Nixentod

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Melusine – Tod in der Oder

Die Oder

... ist ein träger Strom. Abseits des großen Verkehrs zieht sie dahin. Sie entspringt im Mährischen Hochland, windet sich quer durch die Sudeten, nimmt die Wasser vieler kleiner Gebirgsbäche auf, um sich dann mit der Warthe und der Neiße zu vereinen. Ab Ratzdorf ist die Oder die natürliche Grenze zwischen Deutschland und Polen.

Sie passiert zahlreiche Industriestädte: Forst, Guben, Eisenhüttenstadt, Frankfurt, Schwedt, und ergießt sich bei Stettin in einen großen Binnensee: das Haff. Am nördlichen Ufer hat das Haff einen Zugang zur Ostsee. Dort werden die Wassermassen der Oder ins Meer geleitet.

Steht man am Ufer dieses Flusses, dann fallen einem die vielen Untiefen und Sandbänke auf, die tückische Strudel bilden. Der an seiner Oberfläche so ruhig und schläfrig wirkende Strom verbirgt seine immense Kraft geschickt.

Erst wenn man es einmal versucht hat, in der Oder zu schwimmen, weiß man über die

Schrecken ...

Melusine war eine echte Nixe. Im Altfranzösischen wird sie als »Schlangenweib« bezeichnet. Der Sage nach soll Melusine den Herrn von Lusignan verhext haben. Die wasserlastige Dämonin, deren Reizen niemand widerstehen konnte, habe den Herrn von Lusignan, so bezirzt, dass er ihr restlos verfiel und sie heiratete. Als er sie heimlich beim Bade beobachtete, verwandelte sie sich in eine Seeschlange und verschwand im Wasser auf Nimmerwiedersehen. Der Ritter wurde darüber unglücklich, verlor sein Vermögen und starb einsam und verlassen.


Melusine

Oderufer bei Kienitz

Sonntag, 1. Januar 2006

Was da im Eis trieb war nur schwer zu erkennen. Etwas Dunkles schien es zu sein, was da ab und an zwischen den Eisschollen hervorkam. Schwer zu sagen, ob es noch brauchbares Treibgut abgeben würde.

Die Gestalt am Ufer der Oder stand etwas unschlüssig und blickte zweifelnd aufs Eis. Eisnebel ließ die andere Uferlinie nur erahnen. Unheimliche Geräusche kamen vom Fluss.

Jedes Mal, wenn die brechenden Schollen aneinander krachten, erklang ein markerschütterndes Ächzen, als ob der Fluss unter der Last des Eises stöhne. Das dunkle Etwas inmitten der Eiswelt verschwand und tauchte an einer anderen Stelle wieder auf.

Irritiert trabte der kleine Mann neben den Schollen her und versuchte dem Eisstrom zu folgen. Hier auf dem Oderdeich ließ es sich gut laufen. Die Luft war trotz der Frosttemperaturen angenehm zu atmen. Man konnte schon etwas vom Ende des Winters spüren.

Jede Zeit hatte ihren speziellen Geruch in der Luft. Das Nahen des Winters kündigte sich durch einen Hauch von Rauch im Äther an. Sein Verschwinden und der diskrete Duft vermoderter Blätter deuteten die Ankunft des Frühlings an.

Der einsame Läufer starrte auf den dunklen Fleck inmitten des Eischaos. Irgendetwas störte den Beobachter an diesem Ding. Es schien sich zu bewegen ...

Oder täuschte nur das Eisflimmern eine Bewegung vor? Endlich schien der dunkle Fleck näher zu kommen. Die Oder hatte hier bei Kienitz viele Sandbänke, die den Fluss beschleunigten. An der Strömungsseite der einen großen Sandbank, kurz vor dem alten Heizkraftwerk, türmten sich die Eisschollen zu bizarren Eisbergen auf. Eingekeilt zwischen zwei großen Bruchschollen blieb das dunkle Etwas hängen.

Der Deichläufer erklomm vorsichtig das kleine Gebirge aus Eiskanten und Schneeresten. Je näher er sich heranarbeitete, desto mulmiger wurde ihm. Der ganze Eisberg schien recht instabil zu sein. Vor ihm wuchs das Bündel an. Ein größerer Körper schien es zu sein.

Eigentlich wollte er sich schon wieder davonmachen, aber etwas ließ ihn plötzlich erstarren. Winkte da nicht ein Arm aus dem Eis?

Dieser grünlich bläuliche Stecken hatte jedenfalls verblüffende Ähnlichkeit mit einem menschlichen Arm und einer Hand, deren Finger starr in alle Richtungen abstanden. Etwas ungläubig näherte sich der Flussläufer dem Ding. Aus dem mulmigen Gefühl wurde Gewissheit - im Eis vor ihm erblickte er die grünlich grau verfärbte Leiche einer nackten Frau.

Das Eis hatte ganze Arbeit geleistet. Der Körper war stark zerschunden. Überall waren große Schnittwunden zu sehen, die, inzwischen blutleer, weit auseinanderklafften. Auch das Gesicht war stark entstellt.

Da, wo eigentlich die Augen sein sollten, waren leere Höhlen, von der Nase war nicht mehr viel zu erkennen und auch die Ohren waren nur noch als Ansätze zu erahnen. Verfilztes langes Haar bedeckte den Kopf gnädigerweise so, dass die Wunden nur beim genauen Hinsehen zu entdecken waren.

Der ganze Torso hing fast vollständig im Eiswasser zwischen den Eisschollen, die hier an der Sandbank einen kleinen schützenden Freiraum geschaffen hatten. Dem Entdecker des grausigen Fundes wurde spontan übel. Er erbrach sich direkt ins Wasser. Etwas benommen torkelte er zurück ans sichere Ufer.

Er hatte den Damm noch nicht wieder erklommen, als er etwas sah, was ihn zutiefst verstörte. Er sah einen Mann die Deichkrone herabrennen Richtung Sandbank. Auch er schien die merkwürdige Frauengestalt im Eis entdeckt zu haben. Aber nicht das irritierte den kleinen Mann. Das Gesicht des ihm entgegenkommenden Mannes war ihm merkwürdig vertraut und gleichzeitig auch vollkommen fremd.

Ein Spuk am helllichten Tage. Vielleicht hing es ja mit der Frau im Eis zusammen. Vielleicht war sie ja gar kein menschliches Wesen, sondern eine Nixe. Ihm fielen all die wunderlichen Geschichten ein, die seine Mutter abends immer vor dem Einschlafen erzählt hatte.

Später hatte sie zwar stets gesagt, dass es alles Märchen seien, aber offensichtlich schienen sie doch viel mehr Wirklichkeit zu sein, als er zu glauben wagte.

Unschlüssig darüber, was er nun machen sollte, lief er auf und ab. Sprach mit sich selbst, schlug sich mit beiden Fäusten auf die Oberschenkel, um zu spüren, dass das alles kein Traum sei.

Die Eisluft begann schon ihr helles Flirren zu verlieren. Ein Hauch Dämmerung zog heran, tauchte die Uferwelt ins matte Blau der Winternacht. In der Ferne erklang das Läuten einer Kirchenglocke. Viermal schlug es an. Nervös blickte der Uferläufer Richtung Kienitz. Zögernd lief er Richtung Dorf davon.


Eine Meldung in der Märkischen Oderzeitung vom 3. Januar 2006

Am Morgen des 2. Januar wurde in der Nähe des Ortes Kienitz eine weibliche Leiche aus der Oder geborgen. Die Örtliche Freiwillige Feuerwehr hatte bei einer Übung die Tote am Ufer der Oder inmitten von Treibeis entdeckt, wie eine Polizeisprecherin mitteilte.

Hinweise auf ein Fremdverschulden für den Tod konnten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt werden, da die Leiche durch das Einwirken des Treibeises stark in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Näheres über die Todesursache wird erst eine Obduktion ergeben, fuhr die Polizeisprecherin fort. Auch Angaben über Herkunft und Alter der Person sind bisher nicht möglich.

Und ein Bericht ...

Übungsausfahrt der Freiwilligen Feuerwehr Kienitz am 2.1.2006

Am Morgen des 2.1.2006 trafen sich die Mitglieder der FFW Kienitz zum traditionellen Jahresauftakt am Spritzenhaus. Pünktlich um 9.30 Uhr erfolgte die Ausfahrt mit den beiden Löschfahrzeugen Richtung Oderufer. Auf dem Übungsplan stand Bergung einer Person aus dem Eis. Hierzu waren speziell Leitern und Stangen mitgeführt worden. Beim Annähern der Fahrzeuge an die Oder konnten keinerlei Auffälligkeiten beobachtet werden. Die Übung verlief reibungslos. Beim Verstauen der Geräte wurde die Mannschaft des Kameraden Kohlgruber vom Löschfahrzeug II auf einen im Uferwasser schwimmenden Gegenstand aufmerksam. Nachdem sich Kamerad Kohlgruber vergewissert hatte, dass der Gegenstand eine Leiche weiblichen Geschlechts war, alarmierte er mich umgehend. Ich ordnete eine sofortige Absperrung des Uferabschnitts an und informierte die zuständigen Behörden der örtlichen Polizei per Telefon. Um 12.25 Uhr trafen die beiden ersten Streifenwagen aus Frankfurt/Oder am Fundort ein. Ich erstattete einen kurzen Bericht und ordnete dann den Rückzug der beiden Löschfahrzeuge ins Objekt an. Um 14.45 Uhr waren die beiden Fahrzeuge wieder im Standort. Die Übung wurde mit einem kurzen Auswertungsgespräch abgeschlossen.

Werner Cholynski

Wehrführer, FFW Kienitz

Nachtrag:

Diverse Reifenspuren sind von uns am Fundort der Leiche sichergestellt worden. Auch Fußspuren, die mindestens zu acht verschiedenen Personen gehören müssen, konnten eindeutig identifiziert werden. Ein Zusammenhang zwischen der Spurensicherung und der gefundenen Leiche kann nicht ausgeschlossen werden.


Im Dorfkrug von Kienitz

Montag, 2. Januar 2006

Am Abend ging es im Dorfkrug hoch her. Stimmengewirr, Zigarettenqualm und Bierdunst erzeugten eine eigenartig dichte Atmosphäre in dem sonst eher stillen Schankraum. Die Leute von der Freiwilligen Feuerwehr gaben den Ton an. Schon etwas benebelt vom Alkohol drängten sich die jungen Burschen nach vorne und gestikulierten wild herum.

 

»Ick hab ja noch jesacht, det is ne Tote da, was da im Wassa liecht, hab ick, doch ... Un plötzlich waren da alle um mich herumjestanden und hamse ooch jesehn. Janz blau war se un entstellt von dit Eis un janz nackelig lag se da so im Wassa. Muss ma ne schöne Frau jewesen sein. Noch jar nich so alt. Aba det kann man bei so ne Wassaleiche jar nich sachen.«

Ein rotblonder Hüne mit wettergegerbtem Gesicht und einer halbvollen Tulpe Bier in der Hand überschlug sich beim Erzählen im breiten Dialekt der Ostbrandenburger fast vor Eifer.

Ein solch gruseliger Fund gehörte nicht zum Alltag am Fluss. Eigentlich hatte sich hier seit dem letzten Hochwasser nichts Aufregendes mehr ereignet. Die Leute in den Orten am Oderufer führten ein zurückgezogenes, unspektakuläres Leben.

Im Sommer zog es immer mehr Städter aus dem nahen Frankfurt oder sogar aus dem fernen Berlin hierher zum Radwandern oder zum Paddeln auf dem Fluss. In der dunklen Jahreszeit verirrte sich nur selten ein Fremder ins Dorf.

Man war unter sich, genoss die intime Stimmung. Viel war sowieso nicht zu verdienen hier am äußersten Rande Deutschlands. Jobs waren rar, junge Leute zog es hinüber gen Westen.

Zurück blieben die älteren und die Hausbesitzer, die an ihrem Grund und Boden hingen und dafür einiges an Unannehmlichkeiten auf sich nahmen.

Die einzige Kneipe im Ort war der alte Dorfkrug. Ein eher nüchterner Zweckbau aus den Sechziger Jahren, ehemals als HO-Gaststätte erbaut mit Tanzsaal und Kegelbahn, inzwischen erfolgreich privatisiert. Der Inhaber, der ehemalige Leiter der HOG, hatte den Sprung in die neue Welt des Unternehmertums geschafft; er kaufte den etwas heruntergekommenen Rauputzbau für eine symbolische Summe, strich sie weiß an und brachte eine kleine Leuchtreklame über der Eingangstür an: »Zum Alten Oderschiffer« strahlte nun im neongrünen Licht in die Nacht.

Im Sommer stellte er Tische und Stühle raus, dazu ein paar Sonnenschirme mit bunter Werbung für diverse Biersorten. Dann war das Haus gut besucht. Im Winter allerdings lebte man auf bescheidenem Fuße.

Vielleicht dreißig Leute drängten sich in der Schankstube. Doch dem Stimmengewirr nach zu urteilen würde man eine ganze Hundertschaft hier vermuten.

Jeder glaubte, seine Stimme zum Thema erheben zu müssen. Rings um den Tresen ging es am hitzigsten zu. Wortführer war Kohlgruber, der Finder der Leiche.

Er genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. In immer monströseren Farben schilderte er seinen Fund. Die meisten nickten eifrig und pflichteten ihm bei.

»Ja ja, sah janz schlimm aus ...«

Der Wirt schenkte eine Runde Klaren aus: »Geht aufs Haus!«

Soviel Umsatz wie an diesem Abend hatte die Kneipe sonst den ganzen Winter nicht. Zustimmendes Gegröle. Kohlgruber prostete den anderen zu.

Alle waren sichtlich damit beschäftigt, den Doppelten hinunterzustürzen.

Etwas abseits stand ein etwas kleinerer Mann, der sich aus der Zecherei heraushielt. Etwas verlegen verfolgte er die Gespräche, stierte dabei in sein Glas, welches bereits zu zwei Dritteln geleert war. Ein kollegialer Knuff ins Kreuz sollte ihn animieren, auch etwas mehr mitzutun beim Umtrunk. Unwirsch wehrte er die Einladung ab, legte einen Fünfeuroschein auf den Tresen und verschwand.

Kaum einer nahm Notiz vom Weggang des kleinen Mannes. Erst spät nach Mitternacht torkelten die letzten Besucher aus dem Dorfkrug. Die Leuchtreklame war längst schon erloschen, als ein Trupp Unverzagter noch lauthals schwadronierend durchs Dorf zog. Die Lichter in den Häusern waren aus, alles schlief bereits. Nur im Nachbarhaus, gleich neben der Kneipe, brannte ein schwaches Licht, vielleicht eine Fernsehleuchte. Aber darauf achtete niemand mehr.

Kienitz

Donnerstag, 5. Januar 2006

Zwei Tage waren vergangen. Das Dorf schien wieder zu seinem gewohnten Rhythmus zurückgekehrt zu sein. Ein dunkelgrauer Kombi mit Frankfurter Nummer parkte vor dem Gemeindehaus.

Er gehörte der Kripo aus Frankfurt. Die beiden Insassen waren bereits im Gemeindehaus verschwunden. Der Bürgermeister hatte die beiden Kripobeamten in sein Zimmer gebeten. Kaffeeduft lag im Raum. Ein paar Kekse waren auf einem Teller dekorativ aufgeschichtet. Etwas ratlos erwartete der Bürgermeister die Fragen der Beamten.

Nein, er kenne die gefundene Person nicht, auch seien bisher keinerlei Hinweise auf vermisste Personen eingegangen und im Dorf wisse auch keiner etwas über die geheimnisvolle Leiche. Er könne ausschließen, dass die Frau aus dem Ort oder aus den Nachbardörfern im Oderbruch komme.

Vielleicht sei sie ja aus dem benachbarten Polen, schließlich ist die Grenze ja direkt im Fluss. Ob die Polizei denn schon mal die Behörden im benachbarten Küstrin, das jetzt Kostrzyn hieß, befragt habe, die verständen auch ganz gut deutsch?

Die beiden Beamten machten sich missmutig ein paar Notizen. Routinearbeit, diese Befragungen, die meist nichts erbrachte, aber dennoch durchgeführt werden musste. Natürlich waren die Kripoleute schon auf die Idee gekommen, im benachbarten Polen nachzufragen, ob dort eine weibliche Person vermisst wurde.

Allerdings war bisher noch nichts Brauchbares gemeldet worden. Man tat sich schwer mit dem Amtshilfeersuchen. Es gab genügend Arbeit mit Schmuggel und Menschenhandel.

Um eine ominöse Fremde, die nirgends als vermisst gemeldet worden war, konnte man sich daher nicht auch noch kümmern. Zumal sie schon tot war und bisher nichts auf ein gewaltsames Ende hindeutete.

Die Leiche war bereits abtransportiert in die Gerichtsmedizin ins ferne Potsdam. Die Kripo aus Frankfurt verfasste einen abschließenden Bericht über die Umstände des Auffindens und den Stand der Bearbeitung bei der Klärung der Identität. Etwas dünn war der Bericht schon.

Aber mit der Leiche sollten sich die Kollegen vom LKA in Potsdam herumärgern. Die zogen solche Fälle sowieso an sich. Wozu soviel Aufwand mit einer Person, die sowieso keiner in der Gegend kannte!

Die Dienststelle in Frankfurt/Oder hatte genug mit Grenzdelikten zu tun. Für ominöse Todesfälle war da eigentlich keine Zeit, und erst recht hatte keiner der Beamten Lust auf mühselige Detektivarbeit.

Auszug aus einem Artikel in der Wochenendbeilage der »Potsdamer Neuesten Nachrichten« über die Entwicklung der Vermisstenzahlen im Lande Brandenburg:

... konnte auch für das gerade abgelaufene Jahr 2005 wiederum eine Steigerung bei der Aufklärungsrate von Vermisstenfällen festgestellt werden. Über 75 Prozent aller als vermisst gemeldeten Personen konnten im Berichtszeitraum aufgefunden werden. Meist handelte es sich um Kinder und Jugendliche, die ihrem Elternhaus den Rücken kehrten. Ein zunehmender Anteil debiler und seniler Personen ist bei dieser Statistik ebenfalls zu verzeichnen. Die Vermisstenstatistik spiegelt hierbei auch die allgemeine Entwicklung der Bevölkerung wieder.

Die Gründe, warum Personen in unserer Gesellschaft immer wieder ins Abseits geraten und als vermisst gemeldet werden, sind ausgesprochen vielfältig. Oftmals werden Personen als vermisst gemeldet, die bereits seit Monaten keinen Kontakt mehr zu ihrer Umwelt hatten und vollkommen vereinsamt sind. Dieses Problem der gesellschaftlichen Isoliertheit und Vereinsamung wird inzwischen als ein soziales Problem erkannt und rückt immer mehr in den Brennpunkt kommunaler Politik. Mit entsprechenden Angeboten versuchen die Kommunen hier Abhilfe zu schaffen.

Potsdam

Freitag, 6. Januar 2006

Linthdorf legte die Zeitung weg und ging zum Fenster. Es war einer dieser typischen grauen Wintertage. Ein wirkliches Wetter ließ sich nicht definieren. Über dem Häusermeer von Potsdam lag dichter weißgrauer Nebel. Ein ungemütlicher Wind pfiff durch die Straßen und eisiger Sprühregen verbreitete zusätzlich ein Gefühl von Kälte.

Er stand immer noch am Fenster seines Büros im fünften Stock eines Siebzigerjahrebaus, stierte in den grauen Tag und grübelte vor sich hin. Irgendwie lief seine Zeit hier nach einer eigenen Uhr ab.

Die Tage dehnten sich und die kurzen Abende und die noch selteneren freien Wochenenden wurden auf den Augenblick eines Atemzugs reduziert.

Ein Blick auf seinen Schreibtisch schien diesen Eindruck zu bestätigen. Akten stapelten sich zu Papierhaufen beachtlicher Größe. Linthdorf staunte immer wieder, dass diese Stapel nicht umfielen. Wieder war eine blassgrüne Mappe auf seinem Tisch gelandet. Wahrscheinlich wieder eine der zahllosen Vermisstenanzeigen, die in den letzten Jahren immer mehr geworden waren. Die Aufklärungsrate bei solchen Fällen war leider nicht sehr hoch, da die meist jugendlichen Ausreißer sich sehr schnell dem Bereich der Zuständigkeit deutscher Justiz entzogen.

Oftmals meldeten sie sich völlig abgebrannt erst nach Jahren aus Thailand oder Brasilien zurück. Amtshilfeersuchen brachten meist nur viel bürokratischen Aufwand, aber selten Ergebnisse.

Lustlos schnappte er sich die dünne Mappe. Sie trug den Stempel der Kripo aus Frankfurt/Oder. Unterschrift unleserlich. Die hatten den ganzen Fall einfach ans LKA abgegeben. Ein paar Fotos rutschten heraus.

Kein schöner Anblick. Eine Wasserleiche, ziemlich entstellt. Der kurze, sachliche Bericht, der beigefügt war, versetzte Linthdorf auch nicht gerade in Euphorie.

Was sollte er jetzt hier noch ermitteln?

Die Frau konnte von sonst wo kommen: Ukraine, Weißrussland, Rumänien oder noch weiter weg. Der Tag hatte bereits einen ersten Kratzer aufs Gemüt des Mittvierzigers gezeichnet. Ja, natürlich gab es einen Routineablauf für solche Vorgänge.

Immer das Gleiche: Klärung der Identität, Klärung der Todesursache, Klärung des Umfelds. Er musste sich zunächst in die Gerichtsmedizin begeben. Schließlich konnten anhand körpertypischer Merkmale erste Indizien zur Herkunft der Unbekannten festgestellt werden. Ein kurzes Telefonat mit den Gerichtsmedizinern, Linthdorf schwang sich schwerfällig aus dem Drehstuhl, der unter seinem Gewicht schon des Öfteren nachgegeben hatte und seitdem ein etwas wackliges Konstrukt war.

Irgendwelche Schrauben waren auch schon abhandengekommen, so dass die Höhe des Stuhles nicht mehr einstellbar war. Jedenfalls hatte Linthdorf sich mit den Gebrechen seines Stuhls vertraut gemacht und achtete darauf, nicht allzu oft damit zu drehen.

Wenn er im Zimmer aufrecht stand, wurde es dunkel. Sein massiger Körper verdeckte so ziemlich vollständig das Fenster und nahm auch dem Neonlicht den größten Teil seiner Helligkeit.

Linthdorf war dieser Effekt bewusst. Irgendwie war es ihm peinlich, sobald andere Menschen im Raum waren. Er setzte sich deshalb auch stets schnell wieder hin und nahm so den Besuchern seines Büros die Beklemmungen, die unweigerlich aufkamen, wenn sie ihn in voller Größe hier erblickten. Mit einer lichten Höhe von zwei Metern und vier Zentimetern und einem Lebendgewicht von annähernd 130 Kilogramm war Linthdorf eine ungewöhnliche Erscheinung.


Potsdam

Immer noch Freitag, 6. Januar 2006

Die Gerichtsmedizin in Potsdam war ein von den Leuten der Kripo oft frequentierter Ort. Das ockerfarbene Gründerzeitgebäude hatte schon viele Beamte in seinen labyrinthischen Gängen gesehen, die dann in den einzelnen Sälen mit stets traurigen Blicken auf die Überreste menschlichen Daseins blickten.

Linthdorf ging zielstrebig zum Keller mit dem römischen Buchstaben III und versuchte flacher zu atmen um den durchdringenden Geruch etwas abzuschwächen, der diesem Gebäude inzwischen eigen war.

Die Gerichtsmediziner liefen alle in den grünen Kitteln und mit den weißen Kopfschutzhauben herum, die zu einer Art Uniform für diesen Berufsstand geworden waren. Linthdorf hielt Ausschau nach einem bestimmten Grünkittel.

Schließlich sah er ihn, vornübergebeugt über einen Tisch, auf dem gerade eine Leiche kunstfertig auseinandergenommen wurde. Ein zweiter Grünkittel assistierte ihm. Kurzer Gruß, man kannte sich.

Linthdorf hielt Abstand, er hatte zwar schon vieles in seiner Laufbahn erlebt, aber der Anblick der leblosen Körper auf dem blanken Metalltisch hatte jedes Mal verheerende Wirkung: Übelkeit, wackelige Knie und Schweißausbrüche.

Er kannte das schon, versuchte sich auf etwas Harmloses zu konzentrieren, starrte die gegenüberliegende Wand an, wo ein großes gerahmtes Poster mit einer mediterranen Küstenlandschaft für Reisen nach Kreta warb. Eigentlich ein komischer Kontrast, im Angesicht des Todes vom Urlaub zu träumen. Endlich schien der Grünkittel sein blutiges Werk vollbracht zu haben. Er blickte auf, sah Linthdorf etwas blass vor sich hin stieren, lächelte fein.

 

»Na, was führt dich mal wieder hierher?«

Linthdorf war erleichtert. »Können wir kurz sprechen? Ich glaub’, du kannst mir etwas zu der Wasserleiche aus der Oder erzählen, die vorgestern bei euch reinkam.«

Der Grünkittel hatte Mitleid mit Linthdorf. »Komm, wir gehen hoch! Trinken einen Kaffee.«

Erleichtert verließ Linthdorf zusammen mit dem Grünkittel die unterirdischen Gefilde. Im Erdgeschoss hatte die Gerichtsmedizin eine kleine Cafeteria mit Imbissangebot für die Mitarbeiter des Hauses eingerichtet. Die zehn Plastiktischchen und die darum herumstehenden Plastikstühle verbreiteten eher Bahnhofsatmosphäre denn die Gemütlichkeit einer Cafeteria.

Sie waren aber dennoch gut frequentiert. Ein paar Yuccapalmen sorgten für etwas Grün inmitten des tristen Grau und Weiß. Linthdorf steuerte den runden Tisch direkt neben den Yuccas an.

Auf dem Tablett zwei Pott Kaffee, dazu ein paar Croissants. Der Grünkittel fing an, herzhaft in sein Croissant zu beißen. Krümel stiebten herum, bedeckten die bis dahin monoton grüne Brust mit hellen Sprenkeln. Linthdorf lächelte, es ging also nicht nur ihm so, wenn er in solch fragile Backwerke biss.

»Also, deine Odernixe ist wahrscheinlich keine Ausländerin. Die Zähne sind eindeutig von einem hiesigen Zahnarzt behandelt worden. Sowohl die Ausführung der Arbeiten als auch die verwendeten Füllungen sind gute deutsche Wertarbeit. Da kannst du mit deinen Nachforschungen anfangen. Eine ziemlich komplizierte Arbeit, kann nur ein Spezialist, ein Kiefernchirurg vielleicht, ausgeführt haben. Davon gibt es nur wenige. Die Dame muss bereits in früher Jugend einen Großteil ihrer Zähne eingebüßt haben. Sowohl oben als auch unten sind komplizierte Kronen und Brücken montiert worden. Natürliche Zähne hatte sie nur noch drei, obwohl sie gerade mal Ende Dreißig war.

Außerdem haben wir bei ihr Spuren von Marihuana nachweisen können. Sie muss ziemlich viel davon konsumiert haben. Ihre Lungenflügel, besser gesagt, das, was davon noch übrig war, hatten auch recht schwarze Teerablagerungen aufzuweisen. Starke Raucherin, dreißig bis vierzig Zigaretten pro Tag, würde ich sagen. Vom Mageninhalt ist nichts mehr verwertbar gewesen. Da haben wahrscheinlich Aale ganze Arbeit geleistet. Ich habe dir mal alles zusammengeschrieben, den ausführlichen Bericht schicke ich dir noch zu.«

Der Mann in Grün schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee und fuhr fort: »Sie lag mindestens ein bis zwei Tage im Wasser. Todesursache ist allerdings nicht Ertrinken. Anhand der vielen Blessuren, die der Körper aufwies, ist es schwierig, eine äußere Todesursache festzustellen, aber ich gehe davon aus, dass einige der Blessuren tödlich gewesen sein könnten.

Ich bin noch dabei, zu klären, welche davon erst post mortem hinzukamen. Außerdem hat sie zwei Splitterbrüche an beiden Armen. Schmerzhaft und mit Sicherheit vor dem Tode bekommen.

Inwieweit sie Spuren einer Kampfhandlung sein könnten, lässt sich allerdings nicht sagen. Es sieht eher so aus, als ob sie aus recht großer Höhe gesprungen war und dabei mit den Armen sich abstützen wollte. Unter den Fingernägeln habe ich allerdings kein Erdmaterial gefunden. Kann natürlich sein, dass die Leiche zu lange im Wasser lag und alle Erdspuren verschwunden sind.

Auch auffällig, dass keinerlei Hinweise auf ein Sexualdelikt vorhanden sind. Im Vaginalbereich wurden keine Spuren von Sperma gefunden.«

Linthdorf lauschte dem Bericht des Mediziners, kaute sein Croissant und schlürfte den Kaffee. Eigentlich hatte er gehofft, den ganzen Vorgang auf einen Stapel ablegen zu können, der speziell für solche Todesfälle mit unbekannten Personen, die nicht identifiziert werden konnten, eingerichtet worden war.

Im offiziellen Sprachgebrauch wurden diese als »Todesfälle mit Migrationshintergrund« bezeichnet. Nur selten kamen Anfragen aus den osteuropäischen Staaten zu den hier liegenden Akten. Im Büro von Linthdorf stapelten sich inzwischen schon fünfzehn solcher Akten zu denen es keinerlei Erkenntnisse und brauchbare Informationen gab. Er hatte dafür im untersten Regal Platz gemacht und den Stapel dorthin verbannt.

Jedes Mal, wenn er einen Blick darauf warf, wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie wenig doch die moderne Kriminalistik zu solch hoffnungslosen Fällen beitragen konnte. Fünfzehn Schicksale nur hier bei ihm. Wie viele insgesamt es davon gab, ließ sich schwer schätzen, mit Kollegen hatte er sich darüber wenig unterhalten. Sein Chef musste darüber wohl einen größeren Überblick haben.

Aber da war wieder ein wunder Punkt im Leben Linthdorfs angerissen worden. Sein Chef, ein pedantischer Bürokrat mit der Gefühlswelt einer Kreuzspinne, hatte zu ihm ein eher angespanntes Verhältnis. Man ging sich aus dem Wege, so gut es ging.

Ab und an waren Treffen jedoch nicht vermeidbar. Linthdorf versuchte dann, die Informationen so klar und sachlich wie möglich darzulegen, um keinerlei Anhaltspunkte für Formfehler oder anderweitige Kritik zu geben. Allerdings endeten solche Arbeitstreffen meist mit einer totalen Missmutigkeit seitens Linthdorfs. Er zwang sich, an etwas Anderes zu denken, als an seinen Chef.

Also ein Tötungsdelikt, trivial auch als Mord oder Totschlag bezeichnet. Welche genaue Art und Weise zum Tode der Frau führte, galt es zu klären. Linthdorf wusste, dass er damit nun nicht mehr als Einzelkämpfer zu tun haben würde. Solche Kapitalverbrechen wurden im Dezernat immer im Team bearbeitet. Jeder war spezialisiert auf ein bestimmtes Aufgabenfeld, und einer koordinierte das Ganze.

Das gefiel Linthdorf deutlich besser als dieses zermürbende Stochern im Nebel auf verlorenem Posten. Für Kapitalverbrechen, speziell Tötungsdelikte mit unbekanntem Tathergang, gab es innerhalb des LKA operative Strukturen, die in kürzester Zeit zu einer Sonderkommission zusammengestellt werden konnten. Solchen Sonderkommissionen gehörten Ermittler, Leute der KTU und neuerdings auch Operative Fallanalytiker, die neudeutsch auch Profiler genannt wurden, an.

Von den vielen leerstehenden Räumen des LKA wurde dann eines in ein Großraumbüro umgewandelt. Seit zwei Jahren hatte er den Luxus eines Büros nur für sich selbst, allerdings empfand er diesen Luxus als unnötig. Im großen Büro mit den anderen Kollegen hatte er sich deutlich wohler gefühlt.

Hier in seiner »Kemenate« kam er sich abgeschoben vor. Bei diesen Gedanken vergaß er fast sein Gegenüber. Der Gerichtsmediziner schaute ihn schon eine ganze Weile an.

»Na, Probleme?«

Linthdorf schüttelte den Kopf.

»Nee nee, lass mal gut sein. Nur das Übliche. Ich muss auch gleich wieder los. Du schickst mir deinen Bericht?«

»Klar, mach ich. Falls mir noch etwas auffällt, ruf ich dich an. Ansonsten hast du nächste Woche den Bericht auf dem Schreibtisch. Grüß mal deinen Chef.«, dabei grinste er etwas hinterhältig. Ein kurzer Händedruck, und Linthdorf war schon auf dem Weg zurück.


Die Nixe und der Tänzer

Im Oderbruch wurde die Sage einer Nixe erzählt, die auf dem Grunde des Flusses leben sollte. Wenn am Sonnabend die Dorfjugend der Kolonistendörfer zum Tanz ging, reihte sie sich unauffällig ein. Nur Eingeweihte bemerkten, dass es sich bei der schönen Fremden um eine Nixe handelte.

Ihre Rockschöße tropften, und auch ihre Ärmel waren feucht. Die unbekannte Schöne tanzte mit den Dorfburschen, bis Mitternacht die Kirchenglocken ertönten, dann musste sie plötzlich gehen. Ein verwegener Bursche folgte ihr jedoch und sah, wie sie in der Oder verschwand.

Wieder luden die Bauern zum Tanz und wieder reihte sich die Nixe mit ein. Der Bursche ging direkt auf sie zu und forderte sie auf. Beim nächsten Tanz sprach er sie auf ihre Nixennatur an. Sie rannte davon, wurde aber vom Burschen schnell eingeholt.

Die Nixe flehte ihn an, sie ziehen zu lassen. Keiner durfte erfahren, dass sie hier zum Tanz war. Doch so einfach ließ sich der Bursche nicht abfertigen. Er hatte sich in sie verliebt.

Also sprach sie: »Lass mich zu meines Vaters Palast auf dem Grunde der Oder gehen. Siehst du weiße Blasen aufsteigen, ist alles gut. Wenn jedoch rote Blasen zu sehen sind, dann renn schnell weg.« Er begleitete sie zum Oderufer. Sie sprang ins Wasser. Lange war nichts zu beobachten, doch dann fing das Wasser zu brausen an und große rote Blasen stiegen auf. Der Bursche erschrak und rannte davon. Die Nixe jedoch ward nimmermehr beim Tanze gesehen.