Krähwinkeltod

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Gerade hatte er sich noch eine Tasse Kaffee nachgeschenkt, als ein Krankenwagen vorbeirauschte.

»Haste geseh’n?«

»Bin ja nicht blind. Guck mal, wo der hält!«

»Vor der Zehn. Bei Irene. Wird wohl was passiert sein.«

»Irene? Na, die ist doch nicht unterzukriegen. Dauernd fährt sie mit Gisela weg. Die lustige Witwe! Haha! Wenn das ihr Hubi noch mitbekommen hätte …«

»Scheint wirklich was passiert zu sein. Guck mal!«

Günni lehnte sich auf seinem Stuhl zurück um aus dem Fenster zu beobachten, was vor der Zehn passierte. Er sah nur ein paar grellorange angezogene Sanitäter herumlaufen. Dann wurde etwas Schweres herausgetragen. Ob das Irene war?

Almtrud hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie war zum Fenster geeilt und spähte hinüber. Inmitten der orangefarbenen Sanitäter sah sie Gisela Kappenbach wie einen Zombie in einer knallbunten Kittelschürze herumlaufen. Da stimmte wirklich etwas nicht. Ob sie mal hinlaufen sollte? Günni stand unschlüssig neben ihr.

»Geht uns doch nix an.«

»Und wenn die Irene …?«

»Na, dann kannst du ihr auch nicht mehr helfen.«

»Aber Gisela, die läuft da rum wie Falschgeld.«

»Is ja gut. Geh schon los!«

Almtrud Weidenbaum ließ sich das nicht zweimal sagen und war in wenigen Sekunden aus dem Haus verschwunden. Auch ihre Tochter, Simonchen genannt, schien etwas mitbekommen zu haben. Sie war nur leicht bekleidet, hatte einen Kunstseide-Morgenmantel übergeworfen, der türkisgrün schillerte und einen großen chinesischen Drachen auf der Rückseite hatte. Ihre Frisur war heute wieder »Pippi Langstrumpf«.

»Warte, Mama, ich komm‘ mit.«

Einträchtig stapften die zwei Frauen zur Nummer zehn. Das Krankenauto stand immer noch vor der Tür. Ein Sanitäter kümmerte sich inzwischen auch um Gisela Kappenbach, die auf den Treppenstufen vor dem Eingang saß und immer nur den Kopf schüttelte.

»Gisi, was ist denn?«

»Reni ist tot.«

»Waaas?«

»Ja, tot. Einfach so.«

Simone setzte sich neben Gisela, blockierte mit ihrem dicken Hintern den Zugang zum Haus. »Was ist denn passiert? Gestern war sie doch noch …«

Gisela zuckte mit den Schultern. Sie verstand die Welt nicht mehr. Natürlich, Irene war immer ein bisschen anfällig, aber dass sie einfach so umfiel und dabei so unglücklich auf den Küchenherd …, also das war schon ein böser Zufall.

»Sie ist wohl gestürzt. In der Küche. Wollte was kochen. Auf die Herdplatte, die an war. Es ist furchtbar. Ganz furchtbar!«

Almtrud war geschockt. Ein Küchenunfall!

»Wann war es denn passiert?«

»Heute früh. Ich kam wohl zehn Minuten zu spät.«

»Ach!«

»Mit dem Kopf lag sie auf der Herdplatte. Ganz furchtbar! Alles verbrannt, die Haut, die Haare …«

»Oh mein Gott! Hat sie noch gelebt, als du kamst?«

»Nein, die Augen waren weit aufgerissen und alles war voller Qualm, man konnte zuerst gar nichts sehen. Und der Gestank!«

»Was für ein Gestank?«

»Nach verbranntem Fleisch. Es war furchtbar. Alles voller Blut in der Küche. Ich kann immer noch …«, Gisela stockte, rang nach Luft und musste sich die Nase schnäuzen.

Almtrud nickte verständnisvoll. »Die arme Irene, ach, die arme Irene. War immer so ein lieber Mensch …«

Skeptisch schaute Gisela auf zu der Frau, die im Dorf auch als die wandelnde Litfaßsäule bekannt war. Almtrud galt als klatschsüchtig und verbreitete jede noch so kleine Intimität über die Bewohner der Häuser in Windeseile.

Ihre Tochter schien in ihre Fußstapfen zu treten und begann ebenfalls Vertraulichkeiten zu sammeln und bei gegebenen Anlässen von sich zu geben. Dabei saßen die Weidenbaums im »Glashaus«, produzierten selbst genug Klatsch und Tratsch. Almtrud und ihr schlapper Günni waren schon eine sichere Quelle für Dorfgespräche, Simone und ihr mickriger Giovanni natürlich noch mehr.

Gisela Kappenbach war das im Moment jedoch egal. Sie war froh, dass jemand da war und sich mit ihr unterhielt. Wahrscheinlich wäre sie sonst verrückt geworden.

Der ganze Tag war futsch!

Ach, die ganze Woche!

Mit wem sollte sie denn jetzt zum Kaffeetrinken fahren? Irene fehlte ihr jetzt schon.

Almtrud und Simonchen hatten Gisela in ihre Mitte genommen. Sie selber war ja auch nicht gerade die Schlankste, aber neben den beiden Weidenbaumfrauen sah Gisela wie ein schmales Reh zwischen zwei Hirschkühen aus. Inzwischen waren noch weitere Dorfbewohner herbeigekommen.

Wally Wüllersbarth und Elvira Flachbein standen am Gartentor, unterhielten sich mit Frieda Humprecht aus der Elf und Irmtraud Schallert aus der Neun. Etwas abseits stand der alte Bachhorn, hustend und spuckend, neben Flachbein und Wüllersbarth. Alle drei schauten betreten zum Haus Nummer zehn. Die Zehn würde wohl das nächste Geisterhaus werden. Irene hatte keine Nachkommen.

III

Siedlung Krähwinkel, Landstraße

Mittwochnachmittag, 3. Oktober 2007

Der Nieselregen vom Vormittag war in einen Dauerregen übergegangen. Dichte Tropfenschleier zogen über die abgeernteten Felder und ließen die braune Erde fast schwarz werden.

Ein Radfahrer, angetan mit einem dunkelgrauen Regencape strampelte durch die eintönige Wasserwelt. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen kämpfte der einsame Radler gegen die immer dichter werdenden Wassermassen an. Auf der Straße hatte sich bereits ein Wasserfilm gebildet, der es schwierig machte, Kurs zu halten. Bei jedem Tritt in die Pedale spürte der Radler das wegrutschende Hinterrad. Es galt, vorsichtiger zu treten.

Natürlich bemerkte der Radler das Auto viel zu spät. Plötzlich war es als dunkler Schatten hinter ihm, viel zu schnell, um noch auszuweichen. Es gab einen dumpfen Schlag und der Radler war mitsamt seinem Vehikel von der Straße hinweggefegt.

Der dunkle Schatten fuhr einfach weiter. Möglicherweise hatte er durch die dichte Wasserwand gar nicht mitbekommen, dass vor ihm ein einsamer Radler strampelte. Aber den Aufprall hätte er schon bemerken können. Das Geräusch war eindeutig und hätte wenigstens einen kurzen Stopp gerechtfertigt. Doch nichts passierte. Er fuhr einfach weiter.

Der Radler stöhnte. Das Fahrrad lag auf ihm. Er selbst lag auf dem Rücken am Feldrand. Der Boden war aufgeweicht und dämpfte seinen Aufprall. Irgendetwas hatte er sich gebrochen. So richtig bewegen ging im Augenblick nicht. Alles tat weh. Regentropfen fielen ihm ins Gesicht.

Ein mühseliges Krächzen entrang sich seiner Brust. »Hilfe!«

Doch er wusste schon, dass kein Mensch ihn hören könnte. Rufen nützte hier draußen nichts.

Später am Abend, als man ihn aufgefunden hatte, war das alles nicht mehr wichtig. Der alte Flachbein war tot. Sein letzter Ausreißversuch war misslungen. Schon ein paar Kilometer hinter dem Dorfausgangsschild war seine Reise zu Ende. Ein Lasterfahrer hatte ihn entdeckt. Der Laster gehörte der Agrargenossenschaft aus dem benachbarten Dorf und transportierte Strohballen für die Rinder. Er fuhr langsam wegen dem Regen, außerdem wurde es schon dunkel. Ein Schwarm Krähen flatterte aufgeregt vor ihm davon. Neugierig schaute der Fahrer nach, woher die Schwarzgefiederten kamen. Am Feldrand hatten sie ihr Lager gehabt. Etwas lag da inmitten von ein paar alten Feldsteinen. Etwas Blinkendes. Sah aus wie ein Fahrrad.

Das kaputte Fahrrad war ganz gut zu sehen. Vielleicht könnte man ja noch etwas davon gebrauchen, das war seine erste Idee. Er hielt an, sah unter dem Fahrrad den alten Mann im Regencape liegen, der mit weitaufgerissenen Augen in den grauen Himmel starrte. Der Fahrer rannte zurück zu seinem Laster, suchte sein Handy und telefonierte. Eine halbe Stunde später waren zwei Krankenwagen und ein Polizeiauto zur Stelle.

IV

Siedlung Krähwinkel, Haus Nr. 13

Mittwochabend, 3. Oktober 2007


Pilzjagd

Unsichtbare Fanfaren erschallen, die Jagd beginnt!

Ausgerüstet mit Messern und Körben,

in Pilzjägeruniform, durchstreifen wir,

sonst harmlose Zivilisten,

die Herbstwälder auf lautloser Pirsch.

Doch die Pilze sind wachsam, gut getarnt

mit braunroten Helmen, ducken sich ins Moos.

Eine erste Kompanie Maronen,

unter einem Stubben verschanzt,

General Steinpilz thront im Eichenlaub,

pfiffige Pfifferlinge auf Spähtour,

im Dämmerlicht ein Parasol ins Auge sticht,

Rotkappen sind die Nachhut, mit Birkenpilzen im

Laubwald versteckt.

Wir schwärmen aus, bereit,

den Kampf aufzunehmen.

Der Tag war viel zu schnell vergangen. Boris Kleinschmidt und seine Frau Nancy waren den ganzen Tag über im Wald gewesen. Pilze sammeln war eine Leidenschaft, die Boris jeden Herbst aufs Neue packte und in die Wälder nördlich von Rheinsberg zog. Der Stechliner Forst, ein großes Waldgebiet mit vielen kleinen Seen, offenen Lichtungen und dichten Laubwaldbeständen war das ideale Jagdrevier für Pilzliebhaber.

Er sammelte nun schon seit seiner frühen Jugend, hatte sich ein entsprechendes Spezialwissen angeeignet und war sogar als Pilzberater tätig. Naja, das klang etwas hochgestochen, war aber eine recht nützliche Tätigkeit. Wer sich unsicher war, was er im Wald so alles aufgesammelt hatte, kam einfach bei ihm vorbei und zeigte ihm seinen Fund. Boris sortierte dann aus.

 

Essbar.

Nicht essbar.

Giftig.

Immer wieder kamen Leute mit leuchtenden Augen, präsentierten Körbe voller Bitterlinge, die sie für Steinpilze hielten und waren dann enttäuscht. Auch Pantherpilze, die eigentlich recht selten waren, wurden ihm schon mal als Perlpilze präsentiert. Aber die meisten Sammler konzentrierten sich auf die üblichen Verdächtigen: Maronen, Pfifferlinge, Rotkappen, Butterpilze, Birkenpilze und Steinpilze. Selten gab es wirkliche Profis, die auch schon mal einen selteneren Täubling aufhoben oder so etwas Aufregendes wie Krause Glucke im Korb hatten.

Boris und Nancy, beide kernige Mitvierziger, durchtrainiert und mopsfidel, waren Naturfreunde. Sie nutzten jedes freie Wochenende, um in die weitere Umgebung zu fahren. Im Sommer waren es die Seen, die beliebte Ausflugsziele waren, im Winter schnallten sie sich die Langlaufskier unter, um jede liegengebliebene Schneeflocke auszunutzen. Zweimal im Jahr fuhren sie in den Urlaub. Im März nach Sankt Anton in Österreich, und im September auf eine Mittelmeerinsel zum Aktivurlaub.

Ihr Haus war ein praktisches Fertigteilhaus, reinweiß gestrichen, mit Solarpaneelen auf dem Dach, Wärmetauscher-Anlage und Regenwasserauffangbecken, dazu ein Doppelcarport und ein großer Rasengarten.

Früher hatte Boris in der Nummer Drei gewohnt. Das war sein Elternhaus. Aber da gab es ja noch seinen Bruder Jesko, der sechs Jahre älter war und dadurch einen biologischen Vorsprung hatte. Jesko hatte früh geheiratet und drei Kinder in die Welt gesetzt.

Er hatte den alten Bauernhof der Eltern umgebaut zu einem großen Wohnhof. Die Eltern bekamen die eine Haushälfte als Altenteil und er bezog mit seiner Familie den größeren Anbau.

Für Boris war einfach kein Platz mehr. Boris, der erst spät geheiratet hatte, kaufte kurzerhand ein freies Grundstück und baute dort sein Haus drauf. Das war vor zwanzig Jahren. Anfangs gab es immer noch etwas Hader zwischen den Brüdern, aber mit der Zeit vertrugen sie sich wieder.

Die Eltern waren gestorben, dafür waren die drei Kinder Jeskos inzwischen flügge geworden und machten sich mit ihren Freundinnen in dem ehemaligen Altenteil breit. Haus Nummer Drei war immer voll mit Leben. Irgendein junger Kleinschmidt war stets mit einer kreischenden oder kichernden Freundin zugange.

Das war Boris egal. Er hatte mit seinen drei Neffen nicht viel am Hut. Die waren ihm einfach zu laut und ungestüm. Für Pilze und andere Naturschönheiten hatten die sowieso kein Interesse.

Dafür aber seine Frau Nancy umso mehr. Nancy war eine ehemalige Leistungssportlerin. Sie konnte rennen, springen, turnen … einfach alles, was es auf dem Gebiet des Sports gab. Beim Schwimmen pflügte sie wie ein Torpedo durchs Wasser. Nancy war einfach unschlagbar.

Boris hatte einen großen Korb voller Pilze, seine Frau ebenfalls. Der Tag war ergiebig. Es hatte zwar die ganze Zeit geregnet, aber das war für die beiden Kleinschmidts kein Problem. Wetterfeste Kleidung und Gummistiefel waren ideal für lange Waldwandertage. Das ganze Haus roch inzwischen schon nach den Pilzen. Der etwas unangenehme Teil des Ausflugs war das Putzen und Säubern der Hutträger. Aber zu zweit ging es auch recht schnell. Eine große Pfanne voller Pilze würde das Abendessen werden, der Rest der Pilze sollte getrocknet werden.

Es war bereits abends um Sieben. Höchste Zeit fürs Abendessen. Zumal Pilze immer etwas weniger bekömmlich waren. Man schlief schlecht mit einem Magen voller Pilze. Sie waren schwer verdaulich. Naja, Boris trank hinterher immer einen kleinen Magenbitter, dann ging das schon. Aber Nancy klagte doch öfters nach einem Pilzessen über Magenprobleme.

Das Pilzessen am heutigen Feiertag war wieder ein besonders wohlschmeckendes Ereignis. Boris hatte drei große Krause Glucke-Pilze gefunden. Diese drei Prachtexemplare, großen Badeschwämmen nicht unähnlich, wogen zusammen bestimmt schon knapp zweieinhalb Kilogramm. Einen wollte Boris trocknen, ein idealer Würzpilz für Soßen. Die beiden anderen landeten feingeschnipselt mit in der Pfanne, in der Rotkappen, Maronen, Steinpilze, aber auch die selteneren Perlpilze und ein paar verspätete Pfifferlinge schmorten.

Sowohl Boris als auch Nancy hatten sich den Bauch vollgeschlagen, trotzdem war noch reichlich übrig.

Beide spürten schon, dass sie ihrem Magen etwas viel zugemutet hatten. Boris holte zwei Magenbitterfläschchen hervor. Dann gingen die beiden Waldliebhaber zu Bett, träumten von dem großen Fund und schliefen tief und fest.

V

Siedlung Krähwinkel, Haus Nr. 13

Donnerstag, 4. Oktober 2007

Die Regenfront war vorübergezogen. Der Donnerstagmorgen präsentierte sich in einem freundlichen Himmelblau. Ärgerlich, dass der Feiertag so verregnet gewesen war. Heute mussten die Leute wieder zur Arbeit, hatten daher von dem schönen Himmelblau nicht viel. Dennoch war die Stimmung dank des sonnigen Wetters bei den meisten Leuten gut. Die Woche war kurz. Der Feiertag hatte eine nette Unterbrechung des Alltags mit sich gebracht.

Die Kappenbachs aus der Vierzehn waren von dem schönen Wetter unberührt. Gisela hatte die dunkle Garderobe hervorgeholt. Sie trug Trauer. Erhard hatte wie üblich seine Trainingshose an, darüber den grauen Kittel.

Gestern war Irene verunglückt. Die jungen Kappenbachs von nebenan waren von der Nachricht nicht sonderlich berührt.

Silke Kappenbach, Giselas Schwiegertochter, hatte sich zu dem unnötigen Kommentar hinreißen lassen, dass es ganz gut war, dass ihr der Anblick der verunglückten Irene erspart bliebe. Sie würde von solch grässlichen Bildern immer nur schlecht schlafen.

Marius, der in den jungen Jahren von seiner Tante recht oft profitiert hatte, zuckte mit den Schultern. Na, da wäre ihr ein langes Siechtum in dem öden Haus erspart geblieben. Wer weiß, vielleicht wäre sie auch schon etwas senil gewesen. Mit ihrer Geisterseherei und ihren Ängsten wäre sie eigentlich ein Kandidat für das Pflegeheim gewesen. Letztendlich sei der Unfall möglicherweise die Folge von dieser beginnenden Senilität.

Gisela war entsetzt, wie herzlos ihr Sohn auf den Tod ihrer Schwester reagierte. Aber vielleicht hatte er ja Recht. Sie hatte sich schon seit Monaten Sorgen gemacht um den geistigen Zustand Irenes. Vielleicht war ihr auch öfters mal ein abfälliges Wort herausgerutscht, wenn sie sich mit den jungen Leuten über sie unterhielt. Direkten Kontakt zu Irene hatten Marius und Silke schon lange nicht mehr. Wenn Irene mal bei ihr vorbeikam, was selten genug vorkam, setzten sie sich nie mit an den Tisch.

Heute früh waren die beiden, als ob nichts passiert wäre, zur Arbeit aufs Amt gefahren. Gisela musste sich mit der Abwicklung der Hinterlassenschaft ihrer Schwester und der Planung der Bestattung allein kümmern. Verbittert saß sie am Küchentisch.

Erhard war draußen im Garten und sprach mit seinem Grünzeug. Sie hatte das schon öfters beobachtet. Meist hatte er eine Flasche Bier dabei, saß vor den Obstbäumen und erzählte den reifenden Früchten etwas. Auch im Wintergarten hatte sie ihn schon reden gehört. Dafür sprach er immer weniger mit ihr und kaum noch mit den jungen Kappenbachs. Erhard wurde wunderlich.

Sie hatte diverse Bestattungshäuser kontaktiert, die ihr Angebote machen sollten. Bereits um Elf sollte der erste Vertreter vorbeikommen. Sie schaute auf die Uhr. Noch eine Stunde Zeit. Sich noch einmal hinzulegen hatte wenig Sinn. Also blieb sie am Küchentisch sitzen und starrte aus dem Fenster. Gerade wollte sie sich aus dem Kühlschrank noch ein Stück Edamer holen, als draußen zwei Krankenwagen vorbeirasten.

Nanu?

Nach wenigen Sekunden kamen die beiden weißen Rettungsfahrzeuge zurück, hielten gleich nebenan vor der Dreizehn. In der Dreizehn wohnten Kleinschmidts, Boris und Nancy. Beide waren Gisela mit ihrem Naturtick und Fitnessgetue zu anstrengend. Nein, zum Kaffeetrinken taugte Nancy Kleinschmidt überhaupt nicht. Wenn sie die quirlige Nachbarin sah, rannte die meist in ihrem Stretch-Jogging-Jumper irgendwo durch die Landschaft. Immer keuchend, keine Ruhemasse. Boris war ja etwas weniger anstrengend, faselte aber dauernd etwas von unberührter Natur und tollen Wellness-Aktivitäten.

Die beiden Kleinschmidts konnten sich das locker leisten. Sie betrieben in Rheinsberg eine Fahrradausleihe. Das Geschäft boomte. Nebenbei verkauften sie auch noch Fahrräder und hatten im letzten Sommer eine Paddelbootausleihstation eröffnet.

Warum die Kleinschmidts hier draußen siedelten, war ihr schleierhaft.

Die einzige Tochter Rachel war seit einem Jahr in den USA um dort an einem Schüleraustauschprogramm mitzumachen. Jedes Mal, wenn sie sich nach Rachel erkundigte, war sie in irgendeiner anderen Stadt. New York, Boston, Indianapolis, San Francisco, Seattle … Was sollte das Mädchen denn da überhaupt noch lernen? Kam ja gar nicht zur Ruhe.

Marius hatte so einen Blödsinn nicht gemacht und war dennoch ein anständiger Mensch geworden.

Neuerdings sprach Nancy den Namen ihrer Tochter auch immer so amerikanisch aus: Räjtschel. Als ob sie langsam amerikanisierte. Sie hatte ja selber einen amerikanischen Vornamen. Nancy, gesprochen Näntzie. Gisela hatte einmal eine Urlaubskarte an die beiden Kleinschmidts geschickt. Die Adresse hatte sie ja gewusst, aber nicht, wie man Nancy schreibt. Dummerweise hatte sie Pünktchen auf das a gesetzt. Nancy war amüsiert und Boris hatte sich über Giselas Sprachkenntnisse lustig gemacht. Seitdem war das Verhältnis zu den Kleinschmidts etwas getrübt.

Und jetzt standen plötzlich zwei Krankenwagen vor der Tür der Kleinschmidts. Sie äugte neugierig hinter der Gardine hinüber. Jesko, der ältere Bruder von Boris, der hinten in der Drei wohnte, kam den Sanitätern entgegen, gestikulierte wild herum und führte sie hinein. Dann ging alles sehr schnell. Die beiden Kleinschmidts wurden auf einer Trage herausgebracht, beide hatten Sauerstoffmasken aufgesetzt bekommen. Innerhalb von drei Minuten waren die Krankenwagen verschwunden. Blaulicht rotierte und ein ratloser Jesko stand am Hauseingang seines Bruders.

Ob sie mal fragen sollte?

Sie hatte mit Jesko nichts zu tun bisher. Außer Hallo und Tschüss wechselte sie mit ihm kaum ein Wort. Und Kleinschmidts waren nun mal ihre direkten Nachbarn.

Gisela humpelte vor die Tür. Die Sonne schien schon angenehm warm herab. Sie musste blinzeln.

»Was ist denn passiert?«

Jesko war irritiert. Seit wann sprach ihn den die vornehme Gisela Kappenbach an? Die dachte doch immer, sie sei etwas Besseres.

»Pilzvergiftung.«

»Ach!«

»Boris und Nancy waren gestern Pilze sammeln. War wohl ein giftiger drunter.«

»Ach! Dabei kannte sich doch Boris aus. War der nicht sogar Berater für Pilze?«

»Ja, aber selbst er kann nicht immer alles richtig zuordnen. War wohl ein Pantherpilz bei. Sagen jedenfalls die Sanitäter. Die hätten dieses Jahr schon ein paar Fälle mit Pilzvergiftung gefahren. Immer Pantherpilz. Der sieht dem Perlpilz doch zum Verwechseln ähnlich. Und soll auch ganz angenehm schmecken.«

»Ach! Nur gut, dass ich Pilze nicht mag.«

»Naja, es sieht kritisch aus. Das Pilzgift ist schon seit gestern Abend in ihnen. Die Wirkung setzt ja immer zeitversetzt ein. Sagen die Sanitäter. Krämpfe, Erbrechen, Wahnvorstellungen, dann Atemstillstand. Immer das gleiche.«

»Oh, und konnten sie …?«

Jesko schwieg. Er hatte die beiden heute früh gefunden. Nachdem er drei Mal angerufen hatte und keiner ans Telefon ging, war er misstrauisch geworden. Eigentlich wollte er nur fragen, ob Boris seine beiden Söhne mit nach Rheinsberg nehmen könnte. Er hatte das Auto seiner Frau überlassen, die nach Wittstock musste.

Etwas war nicht in Ordnung. Das spürte er.

Also zog er sich seinen Pullover über und lief schnell zum Haus seines Bruders. Es war ja kein weiter Weg, gerade mal zweihundert Meter. Nachdem er geklingelt hatte und niemand ihm öffnete, war er noch unruhiger geworden. Die beiden Autos von Boris und Nancy standen im Carport. Sie waren also zu Hause.

Jesko verschaffte sich Zutritt, brach das Türschloss mit einem Tritt auf und stürmte in die Wohnung. Es roch unangenehm nach Erbrochenem. Er rief, bekam keine Antwort, sah seine Schwägerin in ihrem Erbrochenen auf dem Fußboden liegen. Sein Bruder lag im Bett. Beide waren wachsbleich und schienen bewusstlos zu sein. Jesko tippte Eins-Eins-Zwei in sein Handy. Er hob Nancy auf, legte sie vorsichtig aufs Ledersofa, säuberte sie notdürftig und versuchte ein Lebenszeichen festzustellen.

 

Vergeblich. Bei Boris war es ebenso.

Dann sah er sich um. In der Küche sah er die Pilzpfanne, die inzwischen erkaltet auf dem Herd stand. Auch die vielen Pilzabfälle sah er, sie waren ja unübersehbar. Der intensive Pilzgeruch vermischte sich mit dem Geruch des Erbrochenen. Jesko riss das Küchenfenster auf. Er brauchte Frischluft.

Die beiden Krankenwagen kamen auch schon nach zwanzig Minuten herbei. Er machte den Sanitätern klar, was er vermutete. Die waren sehr routiniert. Holten Sauerstoffmasken heraus, begannen mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Jesko stand herum und sah dem Treiben der Rettungskräfte zu. Es ging alles sehr schnell. Nach nur ein paar Minuten war alles vorbei.

Gisela stand neben ihm und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Da war noch der Schmerz über den Verlust der Schwester und es passierte das nächste Malheur.

Was war nur los im Dorf?

Erst der Tote im Straßengraben, dann Irene auf den glühenden Herdplatten und jetzt die Pilzvergiftung der Nachbarn.

Ob Jesko einen Kaffee wollte? Sie habe gerade welchen durch die Maschine laufen lassen.

Mechanisch nickte Jesko Kleinschmidt. Er war im Moment noch so stark angespannt, dass er zu etwas Anderem nicht in der Lage war. Also ging er mit Gisela ins Haus, setzte sich auf den Küchenstuhl und schlürfte den heißen Sud.

Just in dem Augenblick klingelte es wieder an der Tür. Ein graumelierter Herr in grauem Anzug mit grauer Krawatte stand vor ihr. Er hatte ein Visitenkärtchen gezückt. Draußen parkte ein metallicgrauer Audi.

»Mein herzliches Beileid. Bestattungshaus Graumann & Partner. Wir hatten einen Termin …«

VI

Siedlung Krähwinkel, Haus Nr. 4

Donnerstag, 4. Oktober 2007


Die Nacht war für Elvira Flachbein schneller vorbei als gedacht. Sie hatte unruhig geschlafen. Etwas war passiert. Sie spürte es. Ernst war gestern wieder losgezogen.

Mit einem Fahrrad!

Mitten im Regen!

Er hielt es zu Hause nicht aus. Der grausige Fund am Morgen hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen. Erst der Tote im Straßengraben und dann Irene, deren Kopf halb verschmort war und die in einer Lache aus schwarzem Blut lag. Er war in der Zehn gewesen, als der Krankenwagen kam. Zufällig. Und er hatte den dunklen Qualm gesehen, der aus dem Küchenfenster kam. Zuerst dachte er, dass ein Wohnungsbrand …

Aber dann sah er Gisela Kappenbach am Fenster, hustend und bleich. Er wusste sofort, dass etwas passiert war.

Gisela hatte ihn nicht gesehen. Er entdeckte, dass die Haustür offenstand und ging hinein. Es stank entsetzlich nach verbranntem Fleisch. Rauchschwaden waren auch im kleinen Flur und im Treppenhaus. Er ging Richtung Küche, da sah er sie liegen. Irene lag auf dem Küchenboden, starrte ihn aus leeren Augen an.

Ihre kupferroten Haare waren auf der linken Seite verbrannt, die gesamte linke Gesichtshälfte eine blutige Wunde. Ganze Hautpartien fehlten, dafür waren überall schwarzverkohlte Gewebereste zu sehen. Die rechte Hand war ein schwarzer Klumpen verschmorter Zellen. Da, wo einmal die Finger waren, ragten verkohlte Knochenstrünke hervor.

Überall verteilte sich Blut, das aus den großen Brandwunden strömte. Gisela saß teilnahmslos am Küchentisch und starrte vor sich hin. Flachbein war der Anblick unerträglich.

Er musste weg.

Draußen fing er sich wieder, atmete tief durch und sah den Krankenwagen herankommen. Er trat zur Seite, beobachtete, wie die Rettungssanitäter hineinstürmten und wusste, dass es zu spät war. Angelockt von dem Blaulicht und der durchdringenden Sirene kamen immer mehr Dorfbewohner.

Neben ihm standen plötzlich der alte Wüllersbarth und der hustende Bachhorn. Beide waren neugierig, aber beide schienen auch Angst zu haben. Es war ihnen anzusehen, dass die Ereignisse der letzten Tage sie vollkommen überfordert hatten. Na, kein Wunder. Sonst passierte im Dorf jahrelang gar nichts und plötzlich gab es dauernd Tote.

Verwirrt wandte sich Ernst Flachbein ab. Ihm war das unheimlich. Über den Tod wollte er nicht so viel nachdenken. Es war ein so absolutes Ereignis, eigentlich unvorstellbar. Mit einem Schlag war alles vorbei, Nacht, ewige Dunkelheit.

Ihn überkam in dem Moment die Sehnsucht, noch so viel wie möglich in seiner Lebenszeit zu sehen und zu erleben. Im Dorf würde er verlöschen, immer nur die tristen Wände der Wohnung anstarren und Elviras misstrauische Blicke spüren. Er musste weg! Sofort! Raus aus dem Dorf, wo im Moment der Tod umging.

Überall hatten sich die Krähen breit gemacht, Totenvögel, die es nur auf ihn und die anderen Leute abgesehen hatten. Sie sangen ein scheußliches Lied.

Flachbein verstand die heiseren Krächzer. Sie frohlockten. »Warte nur, bald …«

Er zog seine karierte Übergangsjacke an, setzte die Wollmütze auf und kramte das Regencape hervor.

Im Schuppen stand sein altes Fahrrad. Ein wenig Luft aufpumpen und los. Flachbein trampelte.

Zurück blieb Elvira, die stumm die hektische Aktivität ihres Mannes beobachtete. Mit zusammengekniffenen Lippen und in Falten gelegter Stirn gab sie genügend Kommentar zu dem Tun ab.

Ihr Mann wusste genau, was sie davon hielt. Aber sollte er doch in den Landregen raus, vielleicht kühlte er sich dabei etwas ab und kam dann wieder zurück.

Ernst war schon lange nicht mehr Fahrrad gefahren. Sie war sich sicher, dass er nur wenige Kilometer schaffen würde. Zumal bei diesem Wetter. Ohne ein Wort zu sagen ging sie wieder in ihre Küche. Das war nützlicher. Sie kochte gerade Rippchen.

Es vergingen Stunden, der ganze Nachmittag verrann, ohne dass Ernst wieder zurückkam. Langsam machte sie sich Sorgen. Draußen dämmerte es schon. Wie weit mochte er gekommen sein? Zehn Kilometer? Fünfzehn Kilometer?

Egal, erst nach knapp dreißig Kilometern kam man in die nächste Stadt. Wittstock. Ernst hatte außerdem kein Geld. Wo wollte er schlafen?

In einer Scheune?

Sie überlegte, ob sie doch anrufen sollte.

Aber wen?

Die Polizei?

Es war doch nicht verboten, mit dem Fahrrad über Land zu fahren. Elvira saß am Küchentisch und grübelte vor sich hin.

Draußen hielt ein Auto. Wer sollte denn so spät noch zu Besuch kommen? Oder war es jemand, der ihren Mann zurückbrachte?

Sie lief zur Tür, wischte sich noch einmal die Hände an der dunkelbraunen Schürze ab und schaute hinaus.

Es war ein Polizeiauto. Eigentlich war sie beim Anblick des grünweißen Dienstwagens schon bedient. Jedes Mal, wenn so ein Fahrzeug kam, bedeutete es nichts Gutes. Ernst hatte immer so eine Art, mit den Uniformierten aneinanderzugeraten.

Zwei Polizisten stiegen aus, aber Ernst war nicht zu sehen. Wo war er? Elvira schaute skeptisch die beiden Beamten an.

»Frau Flachbein?«

»Ja.«

»Wir müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung überbringen.«

»Ist etwas mit Ernst?«

Die beiden Männer nickten.

»Ihr Mann erlag seinen Verletzungen, die er sich bei einem Unfall zugezogen hatte. Er ist wahrscheinlich von einem Auto angefahren worden. Es war schlechte Sicht und die Straße war rutschig.«

Elvira musste sich festhalten. Sie hatte es die ganze Zeit schon geahnt, dass irgendetwas passieren würde.

»Ist Ihnen nicht gut? Können wir helfen?«

Sie winkte ab. Nein, sie brauchte niemanden, hatte sich wieder im Griff. Ob sie ihren Mann noch einmal anschauen könne?

Die beiden Männer nickten, nahmen sie in ihrem Dienstwagen mit. Sie hatten Routine mit solchen Nachrichten.

Gegen Mitternacht brachten sie Elvira Flachbein wieder zurück. Sie war sichtlich mitgenommen. In dem Saal der Gerichtsmedizin war ein seltsam kühles Licht, dass einen leichten Blauschimmer hatte. Ernst sah so tot wie eine Schaufensterpuppe aus, hatte nichts mehr von dem lebendigen Mann, der er bis vor kurzen einmal war. Elvira konnte ihn auch nicht lange anschauen, es war zu schrecklich.

Die Augen waren zwar geschlossen, aber sie hatte das Gefühl, er würde sie dennoch beobachten. Heimlich, immer, wenn sie wegsah. Sie traute sich auch nicht, irgendein Geräusch zu machen.

Als sie zu Hause ankam, holte sie den Wacholderbeerenlikör aus dem Küchenschrank hervor und trank zwei Gläser. Das machte sie immer, wenn sie sich aufgeregt hatte. So konnte sie besser einschlafen. Sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Es war zu viel Aufregung an diesem Tag. Erst die tote Irene, die auf der Herdplatte schmorte, dann die Flucht ihres Mannes mit dem alten Fahrrad und schließlich die Polizisten mit ihrer schlimmen Nachricht und der Fahrt ins Leichenschauhaus.

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