Internationales Privatrecht

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IV. Mehrrechtsstaaten im EuIPR

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1. Ist die Verweisung in Mehrrechtsstaaten durch Kollisionsnormen im EU-Recht eine Sachnormverweisung (Rn 391 ff), so interessiert gespaltenes IPR nicht. In Anwendung von Art. 34 EU-ErbVO muss dagegen bei Mehrrechtsstaaten, wie im deutschen IPR, ein maßgebliches IPR eines Teilgebiets des verwiesenen Staates ermittelt werden. Da es dem EuIPR an einer einheitlichen Kodifikation mit einem allgemeinen Teil des IPR mangelt, enthält jede einzelne Verordnung Bestimmungen zur Unteranknüpfung (Art. 22 Rom I-VO, Art. 25 Rom II-VO, Art. 14 ff Rom III-VO, Art. 15 EG-UntVO iVm Art. 15 ff HUntStProt 2007; Art. 36, 37 EU-ErbVO; Art. 33, 34 EU-EheGüterVO/EU-ELPGüterVO).

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2. Bei interlokaler Spaltung wird jede Teil-Jurisdiktion wie ein eigenständiger Staat behandelt (Art. 22 Abs. 1 Rom I-VO, Art. 25 Abs. 1 Rom II-VO, Art. 14 Rom III-VO). Räumliche Bezugnahmen führen ohne weiteres in eine Teilrechtsordnung. Interlokales Recht der verwiesenen Rechtsordnung spielt keine Rolle. Anders verfahren Art. 15 EG-UntVO iVm Art. 16 Abs. 2 HUntStProt 2007, Art. 36 Abs. 1 EU-ErbVO und Art. 33 Abs. 1 EU-EheGüterVO/EU-ELPGüterVO: Dort bestimmt primär das interlokale Recht des verwiesenen Staates; nur bei Ermangelung eines einheitlichen interlokalen Rechts weist räumliche Bezugnahme der Kollisionsnorm unmittelbar in eine Teilrechtsordnung.

Bezugnahmen einer Kollisionsnorm auf die Staatsangehörigkeit sind in Art. 14 lit. c Rom III-VO, Art. 15 EG-UntVO iVm Art. 16 Abs. 1 lit. d, e HUntStProt 2007, Art. 36 Abs. 1, Abs. 2 lit. b EU-ErbVO und Art. 33 Abs. 1 lit. b EU-EheGüterVO/EU-ELPGüterVO behandelt: Sie werden über das interlokale Recht des verwiesenen Staates auf die Teilrechtsordnungen verteilt; fehlt eine interlokale Regelung, so ist die engste Verbindung maßgeblich. Soweit eine Rechtswahlbefugnis besteht (Rom III-VO und EU-EheGüterVO/EU-ELPGüterVO), ist auch die unmittelbare Wahl einer Teilrechtsordnung zuzulassen.

Haben deutsche Ehegatten, die in London leben, als Scheidungsstatut „das Recht des Vereinigten Königreichs“ vereinbart (wählbar nach Art. 5 Abs. 1 lit. a Rom III-VO) und leben sie bei Antragstellung in Deutschland, so wird mangels interlokaler Regelungen im Recht des UK auf die engste Verbindung abgestellt, die hier zum englischen Recht besteht. Besser beraten hätten sie sogleich englisches Recht wählen können.

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3. Mit interpersonaler Spaltung befassen sich Art. 15 Rom III-VO, Art. 15 EG-UntVO iVm Art. 17 HUntStProt 2007, Art. 37 EU-ErbVO und Art. 34 EU-EheGüterVO/EU-ELPGüterVO: Nach allen Normen bestimmt vorrangig das interne Kollisionsrecht der verwiesenen Rechtsordnung; bei Fehlen entscheidet jeweils die engste Verbindung. In Art. 17 HUntStProt 2007 ist dies nicht ausdrücklich bestimmt, sollte aber im Wege einer Gesamtanalogie ebenso gehandhabt werden. Bei interpersonaler Spaltung kann die jeweils auf Rechtsordnungen bestimmter Staaten eingeschränkte Rechtswahlbefugnis nicht auf eine interpersonale Rechtsordnung bezogen werden.

Haben ägyptische Ehegatten, der Ehemann sunnitischer Muslim, die Ehefrau koptische Christin, ägyptisches Recht als Scheidungsstatut gewählt (zulässig nach Art. 5 Abs. 1 lit. c Rom III-VO; beachte: die Rom III-VO ist loi uniforme gemäß Art. 4 Rom III-VO, ein Bezug zu einem anderen teilnehmenden Mitgliedstaat also nicht erforderlich), so ist die Ehe gemäß dem internen ägyptischen Kollisionsrecht nach sunnitisch-islamischem Recht zu scheiden. Den Ehegatten ist es nach Art. 15 Rom III-VO nicht möglich, eine andere interne Rechtsordnung Ägyptens zu wählen.

Ein wenig sonderbar mutet folgender Fall an: Leben zwei deutsche Ehegatten in Ägypten, wählen ägyptisches Recht als Scheidungsstatut (wirksam nach Art. 5 Abs. 1 lit. a Rom III-VO) und konvertiert der Ehemann zum sunnitischen Islam, so gilt für die Bestimmung des Scheidungsstatuts vor einem deutschen Gericht wiederum Art. 15 Rom III-VO. Zwar beurteilt das interne ägyptische Kollisionsrecht religiöse Mischehen nach der Religion des Mannes, was vor ägyptischen Gerichten aber nur relevant wird, wenn das ägyptische IPR das ägyptische Recht beruft. Die beiden Deutschen würden somit ohnehin in Ägypten nach deutschem Heimatrecht des Ehemannes (Art. 13 Abs. 1 ägyptZGB[81]) geschieden werden. Da Art. 5 Rom III-VO jedoch keine Gesamtverweisung ausspricht, bleibt diese Sicht ägyptischer Gerichte irrelevant; das deutsche Familiengericht muss eine interpersonale Anknüpfung für die Ehescheidung verschiedenreligiöser Deutscher im ägyptischen Recht suchen. Ob die dann naheliegende Übernahme der Anknüpfung an die Religion des Mannes ordre public-widrig ist, erscheint angesichts der einvernehmlichen Unterstellung unter ägyptisches Scheidungsrecht fraglich.

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4. Da EuIPR nicht auf die inneren Verhältnisse eines Mitgliedstaates regelnd zugreifen kann, ist kein Mitgliedstaat mit mehreren Rechtsordnungen verpflichtet, seine internen Rechtskollisionen nach den Bestimmungen der jeweiligen EG-/EU-Verordnung zu beurteilen (Art. 22 Abs. 2 Rom I-VO, Art. 25 Abs. 2 Rom II-VO, Art. 16 Rom III-VO, Art. 38 EU-ErbVO, Art. 35 EU-EheGüterVO/EU-ELPGüterVO). Im Erb- und Ehegüterrecht betrifft dies mangels Teilnahme des UK insbesondere Spanien und seine Foralrechte (leyes forales).[82]

Teil II Allgemeine Lehren des IPR › § 3 Verweisung › D. Intertemporale Kollisionen

D. Intertemporale Kollisionen

I. Methoden der Anknüpfung

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1. Intertemporale Kollisionen (Rn 16 ff) können an jeder Stelle der Verweisung auftreten. Die Ablösung von altem durch neues Recht kann im deutschen und im ausländischen IPR sowie in der schließlich anwendbaren materiellen Rechtsordnung zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Beginn des Sachverhalts, betrachtet als natürlicher Lebensvorgang, erfolgt sein.

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2. Für die intertemporale Frage (ist altes oder neues Recht anzuwenden?) kommt Art. 4 Abs. 3 nicht unmittelbar zur Anwendung, da mit „Teilrechtsordnung“ nicht aufeinanderfolgende, in einem einheitlichen Rechtsgebiet geltende Regelungen gemeint sind. Das Grundprinzip zur Lösung ähnelt jedoch der Idee des Art. 4 Abs. 3: Es entscheidet die Rechtsordnung, in der die Reform des Rechts stattgefunden hat, welche Sachverhalte von der Reform erfasst sind.

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3. Theoretisch führt dieses Prinzip immer zum Ziel, denn jede Rechtsordnung muss wissen, ob sie auf einen bestimmten Sachverhalt noch das alte oder schon das neue Recht anwendet. Die Schwierigkeit intertemporaler Fälle liegt im Tatsächlichen: Viele Gesetzgeber sehen keine ausdrücklichen intertemporalen Regelungen vor oder begnügen sich mit der Kodifikation des Grundsatzes, dass Gesetze nicht zurückwirken. Nicht-Rückwirkung ist aber die Kehrseite von Abgeschlossenheit: Ist ein Fall abgeschlossen, so wäre die Anwendung neuen Rechts Rückwirkung. Das intertemporale Problem wird also durch das Rückwirkungsverbot nur umformuliert.

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Im deutschen Recht herrscht der Grundsatz, dass ein Erbfall abgeschlossen ist mit seinem Eintritt durch den Tod des Erblassers (vgl Art. 220 Abs. 1, Art. 235 § 1). Im russischen Recht galt anlässlich einiger Reformen im 20. Jahrhundert ein Erbfall dagegen erst als abgeschlossen, wenn die gerichtliche Nachlassabwicklung stattgefunden hat.

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Die Vielfalt möglicher intertemporaler Gestaltungen lässt sich an den Übergangsbestimmungen zu zwei umfangreichen deutschen Rechtsreformen, dem Gesetz zur Neuregelung des IPR von 1986 und der Überleitung des Bundesrechts auf das Beitrittsgebiet im Einigungsvertrag von 1990, betrachten (Rn 420 ff, 428 ff).

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Ebenfalls intertemporale Fragen wirft das Inkrafttreten von Normen des EuIPR auf, da diese nationale Kollisionsregeln ablösen. Bisher enthalten die jeweiligen Verordnungen hierzu Bestimmungen, wobei zu unterscheiden ist zwischen dem Inkrafttreten, der Geltung und der intertemporalen Anwendbarkeit. Das Inkrafttreten bezieht sich auf die Wirksamkeit als Norm; soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist (zB in Art. 29 S. 1 Rom I-VO), tritt eine Verordnung am Tag nach der Veröffentlichung im ABl. EU in Kraft. Die Geltung ist regelmäßig in einer Schlussbestimmung hinausgeschoben, insbesondere um den Mitgliedstaaten Zeit für Durchführungsbestimmungen und/oder die Schaffung notwendiger behördlicher Strukturen zu geben (Art. 29 S. 2 Rom I-VO, Art. 32 Rom II-VO, Art. 21 S. 2 Rom III-VO; Art. 76 EG-UntVO; Art. 84 Abs. 2 EU-ErbVO; Art. 70 Abs. 2 UAbs. 2 EU-EheGüterVO; Art. 70 Abs. 2 UAbs. 2 EU-ELPGüterVO). Die intertemporale Frage regeln hingegen Bestimmungen, die als „Übergangsbestimmungen“ oder „Zeitliche Anwendbarkeit“ überschrieben sind. Die Rom I-VO gilt nur für Verträge, die seit dem 17.12.2009 geschlossen wurden (Art. 28 Rom I-VO); die Rom II-VO gilt für „schadensbegrün-dende“[83] Ereignisse, die seit dem 11.1.2009 eintreten (ungenau Art. 31, 32 Rom II-VO). Die EU-ErbVO gilt für Erbfälle, die seit dem 17.8.2015 eintreten (Art. 83 EU-ErbVO). Art. 75 Abs. 1 EG-UntVO (ab 18.6.2010) und Art. 18 Abs. 1 Rom III-VO (ab 21.6.2012) stellen grundsätzlich auf die Verfahrenseinleitung ab, so dass in am Stichtag anhängigen Fällen altes IPR anwendbar bleibt. Die EU-EheGüterVO und die EU-ELPGüterVO gelten mit Ausnahme einer Rechtswahl nur für Ehen bzw ELPen, die ab[84] dem 29.1.2019 (Art. 69 Abs. 3 EU-EheGüterVO/EU-ELPGüterVO) geschlossen wurden.

 

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Deutsche Ehegatten schließen in 2011 einen Ehevertrag, in dem sie deutsches Recht als Scheidungsstatut vereinbaren. Anfang 2012 nehmen sie gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat. Wird Scheidungsantrag vor dem 21.6.2012 bei Gericht eingereicht, so ist diese Rechtswahlvereinbarung vor den zuständigen (Art. 3 Abs. 1 lit. a Str. 1 Brüssel IIa-VO) Gerichten des neuen Aufenthaltsstaates nur gültig, wenn das bisherige dortige IPR die Rechtswahl erlaubt; der ungenau formulierte Art. 18 Abs. 2 Rom III-VO gilt nicht für eine Rechtswahl in Altverfahren. Wurde der Scheidungsantrag ab dem 21.6.2012 anhängig, so erstarkt die bereits vorher geschlossene Rechtswahlvereinbarung, da sie Art. 7 Abs. 1 Rom III-VO (Schriftform) sowie zusätzlich der im deutschen Recht (Art. 7 Abs. 2 Rom III-VO) bestimmten Form des Ehevertrages (Art. 46d Abs. 1) genügt und Art. 18 Abs. 2 Rom III-VO insoweit eine Ausnahme vom Grundsatz der Geltung ab Verfahrenseinleitung macht.

II. Übergangsvorschrift zum IPR-Neuregelungsgesetz

1. Grundregel

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a) Am 1.9.1986 ist neues IPR (Art. 3 ff) in Kraft getreten. Art. 220 regelt, welches internationale Privatrecht intertemporal anzuwenden ist. Art. 220 Abs. 1 enthält den im deutschen Recht üblichen intertemporalen Grundsatz, dass auf vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossene Vorgänge das bisherige Recht anzuwenden ist. Diese Regelung ist Ausdruck des Vertrauensschutzes. Die Gesetzesänderung soll nicht in Sachverhalte eingreifen, die bereits zu Rechtsfolgen geführt haben.

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b) Da es sich um die Inkraftsetzung von neuem IPR handelte, ist umstritten, wann ein Vorgang im Rechtssinne abgeschlossen ist. Der BGH hält einen Vorgang schon für abgeschlossen, wenn er unwandelbar angeknüpft ist; die im Schrifttum herrschende Meinung[85] verlangt dagegen, dass bereits materielle Rechtsfolgen im konkreten Fall eingetreten sind, weil die bloß theoretische Anknüpfung an ein bestimmtes Recht noch keine rechtliche Auswirkung hat, in die Vertrauen bestehen könnte. Besonders deutlich wird dies bei Verfahren, die den familienrechtlichen Status umgestalten, insbesondere bei Scheidungsverfahren, für die der BGH auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit, die Gegenansicht auf den Zeitpunkt der – materiellen – Auflösung der Ehe abstellt.[86] Die Ansicht des BGH hat freilich den Vorteil, dass im Scheidungsverfahren das Scheidungsstatut nicht mehr wechseln konnte.

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c) In vielen Fällen ist die Abgeschlossenheit unproblematisch: Erbfälle sind mit dem Tod des Erblassers abgeschlossen – nach § 1922 BGB treten ohne Gestaltung Rechtsfolgen ein; entsprechend entscheidet nun auch Art. 83 EU-ErbVO. Abstammungsfragen mit der Geburt – es wird nur festgestellt, aber nicht umgestaltet, wer Vater und Mutter sind; Schuldverträge (außer Dauerschuldverhältnisse) mit ihrem Abschluss – weil dieser Rechtsfolgen hervorbringt.

Literatur:

Dörner Brautkindlegitimation – Anknüpfung und intertemporales Kollisionsrecht, IPRax 1988, 222, 224; Rauscher Neues Scheidungsstatut in schwebenden Scheidungsverfahren, IPRax 1987, 137; ders. Regelwidriger Versorgungsausgleich (Art. 17 III 2 EGBGB) und Abgeschlossenheit (Art. 220 I EGBGB), IPRax 1989, 224; Hepting Was sind abgeschlossene Vorgänge im Sinne des Art. 220 Abs. 1 EGBGB?, StAZ 1987, 188 ff.

2. Dauerschuldverhältnisse

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a) Auf vertragliche Dauerschuldverhältnisse wendet die hM Art. 220 Abs. 1 an, stellt also auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses ab. Dabei bleibt es den Vertragsparteien immer unbenommen, nach neuem IPR eine Rechtswahl zu treffen (Art. 27 Abs. 2 aF). Ebenso entscheidet Art. 29 Rom I-VO.

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b) Das Bundesarbeitsgericht[87] wendet dagegen den Rechtsgedanken des Art. 220 Abs. 2 entsprechend an und unterstellt vertragliche Dauerschuldverhältnisse ab dem Inkrafttreten des IPRG neuem Kollisionsrecht, knüpft also die Wirkungen des Vertrages nach dem 1.9.1986 neu an. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch bei Dauerschuldverhältnissen die Vertragsparteien auf das bei Vertragsschluss bestimmte Vertragsstatut vertrauen und deshalb nur im Einverständnis ein neues Vertragsstatut eintreten sollte.

3. Familienrechtliche Rechtsverhältnisse

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Für familienrechtliche Rechtsverhältnisse bestimmt Art. 220 Abs. 2 eine Ausnahme: Ihre Wirkungen unterliegen vom Stichtag 1.9.1986 an dem neuen IPR.

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Dagegen wird der nach früherem Recht erlangte familienrechtliche Status nicht von dem dadurch möglicherweise eintretenden Statutenwechsel berührt; Ehen und Kindschaftsverhältnisse bleiben – selbstverständlich – bestehen.

4. Ehegüterrecht

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Für das Ehegüterrecht hat der Gesetzgeber in Art. 220 Abs. 3 eine sehr komplizierte Übergangsregelung geschaffen, die Vertrauensschutz gewähren soll, aber verfassungsrechtlich bedenklich ist (dazu unten Rn 802 ff).

III. Innerdeutsches Kollisionsrecht, Einigungsvertrag

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1. Bis zum 2.10.1990 wendeten Gerichte der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zur DDR nicht die Bestimmungen des IPR an, da die DDR staatsrechtlich nicht Ausland war. Es wurden vielmehr aus den Grundsätzen des IPR entsprechende innerdeutsche Kollisionsregeln entwickelt, wobei an die Stelle der Staatsangehörigkeit der gewöhnliche Aufenthalt in einem der beiden deutschen Staaten trat.

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Die DDR wendete hingegen das Rechtsanwendungsgesetz v. 5.12.1975[88] auch im Verhältnis zur Bundesrepublik, die sie als Ausland betrachtete, an.

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2. Durch den Einigungsvertrag ist eine komplexe intertemporale Situation eingetreten; es wurde nahezu das gesamte Recht der Bundesrepublik – darunter auch das Zivilrecht – am 3.10.1990 im Beitrittsgebiet in Kraft gesetzt. Eine Besonderheit dieses Vorgangs besteht darin, dass er nur aus Sicht des Beitrittsgebiets als intertemporale Frage anzusehen ist; aus Sicht des bisherigen Bundesgebiets liegt dagegen keinerlei Rechtsänderung vor. Art. 230 bis 236 bestimmen (mit zahlreichen späteren Änderungen, die vor allem die Sachen- und Schuldrechtsbereinigung betreffen) Übergangsregelungen, die den intertemporalen Vorgang aus Sicht der ehemaligen DDR/des Beitrittsgebietes behandeln, dabei aber nicht berücksichtigen, dass sich das EGBGB an alle deutschen Gerichte wendet, also auch an jene in den alten Bundesländern, für die vom 2.10. zum 3.10.1990 keine Rechtsänderung erfolgte.

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3. Die inzwischen ganz herrschende Ansicht ordnet deshalb jeden Sachverhalt, der eine Übergangsfrage im „innerdeutschen“ Verhältnis betrifft, zunächst einem der beiden ehemaligen Teile zu. Nur wenn der Sachverhalt vor dem 2.10.1990 der DDR zugeordnet war, wird er als Übergangsfall nach Art. 230 ff behandelt. Maßstab für diese Zuordnung ist das vor dem 3.10.1990 angewendete innerdeutsche Kollisionsrecht (vgl Rn 428).

Ist 1989 in Leipzig ein vietnamesischer Staatsangehöriger verstorben, der dort und in Düsseldorf je ein Bankguthaben hatte, so ist schon fraglich, welches IPR anzuwenden ist. Art. 236 § 1 behandelt den Übergang zum 3.10.1990 wortgleich mit dem für das Inkrafttreten des IPRG am 1.9.1986 geschaffenen Art. 220 Abs. 1. Das „bisherige IPR“ ist nur aus Sicht des Beitrittsgebietes ein anderes IPR als das „neue IPR“, weil dort bis 2.10.1990 das Rechtsanwendungsgesetz galt. Also muss zunächst festgestellt werden, ob es sich um einen „DDR-Altfall“ handelt. Zwar hatte der Erblasser seinen letzten Wohnsitz in der DDR. Bis zum 2.10.1990 hätten bundesdeutsche Nachlassgerichte aber eine Zuständigkeit zur Erteilung eines Erbscheins nach § 2369 BGB für den Nachlass im Bundesgebiet gehabt und zur Bestimmung des Erbstatuts Art. 25 Abs. 1 (idF 1986) angewendet; daran soll sich nichts ändern, nur weil der Erbschein – zufällig – erst nach dem 3.10.1990 beantragt wird. Dasselbe gilt für den beweglichen Nachlass in der ehemaligen DDR; insoweit ist das dortige und nach Art. 236 § 1 intertemporal das bisherige IPR anzuwenden, also § 25 Abs. 1 RAG.

Literatur:

Dörner Das deutsche Interlokale Privatrecht nach dem Einigungsvertrag, FS W. Lorenz (1991) 321; Staudinger/Rauscher (2016) Art. 230 EGBGB Rn 45-89.

Teil II Allgemeine Lehren des IPR › § 3 Verweisung › E. Statutenwechsel und Anknüpfungszeitpunkt

E. Statutenwechsel und Anknüpfungszeitpunkt

I. Begriff Statutenwechsel

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1. Als Statutenwechsel werden unterschiedliche Phänomene bezeichnet.

Im engeren Sinn bedeutet er eine Veränderung der für das jeweilige Rechtsverhältnis maßgeblichen Rechtsordnung durch Änderung der anknüpfungsrelevanten Tatsachen bei gleichbleibenden Rechtsnormen.

Nach Art. 14 Abs. 1 Nr 2 ist in einer gemischtnationalen Ehe Ehewirkungsstatut das Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts. Leben die Ehegatten zunächst in Frankreich und ziehen dann gemeinsam nach Deutschland um, so ändert sich die anknüpfungsrelevante Tatsache ihres gewöhnlichen Aufenthalts. Damit ändert sich das für ihre Ehewirkungen maßgebliche Recht, ohne dass in irgendeiner Rechtsordnung eine Rechtsvorschrift geändert würde. Zuerst war französisches Recht anwendbar, nun ist es deutsches.

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2. In einem weiteren Sinn wird aber auch der Wechsel des anwendbaren Rechts, der auf einer Rechtsänderung im eigenen oder ausländischen IPR beruht, als Statutenwechsel bezeichnet.

Verschiedennationale Ehegatten leben seit ihrer Eheschließung (1960) in Deutschland. Bis 8.4.1983 haben sie ein englisches Ehegüterstatut, weil der Ehemann Brite mit letztem britischen gewöhnlichem Aufenthalt in London (Unteranknüpfung an die Teilrechtsordnung von England) ist (Art. 220 Abs. 3 S. 1 Nr 3), ab 9.4.1983 haben sie ein deutsches Ehegüterstatut nach Art. 220 Abs. 3 S. 2, 3 (vgl Rn 427). Grund des Statutenwechsels ist, dass das deutsche IPR bei unveränderten tatsächlichen Verhältnissen auf ein anderes Anknüpfungskriterium abstellt.

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3. Gegen den Statutenwechsel abzugrenzen ist die materielle Rechtsänderung im maßgeblichen Recht.

Ein deutsches Ehepaar lebt seit Eheschließung (1955) in Deutschland. Im Jahr 1957 tritt der Güterstand der Zugewinngemeinschaft in Kraft. Hier hat nicht die anzuwendende Rechtsordnung (das „Statut“) gewechselt, sondern der Inhalt dieser Rechtsordnung. Ob das neue Recht anwendbar ist, ist eine intertemporale Frage im materiellen Recht.