Internationales Privatrecht

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2. Alternative Anknüpfung

316

a) Alternative Anknüpfung bedeutet die Bereitstellung mehrerer auf gleicher Stufe stehender Anknüpfungskriterien, unter denen das Gesetz keinen Vorrang bestimmt. Die berufenen Rechtsordnungen kommen wahlweise zur Anwendung, auch wenn die Anknüpfungskriterien für mehrere Alternativen erfüllt sind.

317

aa) Diese Regelungsmethode wird eingesetzt, um ein materielles Ergebnis zu begünstigen, das abstrakt wünschenswert erscheint. Damit nehmen Wertungen des materiellen Rechts Einfluss auf das IPR. Die Kollisionsnorm schafft aber nicht das erwünschte Ergebnis; sie erleichtert nur sein Zustandekommen, indem sie unterschiedliche Rechtsordnungen zur Verfügung stellt. Genügt der Tatbestand auch nur den Voraussetzungen einer dieser Rechtsordnungen, so soll das Rechtsverhältnis wirksam sein.

318

bb) Alternative Anknüpfungen enthalten


Art. 11 Abs. 1; Art. 11 Abs. 1 Rom I-VO: Die Formwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts wird begünstigt durch wahlweise Anknüpfung an das Recht des Abschlussortes oder das Recht des Geschäftsinhalts.

319


Art. 1 Haager Testamentsformübereinkommen: Die Formwirksamkeit eines Testaments wird durch zahlreiche alternative Anknüpfungen begünstigt.

320


im internationalen Deliktsrecht wird bei sog „Distanzdelikten“ (Auseinanderfallen von Handlungs- und Erfolgsort) der Geschädigte im Anwendungsbereich von Art. 40 begünstigt durch ein Bestimmungsrecht; er kann statt der Anknüpfung an das Recht am Ort der schädigenden Handlung das Recht am Ort des Eintritts des schädigenden Erfolgs zur Anwendung bringen (Art. 40 Abs. 1 S. 2, 3); vor 1999 handelte es sich um eine von Amts wegen auszuwählende alternative Anknüpfung. In Art. 4 Rom II-VO, der an den Erfolgsort anknüpft, ist ein Günstigkeitsprinzip nach Wahl des Geschädigten oder des Gerichts hingegen nicht mehr vorgesehen.

321

b) Ein Sonderfall ist die alternative Zusatzanknüpfung.

aa) Tritt die gewünschte Rechtsfolge nicht nach dem primär anwendbaren Recht ein, so ist eine weitere Rechtsordnung berufen, die zur Wirksamkeit führen kann. Im Gegensatz zur alternativen Anknüpfung ist hier fraglich, ob die Anknüpfung erster Stufe erfolglos geprüft werden muss, um das in zweiter Stufe berufene Recht anwenden zu können. Häufig kann dies verneint werden: Wenn die Kollisionsnorm ein rechtliches Ergebnis anstrebt, kann dieses Ergebnis auch nach einer nur subsidiär-alternativ formulierten Zusatzanknüpfung festgestellt werden. Das gilt nicht, wenn das IPR an die Feststellung bzw Gestaltung eines Rechtsverhältnisses nach einer Rechtsordnung auch weitere Rechtsfolgen nach dieser Rechtsordnung knüpft (zB Art. 17 Abs. 1 S. 1 und S. 2 aF: der Scheidungsausspruch nach einem Recht bestimmt auch Scheidungsfolgen nach diesem Recht, so dass die vorgegebene Reihenfolge gewahrt werden muss).

322

Von der subsidiären Anknüpfung (Rn 311 ff) unterscheidet sich diese Technik dadurch, dass die Subsidiarität nicht auf der Tatbestandsseite, sondern auf der Rechtsfolgenseite der Kollisionsnorm besteht: Subsidiäre Anknüpfungen greifen ein, wenn ein Anknüpfungsmerkmal nicht gegeben ist; alternative Zusatzanknüpfungen greifen ein, wenn ein berufenes Recht nicht zu dem gewünschten Erfolg führt.

323

bb) Alternative Zusatzanknüpfungen finden sich vor allem im Kindschaftsrecht:


Art. 19 Abs. 1 S. 1 unterstellt die Abstammung eines Kindes primär dem Recht an dessen gewöhnlichem Aufenthalt; Art. 19 Abs. 1 S. 2 erlaubt auch die Bestimmung nach dem Heimatrecht des jeweiligen Elternteils, Art. 19 Abs. 1 S. 3 nach dem Ehewirkungsstatut der Mutter, wenn diese verheiratet ist (vgl dazu auch Rn 326 ff: bedingte alternative Anknüpfung). Begünstigt wird die Feststellung der Eltern-Kind-Beziehung als solche, dh das Ergebnis ist die Abstammung oder die Nicht-Abstammung. Die Rechtsfolgen aus dieser Beziehung sind unabhängig (Art. 21: immer nach dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt) von der Rechtsordnung, nach der die Beziehung begründet wurde. Deshalb kann, wie schon unter dem bis 30.6.1998 geltenden Recht, die Zusatzanknüpfung sogleich geprüft werden, ohne dass die Primäranknüpfung versagt hat.

324


Art. 20 S. 1 unterstellt die Anfechtung der Abstammung primär dem Recht, nach dem die Abstammung besteht; mit der alternativen Zusatzanknüpfung an das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 20 S. 2) wird die Abstammungswahrheit begünstigt. Man könnte nun denken, dass wegen der Primäranknüpfung an das Feststellungsstatut die Reihenfolge der in Art. 19 Abs. 1 berufenen Rechte doch eine Bedeutung erlangt; das trifft aber nicht zu, weil Art. 20 seinerseits keine Reihung vorsieht, sondern eine Anfechtung der Abstammung „in jedem Fall“ nach dem Recht des Aufenthaltsstaates erlaubt, also auch dann, wenn bei der Feststellung der Abstammung diese Anknüpfung „übergangen“ wurde.

325


Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 2, 4 Haager Unterhaltsstatutprotokoll 2007 berufen zum Zweck der Begünstigung bestimmter Unterhaltsbedürftiger (Art. 4 Abs. 1 HUntStProt 2007) nacheinander das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsgläubigers, die lex fori und das gemeinsame Heimatrecht. Diese alternativen Zusatzanknüpfungen stehen aber in einem echten Subsidiaritätsverhältnis; mit der Auswahl des Unterhaltsstatuts sind nämlich immer weitere Rechtsfolgen, insbesondere die Bemessung des Unterhalts, verbunden.

326

c) Alternative Anknüpfungen können auch mit Bedingungen versehen sein. In diesem Fall kann die angestrebte Begünstigung durch alternative Anwendung einer weiteren Rechtsordnung nur dann eintreten, wenn das Rechtsverhältnis einen besonderen Bezug zu dieser weiteren Rechtsordnung hat.

327


Art. 13 Abs. 1 unterstellt die materiellen Voraussetzungen einer Eheschließung dem Heimatrecht jedes der Verlobten; Art. 13 Abs. 2 begünstigt die Eheschließungsfreiheit durch eine alternative Anknüpfung an deutsches Recht, falls eine Voraussetzung nach einem Heimatrecht fehlt. Diese alternative Anknüpfung greift aber nur unter den drei in Abs. 2 genannten Bedingungen.

328


Art. 10 Rom III-VO begünstigt die Ehescheidungsfreiheit und die Gleichberechtigung im Zugang zur Ehescheidung durch Anwendung der lex fori, falls das reguläre Scheidungsstatut der Art. 5 und 8 Rom III-VO die Scheidung nicht vorsieht oder einem der Ehegatten aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit keinen gleichberechtigten Zugang zur Ehescheidung gewährt. Da sich einzelne Scheidungsfolgen (Unterhalt eingeschränkt nach Art. 5, 8 Abs. 1 lit. d HUntStProt 2007; Versorgungsausgleich nach Art. 17 Abs. 3 S. 1) nach dem Scheidungsstatut bestimmen, ist diese bedingte alternative Anknüpfung subsidiär zu handhaben; es kann also nicht dahinstehen, nach welchem Recht eine Ehe geschieden wird.

329

Davon zu unterscheiden sind reine Rechtsbedingungen.


zB Art. 19 Abs. 1 S. 3, Rn 323: an ein Ehewirkungsstatut der Mutter kann nur angeknüpft werden, wenn die Mutter verheiratet ist.

3. Kumulative Anknüpfung

330

a) Kumulative Anknüpfung bedeutet Häufung von Anknüpfungskriterien.

aa) Dies kann in der Weise erfolgen, dass jedes Anknüpfungskriterium zu einer Rechtsordnung weist, was zur Anwendung mehrerer Rechtsordnungen zugleich im selben Fall führt (Kumulation von anwendbaren Rechten).

 

331

bb) Zweck der Kumulation von Rechten ist es, für das Zustandekommen eines Rechtsverhältnisses die Voraussetzungen jeder der beteiligten Rechtsordnungen zu wahren. Dieser Anknüpfungstypus verfolgt also einen zur alternativen Anknüpfung gegenläufigen Zweck: Es soll nicht das Zustandekommen möglichst begünstigt werden; das Rechtsverhältnis soll vielmehr aus der Sicht aller beteiligten Rechtsordnungen wirksam sein oder sonst besser nicht zustande kommen. Kumulative Anknüpfung beugt – in der Entstehung angewendet – „hinkenden Rechtsverhältnissen“ (hier wirksam, dort unwirksam) vor, führt dadurch aber auch zur Versagung von Ansprüchen oder zur Unwirksamkeit von Rechtsverhältnissen, wo solche nach einem der betroffenen Rechte durchaus bestehen würden. Teilweise wird eine Kumulation auch eingesetzt, um schutzwürdigen Beteiligten die Berufung auf ein ihnen nahestehendes Recht zu ermöglichen.

Die kumulative Anwendung der beiden Heimatrechte der Nupturienten auf die materiellen Voraussetzungen der Eheschließung (Art. 13 Abs. 1) verhindert eine Eheschließung in Deutschland, wenn auch nur nach einem Heimatrecht eine Eheschließungsvoraussetzung fehlt. Wurde die Ehe im Ausland geschlossen, so schließt sich eine kumulative Anknüpfung der Heimatrechtsordnung an, welche die Ehe als mangelhaft ansieht; nachträglich kann ein „Hinken“ nicht vermieden werden, es muss aus Sicht des deutschen IPR entschieden werden, welcher Beurteilung man sich anschließt.

332

Wenn eine kumulativ berufene Rechtsordnung Voraussetzungen für ein Rechtsverhältnis normiert, bestimmt sie auch über die Folgen des Fehlens von Voraussetzungen. Leidet das Rechtsverhältnis in mehreren beteiligten Rechtsordnungen an demselben Mangel, so können dennoch unterschiedliche Mangelfolgen angeordnet sein. Widersprechen sich diese Mangelfolgen, so können sie nicht zugleich eingreifen. Es ist dann zu entscheiden, ob die dem Rechtsgeschäft am stärksten entgegenstehende Mangelfolge Anwendung findet (Anwendung des ärgeren Rechts) oder die dem Rechtsgeschäft am wenigsten schädliche (Anwendung des milderen Rechts). Da grundsätzlich die Kumulation von Rechten die Wirksamkeit in allen beteiligten Rechtsordnungen anstrebt und die Wirksamkeit versagt, wenn auch nur eine der Rechtsordnungen dies tut, kommt es regelmäßig zur Anwendung des „ärgeren“ Rechts, das die härteste Mangelfolge vorsieht.

333

cc) Kumulation von Rechten findet sich im deutschen IPR:


in Art. 13 Abs. 1: Eine Ehe kann nur geschlossen werden bzw eine geschlossene Ehe ist nur wirksam, wenn die materiellen Voraussetzungen nach dem Heimatrecht des Mannes und der Frau erfüllt sind. Art. 13 Abs. 1 ist auch ein klassisches Beispiel für die Anwendung des ärgeren Rechts: Leidet die Ehe aus Sicht der beiden kumulierten Rechtsordnungen unter demselben Mangel, so bestimmt das ärgere Recht die Mangelfolge, zB Heirat einer bereits verheirateten muslimischen Iranerin mit einem Deutschen; nach islamischem Recht (Heimatrecht der Frau) ist die zweite Ehe einer Frau zu Lebzeiten des ersten Mannes von Anfang an nichtig; nach deutschem Recht (Heimatrecht des Mannes) ist die Ehe mit einem bereits verheirateten Ehegatten nur auf Antrag durch das Familiengericht aufhebbar (§ 1314 Abs. 1 BGB). Das iranisch-muslimische Recht bestimmt in diesem Fall als das „ärgere“ Recht die Rechtsfolge: Nichtigkeit.

334


Art. 23 verlangt für eine Abstammungserklärung, Adoption oder Namenserteilung zusätzlich zu den nach dem jeweiligen Statut (Art. 10, 19, 22) erforderlichen Zustimmungen die Zustimmung der nach dem Heimatrecht des Kindes Zustimmungsberechtigten. Für jede Zustimmung beurteilt sich die Folge ihres Fehlens nach dem Recht, das die Zustimmung erforderlich macht, ggf nach dem ärgsten Recht.

335

Nur für Einzelfragen des jeweiligen Statuts sehen einige Kollisionsnormen kumulative Anknüpfungen vor:


Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO erlaubt einem Vertragspartner die Abwehr der Interpretation seines Verhaltens als Zustimmung durch Berufung auf das Aufenthaltsrecht.
Art. 17 Abs. 3 S. 1 bestimmt eine Durchführung des Versorgungsausgleichs von Amts wegen (nur) bei deutschem Scheidungsstatut; S. 1 Hs. 2 lässt ihn aber nur stattfinden, wenn zusätzlich (insoweit kumulativ) das Heimatrecht eines der Ehegatten (insoweit alternativ) ihn kennt.
Art. 6 Haager Unterhaltsstatutprotokoll 2007 erlaubt dem Unterhaltsverpflichteten ua in der Seitenlinie den Einwand, dass nach dem gemeinsamen Heimatrecht und nach dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Verpflichteten eine solche Pflicht nicht besteht; es muss also sowohl nach dem Unterhaltsstatut als auch nach einer der in Art. 6 HUntStProt 2007 genannten Rechtsordnungen Unterhalt geschuldet sein.

336

b) Ein zweiter Typus der Häufung führt nur zur Anwendung einer Rechtsordnung, setzt aber voraus, dass alle kumulierten Kriterien zu derselben Rechtsordnung weisen. Ist dies nicht der Fall, so versagt das Anknüpfungskriterium, und es greift ein subsidiäres Anknüpfungskriterium (soeben Rn 330 ff) ein (Kumulation von Anwendungsvoraussetzungen).

337

Zweck der Kumulation von Anwendungsvoraussetzungen ist es, eine bestimmte Rechtsordnung nur dann anzuwenden, wenn mehrere Kriterien auf sie hindeuten, die jeweils isoliert betrachtet nicht stark genug wären, den Schwerpunkt des Rechtsverhältnisses zu bestimmen.

338

Kumulation von Anwendungsvoraussetzungen findet sich im deutschen IPR selten und nur in Kollisionsnormen, die dem Richter eine Abwägung erlauben.

Eine offensichtlich engere Verbindung iSd Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO (vgl Rn 341) zu einer anderen als der in Art. 4 Abs. 1, 2 Rom I-VO bestimmten Rechtsordnung besteht nur dann, wenn mehrere – nicht notwendig abschließend bestimmte – relevante Kriterien (zB Vertragssprache und –währung und Staatsangehörigkeit der Parteien) in Richtung einer Rechtsordnung weisen.

4. Ausweichklauseln

339

a) Ausweichklauseln sind Anknüpfungsnormen, die alternativ neben die Grundsatzanknüpfung treten, jedoch im Gegensatz zu alternativen Anknüpfungen die Anwendung einer anderen als der grundsätzlich verwiesenen Rechtsordnung nur für Ausnahmefälle erlauben. Solche Kollisionsnormen sind rechtspolitisch umstritten. Sie ermöglichen es zwar dem Gericht, in besonderen Fällen ein kollisionsrechtlich gerechteres (oder gerechter scheinendes) Ergebnis zu erzielen; andererseits werden die Autorität und die Verlässlichkeit der vom Gesetzgeber normierten Kollisionsnorm untergraben. Dies stört empfindlich die Rechtssicherheit.

340

b) Im geltenden deutschen IPR finden sich dennoch einige Ausweichklauseln.


Art. 23 S. 2 erlaubt, statt der Zustimmungserfordernisse nach dem Heimatrecht des Kindes jene nach deutschem Recht anzuwenden, soweit es zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Die Bestimmung soll Adoptionen und Abstammungsfeststellungen beschleunigen, die sich durch die Feststellung des Heimatrechts des Kindes verzögern würden; die Voraussetzung der Erforderlichkeit zum Wohl des Kindes ist jedoch eng auszulegen, um ein willkürliches Abgehen vom eigentlich anwendbaren Recht zu vermeiden.

341


Nach Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO gelten die objektiven Kriterien gemäß Art. 4 Abs. 1, 2 Rom I-VO nicht, wenn der Vertrag eine engere Verbindung mit einem anderen Staat aufweist. Diese Regelung macht deutlich, dass die objektiv formulierten Anknüpfungskriterien eher weiterhin widerlegbare Indizien in einer Schwerpunktbestimmung (vgl Rn 309) darstellen. Die Vorhersehbarkeit des anwendbaren Rechts ist hier schon durch die atypische Gewichtung der dem Vertrag anhaftenden Umstände, nicht aber durch zu weites richterliches Ermessen in Frage gestellt.

342


Erst recht spricht Vorhersehbarkeit nicht gegen die Ausweichklausel im außervertraglichen Schuldrecht (Art. 41 Abs. 1 bzw Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 2 Rom II-VO), weil dort schon das Ereignis selbst meist unvorhersehbar ist und in Fällen der Vorhersehbarkeit (zB Delikt innerhalb einer Rechtsbeziehung) erst die Ausweichklausel die Anwendung des von den Parteien erwarteten Rechts erlaubt (Art. 41 Abs. 2 Nr 1 bzw Art. 4 Abs. 3 S. 2, Art. 5 Abs. 2 S. 2 Rom II-VO).

343


Rechtspolitisch höchst umstritten war eine Ausweichklausel zur Durchsetzung von Eingriffsnormen eines Staates, dessen Rechtsordnung zu einem Vertrag Bezug hat, jedoch weder das Vertragsstatut stellt, noch die lex fori des mit dem Rechtsstreit befassten Gerichts. Art. 7 Abs. 1 EVÜ erlaubte, den Eingriffsnormen des Rechts eines solchen anderen Staates, mit dem der Sachverhalt eine enge Verbindung aufweist, Wirkung zu verleihen. Diese Regelung wollte dem Gericht im Einzelfall die Durchsetzung einer fallnahen Eingriffsnorm erlauben; Deutschland hatte hiergegen wegen der durch Art. 7 Abs. 1 des Übk. ausgelösten Ungebundenheit des richterlichen Ermessens einen – zugelassenen – Vorbehalt (Art. 22 Abs. 1 lit. a des Übereinkommens) erklärt und nur Art. 7 Abs. 2 EVÜ (Durchsetzung von Eingriffsnormen der lex fori) in Art. 34 aF umgesetzt. Ein inhaltlicher Kompromiss musste hingegen in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO gefunden werden, da der taktische Kompromiss eines Vorbehalts für eine unmittelbar geltende EU-Rechtsnorm nicht in Betracht kam: Einerseits blieb es bei der Ausweichklausel zugunsten von Eingriffsnormen, andererseits wurden die Voraussetzungen der Ausweichklausel stärker konkretisiert.

Teil II Allgemeine Lehren des IPR › § 3 Verweisung › B. Renvoi (Rück- und Weiterverweisung)

B. Renvoi (Rück- und Weiterverweisung)
I. Gesamtverweisung und Sachnormverweisung

1. Grundsatz Art. 4 Abs. 1 S. 1 Hs. 1

344

a) Eine Verweisung auf das Recht eines anderen Staates führt nach dem Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 S. 1 nicht unmittelbar in das materielle Recht, sondern auch auf das IPR dieses Staates; deutsche Kollisionsnormen verweisen also normalerweise auf das gesamte Recht eines anderen Staates (Gesamtverweisung). Es ist also zunächst das IPR des verwiesenen Rechts anzuwenden; maßgeblich ist immer das gegenwärtig geltende IPR; ob intertemporal früheres IPR anzuwenden ist, entscheidet die Rechtsordnung des verwiesenen Staates, nicht der deutsche Anknüpfungszeitpunkt.[60]

 

345

b) Diese schon vor dem 1.9.1986 bestehende Regel verfolgt den Zweck, internationalen Entscheidungseinklang zu erreichen. Auch ein Gericht des Staates, in den unsere Kollisionsnorm verweist, würde ja zunächst das eigene IPR anwenden. Sie erreicht diesen Zweck allerdings nicht vollständig: Folgen beide Staaten dem Grundsatz der Gesamtverweisung und erklären die beiden Kollisionsrechte das Recht des jeweils anderen Staates für anwendbar, so muss dieses Hin und Her der Verweisung irgendwo beendet werden, was letztlich zur Bevorzugung des eigenen Rechts führt.

346

c) Der Gegenbegriff zur Gesamtverweisung ist die Sachnormverweisung. Spricht eine deutsche Kollisionsnorm – ausnahmsweise – eine Verweisung auf „Sachvorschriften“ aus, so bezieht sie sich auf die (materiellen) Rechtsnormen der maßgebenden Rechtsordnung unter Ausschluss des IPR (Art. 3a Abs. 1).