art. 1 Abs. 2 Rom III-VO eine Bereichsausnahme für die Vorfrage des Bestehens der Ehe (Art. 1 Abs. 2 lit. b Rom III-VO), die nicht dem von Art. 5 ff Rom III-VO geregelten Scheidungsstatut unterliegt. Damit bietet sich eine selbständige Anknüpfung lege fori oder, ebenso wie im völkervertraglichen IPR, die unselbständige Anknüpfung an das IPR des vereinheitlichten Scheidungsstatuts an, um auch für die Vorfrage Entscheidungseinklang zu erreichen. Zwar fördert die unselbständige Anknüpfung das Ziel einheitlicher Entscheidung in allen Mitgliedstaaten; andererseits ist gerade bei der Ehe als Vorfrage der innere Entscheidungseinklang stark gestört. Bei Erstfragen im EuIPR führt auch die lex fori-Anknüpfung dann zu Entscheidungseinklang mit anderen Mitgliedstaaten, wenn sich die Frage in einem (anderen) kollisionsrechtlich oder materiell-rechtlich EU-rechtlich harmonisierten Rechtsgebiet stellt.

Ein Beispiel autonomer Ausfüllung einer Erstfrage durch Rückgriff auf vereinheitlichtes materielles Recht ergibt sich in Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO, wo der „Verbraucher“ in derselben Weise definiert wird, wie bereits in zahlreichen verbraucherschützenden Richtlinien, die auch für § 13 BGB Pate standen. Gäbe es die Definition in Art. 6 Rom I-VO nicht, so müsste der Rechtsanwender für die Beantwortung der Erstfrage (Ist der Beteiligte X Verbraucher?) auf jene EU-rechtlich harmonisierten materiellen Regelungen zurückgreifen.

Literatur:

Gössl Die Vorfrage im Internationalen Privatrecht der EU, ZfRV 2011, 65; Henrich Die Wirksamkeit der Adoption als Vorfrage der Namensführung des Adoptierten, IPRax 1998, 96.