Nixentod

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Sichtlich genervt versuchte eine große, kräftige Frau mit straff zurückgekämmtem Haar, schwarzer Hornbrille und in einem dunkelgrünen Parka, zu telefonieren: »Ja, ich bin hier vor Ort. Lasse alle Personalien aufnehmen. Nein, KTU ist noch nicht hier ... Ich kümmere mich. Tschüss!«

Sie rückte ihre Brille zurecht und wandte sich an den grauhaarigen Beamten: »Alfred, kannste Mal nachfragen wo die KTU bleibt?«

Er nickte etwas resigniert. Eine Tote im Fluss hatte ihnen gerade noch gefehlt. Im Sommer kam das des Öfteren mal vor. Beim Baden ertrunken oder nach einer Bootsparty vom Kahn gekippt, das war für die hiesige Polizeidirektion schon Routine.

Aber er hatte das ungute Gefühl, dass es sich hierbei um etwas vollkommen Anderes handelte. Die gesamte Atmosphäre am Fluss wollte sich zu keinem friedlichen Ganzen mehr verdichten lassen. Zuviel ungewohnte Bilder hatten ihn verstört. Solche Situationen hatten etwas Bedrohliches.

Tief im Inneren spürte er einen Hauch von roher Gewalt, der von dieser Toten im Fluss ausging.

Die Frau mit der Brille ging langsam am Ufer entlang. Hier an ihrem Fluss hatte sich etwas Ungeheuerliches ereignet. Sie ahnte, dass diese Sache eine Nummer zu groß für die ansässige Polizeidienststelle sein würde. Trotzdem wollte sie soweit wie möglich Licht in das Dunkel um die nackte Tote bringen.

Wie kam im kalten Februar eine Frau unbekleidet in die Havel? Starb sie eines gewaltsamen Todes, bevor sie im Wasser war? Oder war sie vielleicht eine Selbstmörderin? Wie lange lag sie schon hier?

Zu viele Fragen, die sich nicht sofort beantworten ließen, dazu noch die wichtigste Frage: Wer war diese Frau überhaupt?

Keiner der hier versammelten Kostümierten schien sie zu kennen. Bevor sie die schwarze Plane über den leblosen Körper hatte decken lassen, drehten zwei Beamte die Frau auf den Rücken. Das Gesicht schien einer einst sehr schönen Frau zu gehören. Durch den Aufenthalt im Wasser war die Haut fast durchsichtig bleich geworden. Alle Adern traten überdeutlich hervor und die Frau starrte aus großen toten Augen in den dunklen Nachthimmel.

Dem ersten Anschein nach musste sie zwischen dreißig und vierzig Jahren alt sein, sie wirkte nicht ungepflegt, hatte eine ganz gute Figur. Im Nabel prangte ein silbern glitzerndes Etwas, wohl ein Piercing und etwas unterhalb des Nabels war eine millimeterkurz rasierte Schambehaarung sichtbar. Am linken Fuß war ein Kettchen, ebenfalls silbern schimmernd.

Die leicht bläulich schimmernde Haut bildete einen eigenartigen Kontrast zu dem kupferroten Haar, welches sich in langen Wellen im Wasser um ihren Kopf ausbreitete. So stellte sich die Polizistin immer eine echte Wassernixe vor: morbid und dennoch schön, eine Wandlerin zwischen den Welten der Lebenden und Toten.

Mit einer Digitalkamera hatte sie das Gesicht fotografiert und den Leuten zeigen lassen. Aber keinem kam sie bekannt vor. Der als Alfred angesprochene Beamte trat an die Frau im Parka heran.

»Na Liseken, möchteste nen Kaffee?«

In der Hand hielt er einen dampfenden Plastikbecher mit dem schwarzen Sud. Dankbar griff sie zu und schlürfte den Kaffee in schnellen, kleinen Schlucken. Dieser Einsatz war für sie eine Premiere. Erstmals hatte sie die Verantwortung für alles zu tragen.

Seit Anfang des Jahres war Louise Elverdink zur Hauptkommissarin befördert und aus dem beschaulichen Städtchen Werder nach Brandenburg an der Havel versetzt worden. Obwohl nur knapp fünfzig Kilometer zwischen den beiden Orten lagen, kam sie sich hier einsam und verlassen vor.

Brandenburg an der Havel war weiß Gott nicht ihr ersehntes Ziel gewesen. Sie hatte schon mit Potsdam geliebäugelt, aber die Wege der Personalentwicklung führten meist über wunderliche, oftmals verschlungene Pfade. Ihr wurde nur lapidar mitgeteilt, dass dort großer Personalmangel herrsche und die Stadt ein Schwerpunkt der Verbrechensbekämpfung sei. Sie solle doch froh sein, eine solch anspruchsvolle Stelle zu bekommen. Außerdem sei sie nicht familiär gebunden, man müsse ja auch Rücksicht nehmen auf Kollegen mit Kindern und Ehepartnern, die nicht so einfach wegziehen könnten.

Dies war ein besonderer Hohn, denn erst vor einem knappen Jahr hatte sich Louise Elverdink scheiden lassen. Jedes Mal, wenn sie daran zurückdachte, stieg wieder diese kalte Wut in ihr hoch, die sie nur mühsam unterdrücken konnte. In Gedanken fing sie dann sofort an, irgendwelche Zahlenfolgen ablaufen zu lassen, um ihre Emotionen wieder zu zügeln.

Seit sie hier in der alten Industriestadt an der Havel lebte, kamen diese Gedanken nur noch selten.

Es erinnerten sie nicht viele Sachen mehr an den ihr so lieb gewordenen Werderschen Schwielowsee mit seinen sonnendurchfluteten Obstgärten und den friedlichen Dörfern rings herum. Hier floss zwar auch die Havel, es gab Seen und die Landschaft machte auch einen guten Eindruck, aber es war nicht mehr dieser Hauch von Arkadien, den sie so liebte. Keine Parks und Schlösser, keine neogotischen Kirchlein und auch die verträumten Wanderpfade am Havelufer fehlten hier.

Alles war so trist. Brandenburg war eine Großstadt im Vergleich zu Werder. Es gab riesige Neubauviertel, die Innenstadt war im Umbruch. Alte Ruinen aus der Gründerzeit behaupteten sich neben frisch renovierten Einkaufsstraßen.

Die Stadt war für sie immer noch ziemlich fremd. Inmitten der Neubauwüsten entdeckte sie alte Backsteingotik. Die Havel, die hier doppelt so breit war wie in Werder, teilte sich in mehrere Arme, verwirrend labyrinthisch. Ein eigentliches Zentrum hatte die Stadt gar nicht, es gab mehrere, die Altstadt, die Neustadt und auch die Dominsel waren sehr eigenständig, dazu noch die vielen Industrieorte rings um die Seen herum, die allesamt wiederum eigene Zentren zu sein schienen.

Die ersten drei, vier Wochen irrte sie dauernd herum, versuchte sich ein Bild der neuen Umgebung zu machen und die Straßennamen einzuprägen.

Die neuen Kollegen waren anfangs etwas zurückhaltend. Natürlich freuten sie sich auf jeden Neuzugang, bedeutete dies doch Entlastung. Sie hatte das gleich zu spüren bekommen. Innerhalb von zwei Tagen war sie so mit Arbeit zugedeckt worden, wie sie sonst in zwei Monaten in Werder zu bewältigen hatte.

Personenermittlungen, Suchanfragen, Jugendgewaltdelikte, Familienstreitereien mit blutigem Ausgang, Diebstahlsdelikte, Randalierer und Vandalismus – die ganze Bandbreite, die sie sonst nur aus den Berichten der Kollegen kannte.

Oftmals war sie zwölf Stunden am Tag unterwegs, kam dann vollkommen entnervt und ausgelaugt in ihrer kleinen Dreizimmer-Neubauwohnung an, wo sie meist ein vorwurfsvoller Blick ihres zwölfjährigen Sohnes empfing. Der Junge tat sich schwer mit der neuen Umgebung, hatte sich in eine neue Klasse einzugewöhnen und neue Freunde zu finden.

Sie wusste, dass es für ihn eine ziemliche Zumutung war, aber letztendlich blieb ihr auch keine andere Wahl. Die finanziellen Probleme wurden durch den Umzug nach Brandenburg deutlich geringer, zumal die neue Stelle besser bezahlt wurde als sie es zu hoffen gewagt hatte.

Die erdrückenden Monatsraten für den Hausbau in Werder hätte sie unmöglich weiterzahlen können. Sie ärgerte sich noch jetzt über ihre Blauäugigkeit, diesem Bau zugestimmt zu haben. Sie ahnte es schon damals, dass sie die Hauptlast dafür zu tragen hatte.

Ihr Mann träumte immer viel von solchen Wolkenschlössern, begeisterte sich maßlos und legte dann einen Aktionismus vor, dass man nur hoffen durfte, es so schnell wie möglich hinter sich gebracht zu haben. Leider verebbte seine Begeisterung ebenso schnell, wie sie kam.

Ähnlich war es mit seiner Liebe zu ihr. Sie fühlte sich im Siebten Himmel, jedenfalls die ersten Jahre, dachte, das Leben habe es gut mit ihr gemeint, alles lief locker und wie von selbst ...

Das riesige Anwesen, was da direkt ans Ufer des Schwielowsees gebaut worden war, überstieg die finanziellen Mittel der beiden deutlich. Von Stund an war das familiäre Paradies getrübt, man rechnete jede Geldausgabe durch, doch es klappte nicht. Privat halfen Verwandte in den ersten Jahren.

Dann verlor ihr Mann seinen Job und rannte einfach weg. Sie stand allein da über Nacht.

Unwillig schüttelte sie den Kopf beim Kaffeetrinken. Alfred Stahlmann beobachtete seine neue Chefin besorgt. Er mochte sie, hatte aber das Gefühl, dass sie noch nicht ganz angekommen war im Brandenburger Alltag. Oft saß sie nur da und blickte sorgenvoll von ihrem großen Schreibtisch ins Leere.

Sie sprach nicht über Privates, war aber zu ihren Kollegen hier stets freundlich.

Stahlmann hatte schon zuviel erlebt, ihm konnte niemand mehr über längere Zeit etwas vormachen. Er wusste Bescheid und respektierte die Schutzhülle der neuen Abteilungsleiterin. Noch knapp zwei Jahre hatte er bis zur Pensionierung. Wahrscheinlich war das der Grund, dass er den Posten nicht mehr bekommen hatte. Er war darüber nicht mal sauer gewesen. Er hatte zu oft schon die Leute auf dem Sessel bedauert, die es schwer hatten, es allen recht zu machen.

Der letzte auf dem Chefsessel war ein Choleriker gewesen, der sich hektisch polternd durch die Büros bewegte und unter dem ständigen Zwang stand, allen beweisen zu müssen, wie hart er durchgreifen könne. Er hatte dies auch nur drei Jahre durchgehalten, dann kam der Zusammenbruch. Ein Burn-Out-Syndrom wurde diagnostiziert. Jetzt war er zur Kur. Ob er je wieder den Dienst aufnehmen würde, konnte keiner vorhersagen.

Die Neue machte jedenfalls erst mal nicht den schlechtesten Eindruck. Sie konnte organisieren und arbeitete systematisch. Das hatten alle recht schnell mitbekommen. Der nächtliche Einsatz am heutigen Samstag war unerwartet für alle gekommen. Trotzdem gab es keine Hektik. Sie schien alles im Griff zu haben.

 

Die Leute von der KTU waren inzwischen eingetroffen und begannen ihre Koffer auszupacken. Gespenstisch sah das Szenario an der Havel jetzt aus. Große Strahler beleuchteten das Ufer mit hellem Neonlicht. Die Kriminaltechniker waren in weiße Overalls gehüllt, trugen Mundschutzmasken und hantierten mit eigenartigen Instrumenten im Umfeld der Leiche.

Lange Schlagschatten ließen alles wie auf einem fremden Planeten erscheinen.

Ein weiteres Auto traf ein. Ein Mann in weißer Kleidung stieg aus. Es war der Arzt. Er ging zielstrebig zu der Leiche, die inzwischen ans Ufer gebracht worden war. Nach zehn Minuten trat er zu Louise Elverdink und Alfred Stahlmann.

»Wahrscheinlich Tod durch Genickbruch, aber es scheint auch noch eine ganze Menge innerer Verletzungen zu geben. Ein paar Rippen sind auch gebrochen. Da müssen wir die Obduktion abwarten.«, sagte er, während er sich bei einem Kaffee etwas aufwärmte.

Louise nickte nur.

Stahlmann schüttelte den Kopf: »Das wird noch kompliziert, glaub mir, da kommt einiges auf uns zu.«

Die Karnevalsgesellschaft blickte zunehmend irritiert auf das Gelände an der Havel. Alles war plötzlich fremd. Im Gasthof nahmen drei Uniformierte die Personalien der Abendgesellschaft auf. Die Protokolle der sieben Leute, die den leblosen Körper entdeckt hatten, waren auch schon fertig. Es blieb für die Kripobeamten erst mal nichts mehr zu tun hier.

»Alfred, wir brechen auf. Bis morgen im Büro«

Sie verabschiedete sich noch von den übrigen und fuhr in ihrem kleinen, klapprigen Polo davon.

Ein Artikel über den Zustand der Havel,

erschienen in der Wochenendbeilage des »Havelkuriers«

am 4. Februar 2006


Der abschließende Jahresbericht der Wasserstraßen-Kommission beim Infrastrukturministerium des Landes Brandenburg konnte für das vergangene Jahr eine positive Bilanz ziehen. Der Trend zu immer saubereren Gewässern in unserer Region ist inzwischen überall spürbar geworden.

Speziell für die Havel und das Gebiet der Havelseen haben sich die Wasserwerte stark verbessert. Davon profitieren nicht nur der immer stärker werdende Fremdenverkehr der Region, sondern auch die Binnenfischerei und der Naturschutz im Havelländischen Luch. Der zuständige Staatssekretär, Dr. Wigbert Kupfer, wies in seinem Bericht auf die neuen Chancen für die Region hin, die sich durch den konsequenten Wasserschutz ergeben haben. Einwände seitens der Industrieverbände, die auf einen weiteren Ausbau der Havelwasserstraße und auf eine verstärkte Nutzung des Kanalnetzes drängten, wurden zurückgewiesen.

Seit Jahren stagnieren die Tonnagezahlen der Binnenschifffahrt, und die Restrukturierung der alten Industriestandorte macht den Ausbau der Transportkapazitäten überflüssig.

Brandenburg/Havel

Montag, 6. Februar 2006


Dienstbesprechung am Morgen. Alle Mitarbeiter der Kriminalabteilung hatten sich im Dienstzimmer eingefunden. Louise Elverdink schilderte kurz die Situation des vergangenen Wochenendes und endete mit der Feststellung, dass alles auf ein Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang hinwies. Einen Selbstmord könne man inzwischen ausschließen. Kein Selbstmörder breche sich das Genick mit Vorsatz. Alle schwiegen betreten.

Der letzte Mordfall lag nun schon ein Jahr zurück. Leute vom LKA aus Potsdam waren damals angerückt, hatten sich in den Büros einquartiert und die Hilfsarbeiten an die hiesigen Ermittler delegiert. Es war eine anstrengende Zeit ohne Pausen und unter permanentem Erfolgsdruck gewesen, zumal die Öffentlichkeit regen Anteil am Fortgang der Ermittlungen nahm.

Ja, sogar das Regionalfernsehen berichtete über den aufsehenerregenden Mord innerhalb einer total zerrütteten Familie, in der drei Familienmitglieder vom eigenen Vater bestialisch umgebracht worden waren.

Die Mitarbeiter, die damals dabei waren, ahnten schon, was da anrollte, und stöhnten auf. Louise Elverdink hatte bisher noch keine Erfahrung mit Tötungsdelikten, kannte sie nur aus ihrer Ausbildungszeit an der Polizeischule oder aus dem Fernsehen, wo smarte Kommissare in actiongeladenen Serien psychopathische Schwerverbrecher jagten.

»Wir sollten soweit wie möglich unsere Ermittlungen vorantreiben, zur Klärung der Herkunft und in der Umgebung alle abfragen, was Aufschluss zur Identität geben könnte. Die Ergebnisse der KTU werden uns vorerst nicht sehr viel weiterhelfen. Außerdem gibt es Experten beim LKA in Potsdam. Von dort habe ich bereits Unterstützung zugesagt bekommen. Bis zum Eintreffen der LKA-Leute sollten wir jedoch die Ermittlungen selbständig fortführen.«

Damit schloss sie ihren kurzen, recht sachlichen Bericht zur Lage und versuchte optimistisch in die Runde zu blicken, obwohl sie ahnte, dass es dazu wenig Grund gab. Sie konnten eigentlich nichts wirklich Brauchbares vorweisen. An die Magnettafel hatte sie das Foto der Toten gehangen, welches sie gestern Nacht gemacht hatte. Es sah so unwirklich aus wie ein Fantasy-Gemälde.

Alle hatten schon davorgestanden und darauf gestarrt. Der rote wallende Haarkranz, das bleiche, mit feinen Adern durchsetzte Gesicht und die dunklen, weit aufgerissenen Augen ließen die Tote merkwürdig lebendig erscheinen. Dazu bildeten die Lichtbrechungen des Wassers eine eigenartige Sphäre des Unwirklichen. Manche bekamen eine Gänsehaut beim Blick auf das Foto. Jeder hatte eine Kopie von den Protokollen der gestrigen Nacht bekommen, die als Anhaltspunkte für die Ermittlungen dienen sollten.

Eine gewisse Ratlosigkeit überkam die sieben Mitarbeiter schon.

»Sollen wir jetzt hausieren gehen mit dem Foto? Die kann doch von sonst woher sein, nichts, was auf eine Einheimische schließen lässt. Außerdem, so ein roter Feger wäre doch in der Stadt aufgefallen ...«

Eine Meldung im »Havelkurier«

Tote Frau in der Havel aufgefunden

Der diesjährige Faschingsball im »Alten Fährhaus« von Plaue wurde durch einen mysteriösen Todesfall überschattet. In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar wurde die Leiche einer etwa vierzigjährigen Frau an das Ufer am »Alten Fährhaus« angeschwemmt.

Die unbekleidete Frauenleiche wurde von den Gästen des Faschingsballs entdeckt. Bisher konnten keinerlei Hinweise zur Identität der Toten sichergestellt werden. Ein Sprecher der Brandenburger Polizei schloss ein Gewaltverbrechen nicht aus.

Brandenburg/Havel

Immer noch Montag, 6. Februar 2006

Louise Elverdink hatte das dürftige Material zusammengestellt, das Foto beigefügt und ihrem Chef, Kriminalrat Dr. Haberer, überreicht. Der stand etwas unschlüssig in seinem großen Büro, betrachtete abwechselnd die ausgedruckten Seiten, das Bild und seine neue Abteilungsleiterin.

Haberer war ein typischer Büromensch, Anfang sechzig, Schlipsträger, klein, mit blankpolierter Glatze und einer respekteinflößenden Hornbrille auf der stark hervorspringenden Nase. Mit langsamen Worten begann er zu sprechen: »Ehhhm, ja, ehhhm, was, nein, besser ... Wieso, also, vielleicht, was denken Sie denn?«

Unsicher blickte die Polizistin auf den kleinen Mann vor sich. Sie war gut einen Kopf größer und brachte bestimmt zwanzig Kilo mehr auf die Waage als Haberer, fühlte sich daher auch etwas unwohl beim direkten Aufeinandertreffen mit ihm. Lieber saß sie vor ihm auf dem Stuhl, da hatte sie Augenkontakt auf derselben Höhe. Aus den schleppend langsam vorgebrachten Halbsätzen konnte sie eigentlich keine konkrete Frage herauslesen.

Sollte sie ihm sagen, was zu tun war?

Er kannte doch den Amtsweg. Außerdem lag diese ganze Sache sowieso nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der örtlichen Polizeidienststelle und das war auch allen klar.

»Ja, Herr Dr. Haberer, was soll ich dazu sagen? Die Sachlage ist eindeutig, das geht uns nicht mehr so richtig an, ist einfach ne Nummer zu groß für uns.«

»Weiß man denn schon, ehhm, woran, also, ehmm, was die Todesursache ist?«

»Bisher noch nicht hundertprozentig. Der Arzt hatte einen Genickbruch festgestellt, dazu noch eine Vielzahl innerer Verletzungen, äußere Verletzungen waren nicht sichtbar. Wir müssen da den Bericht der Gerichtsmedizin abwarten, aber der geht ja auch gleich nach Potsdam zum LKA.«

»Schon gut, schon gut, ehhm, ja, hätte ja sein können, dass Sie da etwas gesehen haben.«

»Sie war etwas merkwürdig verrenkt, und beim Umdrehen der Leiche hatten die beiden Beamten das Gefühl, dass der Körper ziemlich verdreht war, so als ob die Knochen keinen Widerstand mehr böten. Könnte aber auch durch die Lage im Wasser kommen.«

Haberer zuckte mit den Schultern. Haveltote hatte er schon des Öfteren zu bearbeiten, allerdings alles Unfälle mit klaren, überschaubaren Daten zum Hergang und zu den Personen.

So etwas wie jetzt war ihm ausgesprochen suspekt. Ominöse Leichen ohne jegliche Identität gehörten auf alle Fälle zu den eher unerfreulichen Vorgängen in seinem Dienstbereich. Er sah sich mehr als Sozialarbeiter denn als Meisterdetektiv, wurde an seinen Erfolgen bei der alltäglichen Verbrechensbekämpfung gemessen und nicht so sehr an scharfsinniger Ermittlungstätigkeit bei der Jagd nach einem möglichen Mörder.

Das ganze Gefüge der Dienststelle schien durch den nächtlichen Leichenfund durcheinander gekommen zu sein. So viele zu bearbeitende Delikte waren auf einmal zweitrangig. Alles schien sich nur noch um die rothaarige Nixe aus der Havel zu drehen.

»Ehhm, ja, wann, ehhm, kommen denn die Leute aus Potsdam?«

»Ich weiß nicht, bisher hat sich noch niemand bei mir gemeldet.«

»Aber die wissen doch Bescheid, ehhm, oder?«

»Ich denke schon, die Unterlagen wurden von mir bereits heute früh weitergeleitet. Auch die Fotos vom Fundort habe ich rüber gemailt.«

»Gut, gut, äh, ja, also, wenn, ehhm, die LKA-Leute sich melden sollten, geben Sie mir kurz Bescheid.«

Dr. Haberer wandte sich ab, deutete damit an, dass das Gespräch beendet sei.

Kirchmöser

Dienstag, 7. Februar 2006

Am Abend saß Louise Elverdink etwas ausgepumpt zu Hause in ihrer Wohnung. Der Tag war in Windeseile vorbeigerauscht, angefüllt mit unzähligen Telefonaten und Dienstgesprächen mit ihren Mitarbeitern, die allesamt ebenso ratlos wirkten wie sie selbst. Nur konnte sie ihre Ratlosigkeit nicht offen zeigen. Irgendwann am frühen Nachmittag holte sie der normale Alltag wieder ein. In der Altstadt hatten sich ein paar Jugendliche geprügelt, die saßen nun blutverschmiert und notdürftig verarztet im Flur und warteten auf ihre Vernehmung.

Diese Art von Jugendgewalt war ihr erst hier in Brandenburg begegnet. In Werder gab es nur wenige auffällige Kids, die meisten waren da schon aufsässig, wenn sie mal mit dem Moped auf dem Marktplatz herumknatterten und laute Musik hörten. Das, was ihr hier begegnete, war eine ganz andere Qualität.

Es wurde Alkohol konsumiert in Mengen, die ihr unbegreiflich waren. Die meist vierzehn- bis siebzehnjährigen Jungs und Mädchen waren straff organisiert in Gangs, hatten brutale Rituale entwickelt und schreckten vor Gewalt nicht zurück. Dazu kamen kleinere Diebstähle, und auch Einbruchsdelikte gehörten zur Tagesordnung. In den Familien wussten die meisten Eltern gar nicht, was mit ihren Kindern los war. Sie waren alle ahnungslos oder taten wenigstens so.

Das Jugendamt hatte bereits signalisiert, damit total überfordert zu sein und die Polizei um Mithilfe gebeten. Es gab seit Anfang des Jahres zwei Mitarbeiter, die sich nur noch um Jugendkriminalität kümmerten.

Auf dem Tisch stand noch das Abendbrot herum, sie war zu erschöpft, jetzt noch alles wegzuräumen und in der Küche klar Schiff zu machen. Im Wohnzimmer flimmerte der Fernseher.

Auf dem Sofa schaute ihr Sohn gebannt auf die bunten Bilder der Werbung. Was der Junge an den Werbespots so gut fand, blieb ihr ein Rätsel. Sie war meist gelangweilt und zappte sie weg, aber Bastian schaute jeden Spot an, als ob er eine Offenbarung sei. Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, auch, dass er die eingängigen Melodien bestimmter Werbespots nachpfiff oder einfach mitsang.

In seinem Zimmer hatte sie viele Werbeheftchen gefunden, Flyer und Werbebeilagen aus der Zeitung. Alles war fein säuberlich sortiert, manchmal war etwas umrahmt worden, manchmal etwas mit Marker unterstrichen. Sie beobachtete dieses merkwürdige Verhalten ihres Sprösslings schon seit geraumer Zeit. Kopfschüttelnd ließ sie ihn gewähren. Bei Gelegenheit wollte sie ihn allerdings einmal dazu befragen.

 

Aber im Moment war sie damit einfach überfordert. Sie wollte nur noch in Ruhe gelassen werden mit den alltäglichen Situationen, freute sich auf ihr Sofa und vielleicht eine stressfreie Sendung auf dem Fernseher, weit weg von hier, irgendetwas mit Tieren aus Afrika oder Polarforschern oder alten Ruinen im Urwald, bloß nichts mehr aus dem leidgeplagten Deutschland.

Nachrichten regten sie immer mehr auf, speziell die, in denen ein Moderator mit sorgenvoller Miene wieder mal den Untergang der Zivilisation an die Wand malte. Amokläufe von verstörten Schülern, Geiselnahmen von durchgeknallten Sozialhilfeempfängern und Babymorde von überforderten Müttern wurden genüsslich als Ereignis zelebriert.

Beim Zappen mit der Fernbedienung blieb sie auf dem Regionalsender hängen. In der Nachrichtensendung wurden gerade Bilder vom Wochenende gezeigt. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass ein Fernsehteam vor Ort gewesen war. Sie sah sich selbst am Havelufer, Kaffee trinkend, ihren Kollegen Alfred Stahlmann, wie er die Menschen zusammen scheuchte, und die verstörten Gäste des Faschingsballs.

Die Stimme der Reporterin versuchte, kühl und sachlich zu bleiben: » ... leider noch nicht geklärt werden. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen.« Schnitt. Der Sprecher des LKA in Potsdam tauchte als Großportrait auf, vor ihm ein anderer Reporter: »Können Sie uns etwas über den ominösen Todesfall während des Faschingsballs im Plauer »Fährhaus« bei Brandenburg sagen?«.

Hüsteln. »Ähhm, bisher liegen noch keine genaueren Angaben über die gefundene Person vor. Wir sind dabei, verschiedene Hinweise zu überprüfen. Ähhm, ja, wenn wir Näheres wissen, werden wir zum gegebenen Zeitpunkt die Öffentlichkeit informieren.«

Etwas verstört, zappte sie weiter, griff zum Telefon und rief bei Alfred Stahlmann an. »Hast du gerade »Brandenburg aktuell« gesehen im RBB? Da haben die einen kurzen Bericht vom Wochenende über die Haveltote mit bei gehabt.«

Stahlmann war genauso verdutzt über die Sendung wie sie. Auch er hatte das Fernsehteam nicht bemerkt. »Wann waren die denn da?«

Louise war ratlos, sie ahnte schon, dass diese Sendung ein Nachspiel haben würde. »Wir sehen uns morgen, schlaf gut!« Sie legte auf.

Der blutende See

Das kleine Städtchen Plaue an der Havel war früher bekannt für seine Fischer, die hier siedelten. Es gab einen großen Fischmarkt und die Fischerhäuser waren groß und stattlich. Einmal im Jahr versammelten sich die Fischer zum Jacobifest und feierten ihre erfolgreichen Fischzüge.

Die Witwe eines Fischers konnte von all dem Überfluss nicht mehr profitieren. Sie lebte von Almosen und war auf die Hilfe der Nachbarsleute angewiesen.

Sie hatte eine kleine Tochter, die im Laufe der Jahre zu einer schönen Jungfer heranwuchs. Sie selbst aber grämte sich immer mehr über ihr Schicksal und ward zu einer verbitterten, bösartigen Alten. Die Leute machten einen großen Bogen um ihr Haus und mieden sie.

Ihre Tochter jedoch wurde überall freundlich behandelt und war ein gern gesehener Gast in den Fischerhütten.

Es dauerte auch nicht lange, da hatte sich ein junger Bursche in die liebreizende Jungfer verliebt. Die beiden waren sich auch schnell einig und wollten heiraten. Als jedoch die böse Mutter davon Kunde bekam, grollte sie ihr sehr. Wenn die Tochter aus dem Hause war, würde sie ganz allein sein. Sie ging hinunter ans Wasser und grübelte.

Vor ihr rauschte da plötzlich das Wasser und ein garstiges grünes Weib mit einem schuppigen Fischschwanz schoss aus den Tiefen des Sees empor. Es war die Nixe vom Grunde der Havel. Sie bot der Alten an, ihre Tochter zu sich zu nehmen. Die willigte ein und verkaufte der Nixe ihre Tochter.

Als am nächsten Abend die Tochter zum Waschen ans Ufer ging, zog die Nixe das Mädchen zu sich hinab. Das Wasser färbte sich blutrot. Der Bräutigam wartete an diesem Abend vergebens auf seine Liebste.

Dafür kam die böse Alte und verspottete ihn auch noch. Voll Kummer und Gram sprang der um seine Braut gebrachte Bursche in den See. Er tauchte so tief er konnte, doch er fand sie nicht. Voller Entkräftung ertrank er letztendlich in den Fluten. Wieder färbte sich das Wasser blutrot.

Die Plauer Fischerleute waren über diese Tragödie entsetzt. Mit ihren Booten fuhren sie hinaus auf den See und schlugen mit ihren Rudern so lange auf das Wasser ein, bis sich die Nixe blicken ließ. Wütend über die Ruhestörung wollte sie die Fischer schon zu sich hinunterziehen. Ein beherzter Mann schilderte ihr jedoch die ganze Geschichte und sagte ihr auch, dass sie an dem unglücklichen Ausgang der Geschichte nicht ganz schuldlos sei.

Die Nixe reute schon ihr ehrloser Handel mit der bösen Alten. So gab sie denn an, dass einmal im Jahr die Jungfer für eine Nacht an Land dürfe. Der See würde sich dann jedes Mal blutrot färben. Derjenige, der ihr dann begegne und ihr Herz für sich gewänne, dürfte sie zur Frau nehmen und ein glückliches Leben an Land führen. Wenn allerdings nach drei Jahren sich immer noch kein Mutiger gefunden habe, würde sie für immer unter Wasser bleiben.

Drei Jahre lang färbte sich immer zur Johannisnacht das Wasser des Sees blutrot, doch niemand kam, die unglückliche Braut zu erlösen. Das Wasser des Sees blieb von da an blau und still. Von der Nixe hörte man nie wieder etwas. Die böse Alte jedoch holte der Teufel.

Brandenburg/Havel

Mittwoch, 8. Februar 2006

Am nächsten Morgen wurde sie auch sofort zu Haberer gerufen. Der kleine Mann schaute äußerst missvergnügt hinter seinem großen Schreibtisch hervor.

»Ich hoffe, Sie haben eine gute Erklärung für den gestrigen Abendbericht auf dem RBB? Bei mir klingelten sich schon alle Telefone heiß, selbst der Oberbürgermeister rief schon an! Wie konnten Sie nur so naiv sein und das Fernsehen am Fundort zulassen?«

»Solange ich da war, habe ich kein Kamerateam gesehen.«

»Aber Sie waren doch auf dem Beitrag deutlich zu erkennen. Nun erzählen Sie mir nicht, dass Sie das nicht bemerkt haben!«

»Nein, habe ich auch nicht.«

»Wo haben Sie denn Ihre Augen gehabt? Solche Leute fallen doch auf. Ich habe inzwischen schon mit dem Redakteur der Nachrichtensendung gesprochen. Das LKA hat auch schon reagiert, wir bekommen Druck von allen Seiten.«

Louise Elverdink schluckte. So hatte sie sich ihren ersten Großeinsatz nicht vorgestellt. Diese peinliche Panne mit dem Fernsehteam ...

Irgendwer musste die doch alarmiert haben. Sie nahm sich vor, das noch herauszufinden, bevor die Leute vom LKA anrückten.

Bei Haberer auf dem Tisch sah sie schon ein Fax mit dem Kopfbogen des LKA. Sie fragte daher auch gleich: »Können Sie mir schon sagen, wann die Kollegen vom LKA zu uns kommen?«

»Ehhhm, ja, also, die schicken erst mal bloß einen Mann, der soll als Verbindungsmann arbeiten. Da gibt es ein paar ehhm, ja, Parallelen zu einem ähnlichen Leichenfund in der Oder. Morgen soll der schon hier sein. Sie kümmern sich um den persönlich! Ist ein guter Mann, kenn ich schon längere Zeit, Linthdorf. Ehhm ja, das war’s erst mal. Sie können gehen.«

Diese Aufforderung nahm sie sogleich wahr und flog davon. An ihrem Schreibtisch angekommen fluchte sie vor sich hin. Stahlmann schaute etwas betreten zu ihr rüber: »Na, war’s schlimm?«

»Ging so. Hab gedacht, er reißt mir n’ Kopp ab...« Sie lächelte. »Sag mal, weißt du, woher die Fernsehfuzzis wussten, dass da was zu filmen war?«

Stahlmann zuckte mit den Schultern.

»Wir können ja mal so ein bisschen herumhorchen, wer da nen heißen Draht hat.«

Vor ihr auf dem Schreibtisch lag ein Stapel mit Protokollen. Es waren die Zeugenaussagen vom Fundort. Nicht sehr viel brauchbares Material.