Der Zauberberg. Volume 2

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"Woran Sie wohltun!" rief Settembrini dankbar.

" – Da hat er nun also eine Menge gegen das Geld geredet, die Seele des Staates, wie er sich ausdrückt, und gegen das Ei-gentum, weil es Diebstahl sei, kurz, gegen den kapitalistischen Reichtum, von dem er, glaube ich, sagte, er sei der Brennstoff des höllischen Feuers – so drückte er sich annähernd einmal aus, wenn ich nicht irre, und lobte das mittelalterliche Zinsverbot in allen Tönen. Und dabei, er selbst… Entschuldigen Sie, aber er muß doch … Es ist ja eine Überraschung sondergleichen, wenn man so bei ihm eintritt. All die Seide …"

"Ei, ja", lächelte Settembrini, "das ist eine charakteristische Geschmacksrichtung."

" … die schönen alten Meubles", erinnerte sich Hans Castorp weiter, "die Pietà aus dem vierzehnten Jahrhundert… Der venezianische Kronleuchter… der kleine Heiduck in Livree … und beliebig viel Schokoladebaumkuchen gab es auch … Er muß doch für seine Person –"

"Herr Naphta", antwortete Settembrini, "ist für seine Person so wenig Kapitalist wie ich."

"Aber?" fragte Hans Castorp … "Es ist nun ein Aber fällig in Ihrer Rede, Herr Settembrini."

"Nun, die dort lassen keinen darben, der zu ihnen gehört."

"Wer, "die dort'?"

"Jene Vater."

"Väter? Vater?"

"Aber, Ingenieur, ich meine die Jesuiten!"

Das gab eine Pause. Die Vettern zeigten größte Betroffenheit. Hans Castorp rief: "Was, Himmel, Kreuz, verflucht nochmal – der Mann ist ein Jesuit?!"

"Sie haben es erraten", sprach Herr Settembrini fein.

"Nein, nie im Leben hätte ich … Wer kommt denn auf so was! Darum also haben Sie ihn Padre tituliert?"

"Das war eine kleine Höflichkeitsübertreibung", entgegnete Settembrini. "Herr Naphta ist nicht Pater. Die Krankheit ist schuld daran, daß er es vorderhand nicht soweit gebracht hat. Aber er hat das Noviziat absolviert und die ersten Gelübde ge-tan. Die Krankheit zwang ihn, seine theologischen Studien zu unterbrechen. Er hat dann noch einige Jahre als Präfekt in ei-nem Ordensinstitut Dienst verrichtet, das heißt: als Aufseher, Präceptor, Gouverneur der jungen Zöglinge. Das kam seinen pädagogischen Neigungen entgegen. Hier kann er ihnen weiter nachhängen, indem er am Fridericianum Lateinisch lehrt. Er ist seit fünf Jahren hier. Es ist unsicher geworden, ob und wann er diesen Ort wird verlassen dürfen. Aber er ist Angehöriger des Ordens, und wäre er ihm selbst lockerer verbunden, es könnte ihm nirgends fehlen. Ich sagte Ihnen, daß er für seine Person arm, will sagen: besitzlos ist. Natürlich, das ist Vorschrift. Aber der Orden verfügt über ungemessene Reichtümer, und er sorgt für die Seinen, wie Sie sahen."

"Donner-keil", murmelte Hans Castorp. "Und ich habe überhaupt nicht gewußt und gedacht, daß es sowas in allem Ernste noch gäbe! Ein Jesuit. Ja so! … Aber sagen Sie mir eins: Wenn er nun also von dorther so wohl versorgt und versehen ist – warum in aller Welt wohnt er dann … Ich will gewiß Ih-rem Logis nicht zu nahe treten, Herr Settembrini, Sie haben es reizend bei Lukaçek, so angenehm separiert und außerdem be-sonders traulich. Ich meine aber: wenn Naphta es nun doch so dicke hat, um mich gewöhnlich auszudrücken – warum nimmt er sich nicht eine andere Wohnung, statiöser, mit ordentlichem Aufgang und großen Zimmern, in einem feinen Haus? Es hat ja direkt was Verstecktes und Abenteuerliches, wie er da in dem Loch mit all seiner Seide …"

Settembrini zuckte die Achseln.

"Es müssen wohl Takt – und Geschmacksgründe sein", sagte er, "die ihn dazu bestimmen. Ich nehme an, er verbessert sein antikapitalistisches Gewissen, indem er die Zimmer eines Ar-men bewohnt, und sich schadlos hält durch die Art, wie er sie bewohnt. Auch Diskretion wird im Spiele sein. Man bindet es den Leuten nicht auf die Nase, wie gut einen der Teufel von hinten versorgt. Man schützt eine recht unscheinbare Fassade vor und entfaltet dahinter seinen seidenen Priestergeschmack …"

"Hochmerkwürdig!" sagte Hans Castorp. "Absolut neu und geradezu aufregend für mich, wie ich gestehe. Nein, wir sind Ihnen wirklich zu Dank verbunden, Herr Settembrini, für diese Bekanntschaft. Wollen Sie glauben, daß wir noch manches liebe Mal hingehen werden und ihn besuchen? Das ist ausgemacht. So ein Umgang erweitert ja den Horizont in ganz unverhoff-tem Grade und gibt Einblick in eine Welt, von deren Existenz man keine blasse Ahnung hatte. Ein richtiger Jesuit! Und wenn ich sage: 'richtig', so gebe ich mir selbst das Stichwort, für das, was mir durch den Kopf geht, und was ich denn doch noch be-merken muß. Ich frage: Ist er denn richtig? Ich weiß wohl, Sie meinen, daß es überhaupt nicht richtig ist mit einem, den der Teufel von hinten versorgt. Was ich aber meine, läuft auf die Fragestellung hinaus: Ist er richtig als Jesuit – das geht mir im Kopf herum. Er hat da Dinge geäußert – Sie wissen, welche ich meine – über den modernen Kommunismus und über den Got-teseifer des Proletariats, das seine Hand nicht zurückhalten soll vom Blute – kurzum, Dinge, ich sage nichts weiter darüber, aber Ihr Großvater mit seiner Bürgerpike war ja das reine Lämmlein dagegen, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Geht denn das? Hat das die Zustimmung seiner Vorgesetzten? Verträgt es sich mit der römischen Lehre, für die doch der Orden in aller Welt intrigieren soll, soviel ich weiß? Ist es nicht – wie heißt das Wort – häretisch, abweichend, inkorrekt? Das überlege ich mir bezüglich Naphtas und hörte gern, was Sie denken."

Settembrini lächelte.

"Sehr einfach. Herr Naphta ist allerdings in erster Linie Jesuit, ist es recht und ganz. Zum zweiten aber ist er ein Mann von Geist – ich würde sonst nicht seine Gesellschaft suchen –, und als solcher trachtet er nach neuen Kombinationen, Anpassungen, Anknüpfungen, zeitgemäßen Abwandlungen. Sie sahen mich selbst überrascht durch seine Theorien. Er hatte sich mir so weitgehend noch nicht offenbart. Ich benutzte die Anregung, die ihm sichtlich Ihre Gegenwart gewährte, um ihn zu reizen, in gewisser Beziehung sein letztes Wort zu sagen. Es lautete schnurrig genug, gräßlich genug …"

"Ja, ja; aber warum ist er nicht Pater geworden? Er hätte doch wohl das Alter dazu."

"Ich sagte Ihnen ja, daß die Krankheit es war, die ihn vorläufig daran gehindert hat."

"Gut, aber meinen Sie nicht: wenn er erstens Jesuit ist und zweitens ein Mann von Geist, mit Kombinationen – daß dies zweite, Hinzukommende, mit der Krankheit zu tun hat?"

"Was wollen Sie damit sagen?"

"Nein, nein, Herr Settembrini. Ich meine nur: er hat eine feuchte Stelle, und die hindert ihn, Pater zu werden. Aber seine Kombinationen hätten ihn auch wohl daran gehindert, und in-sofern – gewissermaßen, gehören die Kombinationen und die feuchte Stelle zusammen. Er ist auf seine Art auch so was wie ein Sorgenkind des Lebens, ein joli jésuite mit einer petite tache humide."

Sie hatten das Sanatorium erreicht. Auf der Plattform vorm Hause blieben sie noch etwas stehen, bevor sie sich trennten, traten zu einer kleinen Gruppe zusammen, während ein paar Pa-tienten, die am Portal herumlungerten, ihrem Gespräche zusa-hen. Herr Settembrini sagte:

"Um es zu wiederholen, meine jungen Freunde, ich warne Sie. Ich kann Ihnen nicht verwehren, die einmal gemachte Be-kanntschaft zu kultivieren, wenn die Neugier Sie dazu treibt. Aber wappnen Sie Herz und Geist dabei mit Mißtrauen, lassen Sie es niemals fehlen an kritischem Widerstand. Ich werde Ihnen diesen Mann mit einem Worte kennzeichnen. Er ist ein Wollüstiger."

Die Gesichter der Vettern verzogen sich. Dann fragte Hans Castorp:

"Ein … wie? Erlauben Sie, er ist doch Ordensmann. Da sind ja bestimmte Gelübde zu leisten, soviel ich weiß, und außerdem ist er so miekerig und leibarm …"

"Sie reden töricht, Ingenieur", erwiderte Herr Settembrini. "Das hat mit Leibarmut gar nichts zu tun, und was die Gelübde betrifft, so gibt es da Vorbehalte. Ich sprach jedoch in einem weiteren und geistigeren Sinn, für den ich nachgerade Verständ-nis bei Ihnen sollte voraussetzen dürfen. Erinnern Sie sich wohl noch, wie ich Sie eines Tages auf Ihrem Zimmer besuchte – es ist lange her, furchtbar lange – , Sie absolvierten eben die Bett-ruhe nach erfolgter Aufnahme …"

"Selbstverständlich! Sie traten in der Dämmerung ein und machten Licht, ich weiß es wie heute …"

"Gut, damals kamen wir im Plaudern, wie es gottlob des öf-teren geschieht, auf höhere Gegenstände. Ich glaube gar, wir sprachen von Tod und Leben, von den Würden des Todes, inso-fern er Bedingung und Zubehör des Lebens ist, und von der Fratzenhaftigkeit, der er verfällt, wenn der Geist ihn abscheulicherweise als Prinzip isoliert. Meine Herren!" fuhr Herr Settembrini fort, indem er dicht vor die beiden jungen Leute hin-trat, Daumen und Mittelfinger der Linken gabelförmig gegen sie spreizte, gleichsam, um sie zur Aufmerksamkeit zusammen-zufassen, und den Zeigefinger der Rechten mahnend erhob … "Prägen Sie sich ein, daß der Geist souverän ist, sein Wille ist frei, er bestimmt die sittliche Welt. Isoliert er dualistisch den Tod, so wird derselbe durch diesen geistigen Willen wirklich und in der Tat, actu, Sie verstehen mich, zur eigenen, dem Leben entgegengesetzten Macht, zum widersacherischen Prinzip, zur großen Verführung, und sein Reich ist das der Wollust. Sie fragen mich, warum der Wollust? Ich antworte Ihnen: weil er löst und erlöst, weil er die Erlösung ist, aber nicht die Erlösung vom Übel, sondern die üble Erlösung. Er löst Sitte und Sittlich-keit, er erlöst von Zucht und Haltung, er macht frei zur Wollust. Wenn ich Sie warne vor dem Manne, dessen Bekanntschaft ich Ihnen ungern vermittelte, wenn ich Sie auffordere, im Verkehr und Diskurs mit ihm Ihre Herzen dreimal mit Kritik zu umgürten, so geschieht es, weil alle seine Gedanken wollüstiger Art sind, denn sie stehen unter dem Schutze des Todes, – einer höchst liederlichen Macht, wie ich Ihnen damals sagte, Inge-nieur, – ich erinnere mich wohl meines Ausdrucks, ich behalte tüchtige und treffliche Äußerungen, die zu tun ich Gelegenheit fand, stets im Gedächtnis – , einer gegen Gesittung, Fortschritt, Arbeit und Leben gerichteten Macht, vor deren mephitischem Hauch junge Seelen zu. schützen des Erziehers vornehmste Pflicht ist."

 

Man konnte nicht besser sprechen als Herr Settembrini, nicht klarer und gerundeter. Hans Castorp und Joachim Ziemßen be-dankten sich recht schön bei ihm für das Gehörte, empfahlen sich und erstiegen das Berghofportal, während Herr Settembrini, eine Treppe über Naphtas seidene Zelle hinaus, an sein Hu-manistenpult zurückkehrte.

Es war der erste Besuch der Vettern bei Naphta, dessen Verwir hier festhielten. Seither waren demselben zwei oder drei weitere gefolgt, einer sogar in Abwesenheit Herrn Settembrinis; und auch sie lieferten dem jungen Hans Castorp Stoff zur Betrachtung, wenn er, indes das Hochgebild, genannt Homo Dei, seinem inneren Auge vorschwebte, an dem blaublühenden Ort seiner Zurückgezogenheit saß und "regierte".

Jähzorn. Und noch etwas ganz Peinliches

So kam der August, und glücklich war unter seinen ersten Tagen der Jahrestag von unseres Helden Ankunft bei uns hier oben vorübergeschlüpft. Nur gut, daß er vorüber war – er hatte dem jungen Hans Castorp etwas unangenehm vorgestanden. So war es die Regel. Der Tag der Ankunft war nicht beliebt, es wurde seiner unter den Voll – und Mehrjährigen nicht gedacht, und während doch sonst kein Vorwand zu Festivität und Becher-klang unbenutzt blieb, die allgemeinen und großen Betonungen im Jahresrhythmus und – pulslauf durch möglichst viele private und irreguläre vermehrt und Geburtstage, Generaluntersuchun-gen, bevorstehende wilde oder echte Abreisen und dergleichen Anlässe mehr mit Schmaus und Pfropfenknall im Restaurant be-gangen wurden – widmete man diesem Gedenktage nichts als Stillschweigen, ließ sich darüber hinweggleiten, vergaß auch I wohl wirklich, auf ihn zu achten und durfte vertrauen, daß die andern ihn überhaupt nicht so genau im Sinne hatten. Auf Glie-derung hielt man wohl; man beobachtete den Kalender, den Turnus, die äußere Wiederkehr. Aber die Zeit, die sich für den einzelnen mit dem Raum hier oben verband, die persönliche und individuelle Zeit also zu messen und zu zählen war Sache der Kurzfristigen und Anfänger; die Eingesessenen lobten sich in dieser Hinsicht das Ungemessene und Achtlos-Ewige, den Tag, der immer derselbe war, und einer setzte mit Zartgefühl beim anderen einen Wunsch voraus, den er selber hegte. Es hätte für ganz und gar ungeschickt und brutal gegolten, jemandem zu sagen, heut sei er drei Jahre hier, – das kam nicht vor. Frau Stöhr selbst, so weit es ihr sonst immer fehlen mochte, in diesem Punkt war sie taktfest und abgeschliffen, nie wäre ein sol-cher Verstoß ihr unterlaufen. Ihr Kranksein, der Fieberstand ih-res Körpers war mit großer Unbildung verbunden, gewiß. Noch kürzlich hatte sie bei Tische von der "Affektation" ihrer Lun-genspitzen gesprochen und, als das Gespräch auf historische Dinge gekommen war, erklärt, Geschichtszahlen seien nun ein-mal ihr "Ring des Polykrates", was ebenfalls eine gewisse Er-starrung der Umsitzenden hervorgerufen hatte. Aber daß sie et-wa im Februar den jungen Ziemßen an sein Jubiläum hätte erinnern sollen, wäre undenkbar gewesen, obgleich sie wahr-scheinlich daran gedacht hatte. Denn ihr unseliger Kopf war na-türlich voll unnützer Daten und Dinge, und sie liebte es, anderen nachzurechnen; aber die Sitte hielt sie im Zaum.

So denn auch an Hans Castorps Tage. Sie hatte ihm wohl beim Essen einmal bedeutlich zuzuzwinkern versucht, aber da er dem Zeichen mit leerer Miene begegnet war, hatte sie sich schleunigst zurückgezogen. Auch Joachim hatte gegen den Vet-ter geschwiegen, und doch war er des Datums wohl eingedenk gewesen, an dem er den Zu-Besuch-Kommenden von Station "Dorf" abgeholt hatte. Aber Joachim, zum Reden von Natur schon nicht sehr geneigt, bei weitem nicht so, wie Hans Castorp es wenigstens hier oben geworden, von Humanisten und Rabu-listen ihrer Bekanntschaft ganz zu schweigen, – Joachim hatte sich in letzter Zeit eine besondere und auffallende Schweigsam-keit angeeignet, nur Einsilbigkeiten kamen noch über seine Lip-pen, aber in seiner Miene arbeitete es. Es war klar, daß sich für ihn mit Station "Dorf" andere Vorstellungen verbanden als die des Abholens und der Ankunft… Er stand in regem Brief-wechsel mit dem Flachlande. Entschlüsse reiften in ihm. Vorbe-reitungen, die er traf, näherten sich ihrem Abschluß.

Der Juli war warm und heiter gewesen. Aber mit Anbruch des neuen Monats fiel schlechtes Wetter ein, trübe Nässe, Schneeregen, dann unzweideutiger Schneefall, und mit Ein-schaltung einzelner prangender Sommertage dauerte das an, über das Monatsende hin, in den September hinein. Anfangs hielten die Zimmer sich noch warm von der vorhergegangenen Sommerperiode; man hatte zehn Grad darin, das galt für behag-lich. Aber rasch wurde es kälter und kälter, und man war froh über den Schnee, der das Tal bedeckte, denn sein Anblick – nur dieser, der Tiefstand der Temperatur allein wäre ohne Folge ge-blieben bewog die Verwaltung, zu heizen, zuerst nur den Speisesaal, dann auch die Zimmer, und man konnte, wenn man, nach geleistetem Liegedienst aus seinen zwei Decken gewickelt, von der Loggia hereinkam, mit den feuchtstarren Händen die belebten Röhren betasten, deren trockener Hauch freilich das Brennen der Wangen verstärkte.

War das der Winter? Die Sinne konnten sich diesem Ein-druck nicht entziehen, und man klagte, man sei "um den Sommer betrogen", obgleich man, unterstützt von natürlichen und künstlichen Umständen, durch einen innerlich wie äußerlich verschwenderischen Zeitverbrauch sich selber um ihn betrogen hatte. Die Vernunft wollte wissen, daß noch schöne Herbsttage folgen würden; vielleicht sogar serienweise würden sie erschei-nen und in so warmer Pracht, daß ihnen mit dem Namen des Sommers nicht zuviel Ehre würde angetan werden, vorausge-setzt, daß man sich den schon flacheren Tageslauf der Sonne, ih-ren schon zeitigen Abschied aus dem Sinne schlug. Aber die Wirkung auf das Gemüt, die der Anblick der Winterlandschaft draußen hervorbrachte, war stärker als solche Tröstungen. Man stand an seiner geschlossenen Balkontür und starrte mit Ekel hinaus in das Gestöber, – Joachim war es, der so stand, und mit gepreßter Stimme sagte er: "Soll nun das wieder losgehen?" Hans Castorp, hinter ihm im Zimmer, erwiderte: "Das wäre etwas früh, es kann nicht endgültig sein, aber es gibt sich allerdings eine schauderhaft endgültige Miene. Wenn Winter in Dunkelheit, Schnee und Kälte und warmen Röhren besteht, dann ist wieder Winter, da gibt es nichts zu leugnen. Und wenn man bedenkt, daß ja eben erst Winter war und kaum die Schneeschmelze vorüber ist – jedenfalls scheint es uns so, nicht wahr, als ob doch gerade erst Frühling gewesen wäre, – dann kann einem momentweise schlecht werden, das gebe ich zu. Es ist gefährlich für die menschliche Lebenslust, – laß dir erläutern, wie ich das meine. Ich meine es so, daß die Welt normalerweise so eingerichtet ist, wie es den Bedürfnissen des Menschen entspricht und der Lebenslust zukömmlich ist, das muß man anerkennen. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, daß die Naturordnung, zum Beispiel also gleich mal die Größe der Erde, die Zeit, die sie zur Umdrehung um sich selbst und um die Sonne braucht, der Wechsel der Tages – und Jahreszeiten, der kosmische Rhythmus, wenn du willst, – nach unserem Bedürfnis bemessen ist, – das wäre wohl frech und einfältig, es wäre Teleologie, wie der Denker sagt. Aber die Sache ist einfach so, daß unser Bedürfnis und die allgemeinen, grundlegenden Naturtatsachen gottlob miteinander im Einklang stehen – gott-lob, sage ich, denn es ist wirklich ein Anlaß, Gott zu loben – , und wenn im Flachland der Sommer kommt oder der Winter, dann ist der vorige Sommer oder Winter genau so lange her, daß Sommer und Winter uns wieder neu und willkommen sind, und darauf beruht die Lebenslust. Bei uns hier oben nun aber ist diese Ordnung und dieser Einklang gestört, erstens weil es hier eigentlich gar keine richtigen Jahreszeiten gibt, wie du selbst mal bemerktest, sondern bloß Sommertage und Winterta-ge pêle-mêle durcheinander, und außerdem weil es überhaupt keine Zeit ist, was einem hier vergeht, so daß der neue Winter, wenn er kommt, gar nicht neu ist, sondern wieder der alte; und daraus erklärt sich das Mißvergnügen, mit dem du da durch die Scheibe guckst."

"Danke sehr", sagte Joachim. "Und nun, wo du es erklärt hast, da bist du, glaub' ich, so zufrieden, daß du unter anderm auch mit der Sache selbst zufrieden bist, obgleich sie doch … Nein!" sagte Joachim. "Schluß!" sagte er. "Es ist eine Schweinerei. Das ganze ist eine ungeheuere, ekelhafte Schweinerei, und wenn du für dein Teil … Ich …" Und er verließ raschen Schrittes das Zimmer, zog zornig die Tür hinter sich zu, und wenn nicht alles täuschte, so hatten Tränen in seinen schönen, sanften Augen gestanden.

Der andere blieb betreten zurück. Er hatte gewisse Entschlüsse des Vetters nicht sehr ernst genommen, solange dieser sich in lauten Ankündigungen ergangen hatte. Nun aber, da es nur noch schweigend in Joachims Miene arbeitete und er sich be-nahm wie eben, erschrak Hans Castorp, weil er begriff, daß dieser Militär der Mann war, zu Taten überzugehen, – erschrak bis zum Erblassen, und zwar für sie beide, für sich und ihn. Fort possible qu'il aille mourir, dachte er, und da das sicherlich eine Wissenschaft aus dritter Hand war, so mischte sich auch noch die Pein alten, nie gestillten Verdachtes hinein, während er gleichzeitig dachte: Ist es möglich, daß er mich allein hier oben läßt, – mich, der ich doch nur gekommen bin, ihn zu besu-chen?! um hinzuzufügen: das wäre doch toll und schrecklich, – es wäre dermaßen toll und schrecklich, daß ich fühle, wie ich ganz kalt im Gesicht werde und mein Herz sich regellos auf-führt, denn wenn ich allein hier oben zurückbleibe – und das tue ich, wenn er abreist; daß ich mit ihm fahre, ist platterdings ausgeschlossen – , dann ist es ja – aber nun steht mein Herz überhaupt still – dann ist es ja für immer und ewig, denn allein finde ich nie und nimmermehr den Weg ins Flachland zu-rück …

Soweit Hans Castorps schreckhafter Gedankengang. Noch am selben Nachmittag sollte er über den Lauf der Dinge Gewißheit erlangen: Joachim erklärte sich, die Würfel fielen, es kam zu Schlag und Entscheidung.

Nach dem Tee stiegen sie ins helle Souterrain hinab zur Mo-natsuntersuchung. Es war Anfang September. Beim Eintritt ins trocken durchhauchte Ordinationszimmer fanden sie Dr. Kro-kowski an seinem Schreibplatz, während der Hofrat, sehr blau im Gesicht, mit untergeschlagenen Armen an der Wand lehnte, in der einen Hand das Hörrohr, mit dem er sich gegen die Schulter klopfte. Er gähnte zur Decke empor. "Mahlzeit, Kinder!" sagte er matt und ließ auch fernerhin eine recht schlaffe Laune merken, Melancholie, allgemeinen Verzicht. Wahrschein-lich hatte er geraucht. Es lagen aber auch sachliche Ärgernisse vor, von denen die Vettern schon gehört hatten, Anstaltsinterna von sattsam bekannter Art: ein junges Mädchen, Ammy Nöl-ting mit Namen, welches, eingetreten zuerst im Herbst vorvori-gen Jahres und nach neun Monaten, im August, als gesund ent-lassen, sich vor Ablauf des September schon wieder eingefun-den hatte, weil sie sich zu Hause "nicht wohlgefühlt" habe, zum Februar abermals völlig geräuschlos befunden und dem Flach-lande zurückgegeben worden war, aber seit Mitte Juli schon wieder ihren Platz am Tische der Iltis einnahm, – diese Ammy war 1 Uhr nachts mit einem Leidenden namens Polypraxios, demselben Griechen, der beim Faschingsfest durch die Wohlge-stalt seiner Beine berechtigtes Aufsehen erregt hatte, einem jun-gen Chemiker, dessen Vater am Piräus Farbwerke besaß, in ihrem Zimmer ertappt worden, und zwar durch eine von Eifer-sucht verstörte Freundin, die auf demselben Wege in Ammys Zimmer gelangt war wie Polypraxios, nämlich über die Balkons, und, zerrissen von Schmerz und Wut über das Wahrgenommene, ein furchtbares Geschrei erhoben, alles in Bewegung gesetzt und die Sache an die große Glocke gehängt hatte. Behrens hatte allen dreien, dem Athener, der Nölting Und ihrer Freundin, die vor Leidenschaft der eigenen Ehre wenig geachtet hatte, den Laufpaß geben müssen und eben jetzt mit seinem Assistenten, bei dem übrigens Ammy sowohl wie die Verräterin in Privatbe-handlung gestanden hatten, die widrige Sache durchgesprochen. Auch während der Untersuchung der Vettern fuhr er noch fort, im Tone der Schwermut und der Resignation sich darüber aus-zulassen, denn er war ein so fertiger Künstler der Auskultation, daß er zugleich eines Menschen Inneres belauschen, von etwas anderem reden und dem Assistenten das Erhorchte diktieren konnte.

"Ja, ja, Gentlemen, die verfluchte libido!" sagte er. "Sie ha-ben natürlich noch Ihr Vergnügen an der Chose, Ihnen kann's recht sein. – Vesikulär. – Aber so ein Anstaltschef, der hat davon die Neese plein, das können Sie mir – Dämpfung – das können Sie mir glauben. Kann ich dafür, daß die Phthise nun mal mit be-sonderer Konkupiszenz verbunden ist – leichte Rauhigkeit? Ich habe es nicht so eingerichtet, aber eh' man sich's versieht, steht man da wie ein Hüttchenbesitzer, – verkürzt hier unter der lin-ken Achsel. Wir haben die Analyse, wir haben die Aussprache, – ja Mahlzeit! Je mehr die Rasselbande sich ausspricht, desto lü-sterner wird sie. Ich predige die Mathematik. – Besser hier, das Geräusch ist weg. – Die Beschäftigung mit der Mathematik, sage ich, ist das beste Mittel gegen die Kupidität. Staatsanwalt Pa-ravant, der stark angefochten war, hat sich drauf geworfen, er hat es jetzt mit der Quadratur des Kreises und spürt große Er-leichterung. Aber die meisten sind ja zu dumm und zu faul da-zu, daß Gott erbarm'. – Vesikulär. – Sehen Sie, ich weiß ganz gut, daß junges Volk hier gar nicht ganz unschwer verlumpt und verkommt, und früher habe ich manchmal einzuschreiten ver-sucht gegen die Debauchen. Aber dann ist es mir passiert, daß irgendein Bruder oder Bräutigam mich ins Gesicht hinein ge-fragt hat, was es mich eigentlich angehe. Seitdem bin ich nur noch Arzt – schwaches Rasseln rechts oben."

 

Er war fertig mit Joachim, steckte sein Hörrohr in die Kitteltasche und rieb sich mit der riesigen Linken die beiden Augen, wie er zu tun pflegte, wenn er "abfiel" und melancholisch War. Halb mechanisch und zwischendurch gähnend vor Mißlaune sagte er sein Sprüchlein her:

"Na, Ziemßen, nur immer munter. Ist ja noch immer nicht alles genau so, wie es im Physiologiebuche steht, hapert noch da und da, und mit Gaffky haben Sie Ihre Angelegenheiten auch noch nicht restlos bereinigt, sind sogar in der Skala gegen neu-lich um eine Nummer aufgerückt, – sechs ist es diesmal, aber darum nur keinen Weltschmerz geblasen. Als Sie herkamen, waren Sie kränker, das kann ich Ihnen schriftlich geben, und wenn Sie noch fünf, sechs Monate – wissen Sie, daß man früher 'mânôt' sagte und nicht 'Monat'? War eigentlich viel volltöni-ger. Ich habe mir vorgenommen, nur noch 'Manot' zu sagen –"

"Herr Hofrat", setzte Joachim an … Er stand, mit bloßem Oberkörper, in geschlossener Haltung, Brust heraus, die Absätze zusammengenommen, und war so fleckig im Gesicht wie da-mals, als Hans Castorp bei bestimmter Gelegenheit erstmals be-merkt hatte, daß dies die Art des tief Gebräunten sei, blaß zu werden.

"Wenn Sie", redete Behrens über seinen Anlauf hin, "noch rund ein halbes Jährchen hier stramm Gamaschendienst tun, dann sind Sie ein gemachter Mann, dann können Sie Konstantinopel erobern, dann können Sie vor lauter Markigkeit Oberbe-fehlshaber in den Marken werden –"

Wer weiß, was er in seiner Verdüsterung noch alles gekohlt haben würde, wenn Joachims unbeirrte Haltung, seine unver-kennbare Gewilltheit, zu sprechen, und zwar mutig zu sprechen, ihn nicht aus dem Konzept gebracht hätte.

"Herr Hofrat", sagte der junge Mann, "ich wollte gehorsamst melden, daß ich mich entschlossen habe, zu reisen."

"Nanu? Wollen Sie Reisender werden? Ich dachte, Sie woll-ten später mal, als gesunder Mensch, zum Militär?"

"Nein, ich muß jetzt abreisen, Herr Hofrat, in acht Tagen."

"Sagen Sie mal, hör' ich recht? Sie werfen die Flinte hin, Sie wollen durchbrennen? Wissen Sie, daß das Desertion ist?"

"Nein, das ist nicht meine Auffassung, Herr Hofrat. Ich muß nun zum Regiment."

"Obgleich ich Ihnen sage, daß ich Sie in einem halben Jahr bestimmt entlassen kann, daß ich Sie aber vor einem halben Jahr nicht entlassen kann?"

Joachims Haltung wurde immer dienstlicher. Er nahm den Magen herein und sagte kurz und gepreßt: "Ich bin über andert-halb Jahre hier, Herr Hofrat. Ich kann nicht länger warten. Herr Hofrat haben ursprünglich gesagt: ein Vierteljahr. Dann ist meine Kur immer wieder viertel – und halbjahrsweise verlängert worden, und ich bin immer noch nicht gesund."

"Ist das mein Fehler?"

"Nein, Herr Hofrat. Aber ich kann nicht länger warten. Wenn ich nicht ganz den Anschluß verpassen will, so kann ich meine richtige Genesung hier oben nicht abwarten. Ich muß jetzt hinunter. Ich brauche noch etwas Zeit für meine Equipie-rung und andere Vorbereitungen."

"Sie handeln im Einverständnis mit Ihrer Familie?"

"Meine Mutter ist einverstanden. Es ist alles abgemacht. Ich trete ersten Oktober als Fahnenjunker bei den Sechsundsiebzigern ein."

"Auf jede Gefahr?" fragte Behrens und sah ihn aus blutunterlaufenen Augen an …

"Zu Befehl, Herr Hofrat", antwortete Joachim mit zuckenden Lippen.

"Na, dann is gut, Ziemßen." Der Hofrat wechselte die Mie-ne, gab nach in seiner Haltung und ließ in jeder Weise locker. "Is gut, Ziemßen. Rühren Sie! Reisen Sie mit Gott. Ich sehe, Sie wissen, was Sie wollen, Sie nehmen die Sache auf sich, und so-viel stimmt, daß es Ihre Sache ist, nicht meine, von dem Augen-blick an, wo Sie sie auf sich nehmen. Selbst ist der Mann. Sie reisen ohne Garantie, ich stehe für nichts. Aber bewahre, es kann ganz gut gehen. Ist ja ein luftiger Beruf, den Sie ergreifen. Kann durchaus sein, daß es Ihnen bekommt, und daß Sie sich herausbeißen."

"Jawohl, Herr Hofrat."

"Na, und Sie, junger Mann aus dem Zivilpublikum? Sie wollen wohl mit?"

Das war Hans Castorp, der antworten sollte. Er stand da, ebenso bleich wie vor Jahresfrist bei jener Untersuchung, die seine Aufnahme herbeigeführt hatte, stand auf demselben Fleck wie damals, und wieder war deutlich das Pulsen seines Herzens gegen die Rippen zu sehen. Er sagte:

"Ich möchte es von Ihrem Votum abhängig machen, Herr Hofrat."

"Meinem Votum. Schön!" Und er zog ihn am Arme an sich, horchte und klopfte. Er diktierte nicht. Es ging ziemlich schnell. Als er fertig war, sagte er:

"Sie können reisen."

Elans Castorp stotterte:

"Das heißt … wieso? Bin ich denn gesund?"

"Ja, Sie sind gesund. Die Stelle links oben ist nicht mehr der Rede wert. Ihre Temperatur paßt nicht zu der Stelle. Woher sie kommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich nehme an, daß sie wei-ter nichts zu bedeuten hat. Meinetwegen können Sie reisen."

"Aber … Herr Hofrat … Das ist vielleicht im Augenblick nicht Ihr voller Ernst?"

"Nicht mein Ernst? Wieso denn? Was denken Sie denn? Was denken Sie überhaupt so beiläufig von mir, möchte ich wissen? Wofür halten Sie mich? Für einen Hüttchenbesitzer?!"

Es war Jähzorn. Die Bläue in des Hofrats Gesicht hatte sich ins Veilchenfarbene vertieft durch lodernden Zudrang, die ein-seitige Schürzung seiner Lippe mit dem Schnurrbärtchen sich heftig verstärkt, so daß die seitlichen Oberzähne sichtbar wur-den, er schob schon den Kopf vor, wie ein Stier, seine Augen quollen tränend und blutig.

"Das verbitte ich mir!" schrie er. "Ich bin erstens überhaupt kein Besitzer! Ich bin Angestellter hier! Ich bin Arzt! Ich bin nur Arzt, verstehen Sie mich?! Ich bin kein Kuppelonkel! Ich bin kein Signor Amoroso auf dem Toledo im schönen Neapel, verstehen Sie mich wohl?! Ich bin ein Diener der leidenden Menschheit! Und sollten Sie sich eine andere Auffassung gebil-det haben von meiner Person, dann können Sie beide zum Kuk-kuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde, ganz nach belie-biger Auswahl! Glückliche Reise!"

Mit langen und breiten Schritten ging er zur Tür hinaus, durch die Tür, die ins Vorderzimmer des Durchleuchtungsraumes führte, und ließ sie hinter sich zukrachen.