Krähwinkeltod

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Schwertfeger nickte zu den Maisfeldern. »Seit ein paar Jahren wird nur noch Mais angebaut. Mais bringt gutes Geld. Mais wird subventioniert. Biosprit, Biogas … Die neue Ökoherrlichkeit!«

Linthdorf kannte das Problem. Den meisten Städtern war gar nicht bewusst, was die Konzentration auf Mais als Monokultur für Schäden anrichtete. Mais laugte den Boden unbarmherzig aus. Ohne ordentliche Düngergaben war der Anbau nicht effektiv. Also wurde großflächig mit Phosphatdünger gearbeitet.

Der Wasserkreislauf kippte durch den hohen Mineralgehalt im Boden. Immer mehr chemische Zusätze wurden im Trinkwasser nachgewiesen.

Alles harmlos, wiegelten die Behörden ab. Die Grenzwerte würden nicht überschritten.

Linthdorf konzentrierte sich auf seinen Fall. Er würde die Probleme der neuen Biowirtschaft sowieso nicht lösen können. Aber ihm war die Maispflanze suspekt. Sie gehörte eigentlich nicht hierher.

Früher gab es Weizenfelder, Roggen und Gerste sah man ebenfalls, ab und zu auch Hafer. Die waren nur noch selten zu sehen. Weizen aus Australien und Brasilien war billiger als einheimischer Weizen. Aber dass Mais ein wirklicher Ersatz für die alten Getreidesorten war, erschien ihm nicht sehr glaubwürdig. Was würde passieren, wenn die Subventionen für das exotische Gewächs verschwänden?

Er seufzte. Von irgendetwas mussten die noch verbliebenen Bauern leben.

Am Horizont tauchten ein paar Dächer auf. Schwertfeger deutete auf die Häuser, die dichtgedrängt inmitten des eintönigen Feldermeeres standen. Verlorener konnte man sich eine menschliche Siedlung nicht vorstellen. Siedlung Krähwinkel war ein Außenposten der Zivilisation inmitten der Einöde.

Schwertfeger hielt als erstes kurz vor der Siedlung an. Er zeigte Linthdorf den Straßengraben, in dem die Leiche entdeckt worden war. Möglicherweise waren Fundort und Tatort identisch, aber das konnte man anhand fehlender Spuren nicht nachweisen. Es würde ja auch keinen Sinn machen, eine stark blutende Leiche im Auto zu transportieren.

Linthdorf konnte noch dunkle Spuren von geronnenem Blut erkennen. Das Bürschchen hatte eine Menge Blut verloren. Er wusste, dass es bei einer durchtrennten Schlagader sehr schnell damit ging. Mit jedem Herzschlag wurde das kostbare Blut herausgepumpt, bis keine Energie mehr da war, das Herz weiterarbeiten zu lassen.

»Wieviel Leute leben in der Siedlung?«

Schwertfeger kratzte sich am Kopf. Es waren nur vierzehn Häuser. »Vielleicht fünfzig, vielleicht auch weniger.«

»Alte Leute?«

»Ja, die Jungen sind weggezogen. Die Alten bleiben zurück.«

»Der Mann, der den Jungen gefunden hat …«

»Flachbein, auch ein Alter. Ist polizeilich gut bekannt. Ein Herumtreiber, aber harmlos.«

»Können wir zu ihm als Erstes?«

»Ja, klar. Irgendwo müssen wir ja anfangen.«

»Hattet ihr die übrigen Dorfbewohner schon befragt?«

»Was sollten wir fragen?«

»Ob jemand etwas Ungewöhnliches gehört hat oder vielleicht sogar etwas Ungewöhnliches gesehen …?«

Schwertfeger war verlegen. Nein, das war ihnen aufgrund des abgeschiedenen Fundorts der Leiche nicht in den Sinn gekommen. Zur Siedlung hin waren es ja noch gut und gern zweihundert Meter. Außerdem, die Leiche lag schon drei Tage. Wenn jemandem etwas aufgefallen wäre, hätte der sich sicherlich schon gemeldet.

Am Samstag war das volle Programm mit Spurensicherung, Ärzteteam und diversen uniformierten Beamten abgewickelt worden, da gab es viele Gaffer aus der Siedlung.

Linthdorfs Augenbraue zuckte für einen kleinen Moment, als Schwertfeger ihm die Unterlassung beichtete.

»Ich benötige dringend eine Liste mit allen Bewohnern der Siedlung. Können Sie mir so eine Liste zusammenstellen?«

Etwas verwundert sah Schwertfeger den Kommissar an. Vermutete er den Täter aus den Reihen der Dorfbewohner?

»Ja, klar. Kein Problem.«

Der Passat hielt vor einem backsteinroten Haus, dessen besten Tage schon lange zurücklagen. Das Dach war neu gedeckt, aber ansonsten machte das Anwesen einen traurigen Eindruck. Landwirtschaftliches Gerät stand auf dem Hof und rostete friedlich vor sich hin.

Ein Trecker war mit einer dunkelgrauen Plane notdürftig gegen Regenwasser geschützt. Der Garten war vernachlässigt, Unkraut wucherte auf den Beeten. Die alten Obstbäume hatten kaum Früchte an den krakeligen Ästen.

Das Wohnhaus wirkte noch am meisten intakt. Eine dreistufige Treppe führte zur Eingangstür. Das Geländer links und rechts hing etwas schief und bedurfte dringend eines neuen Anstrichs. Ein großer Hund im Innern gebärdete sich wild, als er die Fremden spürte. Eine Stimme erscholl.

»Brav! Hasso! Brav!«

Das Gebell verklang, dafür trat ein Winseln an seine Stelle. Hasso protestierte. Oftmals kamen wohl keine Fremden her.

Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Linthdorf erblickte einen grauhaarigen Mann mit kariertem Hemd und Cordhosen. Das musste Ernst Flachbein sein.

IV

Siedlung Krähwinkel, Haus Nr. 4

Montag, 1. Oktober 2007


Die beiden Ermittler stellten sich kurz vor und baten Flachbein, noch einmal alles über den grausigen Fund zu berichten. Der alte Mann wirkte verunsichert.

Mit so etwas wollte er nichts zu tun haben, das habe er schon den Uniformierten am Sonnabend erzählt. Nein, er habe sein Leben lang nichts Schlimmes angestellt, seine Ausreißversuche waren da nur harmlose Spielchen. Er habe nie Gewalt … und, überhaupt, er habe damit absolut gar nichts zu tun, außer dass er den armen Kerl gefunden habe.

Linthdorf ließ Flachbein reden. Verstohlen schaute er sich um. Wie konnte man hier draußen nur überleben?

Die Wohnung war typisch bäuerlich eingerichtet. Alles war funktional, robust und schmucklos. Eine große Schrankwand dominierte das Zimmer, ein derber Tisch und einfache Holzstühle vervollkommneten die Einrichtung. An der Wand hing eine runde Uhr, deren Ticken den Raum ausfüllte. Es war ein seltsam metallisches Ticken, dessen Geräusch das Verstreichen der Sekunden als eine Last empfinden ließ.

Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Gebäck, welches der einzige Luxus im Zimmer war.

Flachbein verschwand aus der Tristesse immer mal. Wahrscheinlich wirkte die Leere seines Daseins unbewusst auf ihn ein. Vierundsiebzig war er, also mindestens neun Jahre nun schon Rentner. Eine lange Zeit.

Was machte ein Mann wie Flachbein mit seiner Zeit, wenn er nicht ausbüxte? Hatte er Hobbies?

Sprach er mit seiner Frau?

Mit den anderen Dorfbewohnern?

War der Leichenfund Thema Nummer Eins beim Dorfklatsch? Aber wo trafen sich die Leute?

Es gab hier nichts. Absolut gar nichts.

Schwertfeger war mit den Menschen vertraut. Er notierte eifrig Flachbeins Gebrabbel als ob er damit die Geheimnisse der ganzen Welt lösen könnte.

Draußen schlurfte jemand im Flur herum. Es war Elvira, die Frau Flachbeins. Elvira kam kurz herein um nach dem Rechten zu schauen. Sie war neugierig, was der erneute Polizeibesuch zu bedeuten habe. Die kleine Frau hatte ein spitzes Mausgesicht mit wieselflinken Äuglein, die alles sofort zu mustern schienen. Linthdorf war sich sicher, dass Flachbein kein leichtes Leben mit der Frau führte.

Ernst Flachbein wurde auch sofort unsicher, als seine Frau anfing, imaginäre Krümel wegzufegen. Sie tat so, als ob die Männer gar nicht vorhanden wären.

Linthdorf überlegte, ob er sie ansprechen sollte, verkniff es sich jedoch als er einen kurzen Blick von ihr auffing. Elvira Flachbein war wahrscheinlich nur neugierig. Jede Abwechslung war ihr willkommen. Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte sie keine Möglichkeit aus der Leere einfach zu verschwinden. Die große Leere der Landschaft hatte sich bei ihr verinnerlicht, war zu einem Teil ihres Lebens geworden. Eindringlinge, ganz gleich, welcher Art, störten die Leere und damit auch sie.

Der Tagesablauf, der sich immer wieder in denselben Rhythmen und Zeitabläufen wiederholte, war von dem gleichförmigen Takt der Leere bestimmt. Das metallene Ticken der Wanduhr blieb für ein paar Sekunden das einzige Geräusch.

Elviras Fegerei verlief vollkommen lautlos, Ernst schwieg, beobachtete genau, welche Handlungen von Elvira vollführt wurden. Es war ein sattsam bekanntes Spiel zwischen den beiden, ein Belauern, wer als erstes die Stille mit seiner Stimme durchbrechen würde.

Linthdorf spürte die Spannung zwischen den beiden alten Menschen. »Frau Flachbein, ist Ihnen letzte Woche etwas aufgefallen? Ein Fremder vielleicht? Oder ein Auto, was nicht hier her gehört?«

Elvira sah Linthdorf an, als ob ein Außerirdischer mit ihr reden wolle. Der zweite Blick galt ihrem Mann. Kein freundlicher Blick, eher ein missgelaunter. Wieso wurde sie nun auch in diese unangenehme Sache mithineingezogen?

Sie blickte Linthdorf eine Sekunde lang an, bevor sie mit einer abweisenden Stimme antwortete. »Nee, nix jeseh’n, nix jehört!«

Ernst Flachbein saß stumm daneben und schaute nur stur geradeaus auf die Uhr. Hier würde Linthdorf nichts mehr erfahren. Schwertfeger verkniff sich ein Grinsen. Er kannte den Menschenschlag in den Dörfern. Kein Vergleich zu den redseligen Thüringern, die gleich ihr ganzes Leben ausbreiteten.

Die beiden Männer verabschiedeten sich von den Flachbeins, die sichtlich erleichtert waren, dass man sie in Ruhe ließ.

»Na, das kann ja noch heiter werden!«, murrte Schwertfeger. Er hatte nicht vergessen, dass Linthdorf ihn auf Zeugenaussagen der Dorfbewohner angesprochen hatte.

 

V

Siedlung Krähwinkel

Montag, 1. Oktober 2007

Eine Linie bildet den Horizont,

weit geht der Blick ins Land,

ungestört von Hindernissen,

die sonst stören den Wind,

der ungezähmt die Haare zaust

und Jacken bläht,

den Geist im Kopfe weckt

und ein Gefühl von Weite hinterlässt.

Nur die Raben in der Luft,

lebendiges Beiwerk,

krächzen ihre Grüße herab.


Der Nachmittag neigte sich langsam seinem Ende zu. Dämmerlicht verbreitete zusätzliche Tristesse. Linthdorf und sein Begleiter liefen durch die kleine Siedlung. In den Bäumen herrschte reges Kommen und Gehen. Überall flatterten große Krähen herum. Es waren vor allem Nebelkrähen, wie Linthdorf an ihren grau-schwarzem Gefieder erkannte, aber er entdeckte auch die schwarzglänzenden Saatkrähen und die mit ihren langen Schwanzfedern wippenden Elstern. Krähwinkel machte seinem Namen alle Ehre.

Erste Pendler kamen aus der Umgebung zurück und packten ihre Einkäufe aus. Für einen kurzen Moment kam so etwas wie geschäftiges Leben in die paar Häuser. Hunde bellten, Hühner gackerten und verstörte Katzen suchten sich neue Schlafecken.

Linthdorf beobachtete alles aus sicherer Entfernung. Nein, er wollte nicht stören. Der Rhythmus des Dorflebens schien sich nach immer demselben Muster abzuwickeln.

Wann sprachen die Dorfleute miteinander?

Wurde hier überhaupt miteinander gesprochen?

Oder verschanzten sich die Leute in ihren Gehöften?

Er war sich unsicher, wie das soziale Leben der Siedlung ablief. Er zählte insgesamt zehn Autos, die vor den vierzehn Häusern standen. Vier Häuser waren ohne Autos. Eins davon war das Anwesen der Flachbeins.

Wie versorgten sich die Leute in den Häusern ohne Auto? Brachten ihnen die Nachbarn etwas mit?

Oder fuhren sie mit dem Bus, der zwei Mal täglich fuhr?

Bis zum nächsten Supermarkt waren es siebenundzwanzig Kilometer, unmöglich, die Strecke zu Fuß zurückzulegen.

Nach und nach gingen in den Häusern die Lichter an. Linthdorf zählte wieder. Nur zwei Häuser blieben dunkel. Urlaub? Oder verlassen?

Kinderlachen fehlte hier. Er konnte sich gut daran erinnern, dass er als Junge täglich draußen herumstromerte. Spätestens um Sieben musste er zu Hause sein. Hier schien es keine Kinder zu geben. Oder sie spielten nicht mehr draußen, saßen möglicherweise nur vor ihren Gameboys oder Computern.

Schwertfeger, der die ganze Zeit neben Linthdorf stand, langweilte sich. Was wollte der Potsdamer Beamte denn hier erkunden? Natürlich tickten hier in der Ostprignitz die Uhren anders. Das war ja kein Geheimnis.

Glaubte der LKA-Mann allen Ernstes, dass er den Täter so schnappen würde?

Vermutete er den Täter sogar im Dorf?

Blödsinn!

So etwas gab es hier nicht. Leuten den Hals aufzuschlitzen war absolut unüblich. In seiner gesamten Dienstzeit hatte er so etwas noch nie zu Gesicht bekommen.

Linthdorf stand nun schon fast eine Viertelstunde und beobachtete die beiden Dorfstraßen. Registrierte jedes ankommende Fahrzeug, passte auf, wer ausstieg, wo Licht in den Häusern gemacht wurde und was für Geräusche an sein Ohr drangen, die es wert waren, registriert zu werden. Es waren inzwischen fast zwanzig Autos, die vor den Häusern standen. Viele schienen zwei Autos zu besitzen.

Irgendwo ertönte das schrille Sirren einer Kreissäge, die sich durch dickes Holz fraß. Ein paar Hunde bellten. Enten quakten ebenfalls. Es schien unmöglich für einen Fremden, unerkannt durchs Dorf zu gelangen. Jeder Ortsfremde wurde von den zahlreichen Haustieren sofort als solcher erkannt und entsprechend lautstark begrüßt. Außerdem gab es die unzähligen Krähen, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit nervös aufflogen und mit lautstarkem Gekrächze alle Dorfbewohner in Aufruhr versetzten.

Falls der Täter durch das Dorf geflüchtet wäre, hätte wahrscheinlich ein ohrenbetäubender Lärm viele Bewohner geweckt. Vielleicht sollte Schwertfeger danach fragen, ob es zu ungewöhnlicher Zeit Rabenkrächzen, Hundegebell oder Entengeschnatter gab.

Langsam marschierten die beiden Polizisten zum Passat. Linthdorf bekam eine Ahnung, was für eine fast unlösbare Aufgabe auf ihn wartete.

Nix geseh’n – nix gehört! – hallte in seinem Innern wie ein permanentes Echo. Wer war der junge Bursche, der nur zweihundert Meter vom Dorf entfernt auf so brutale Art umgebracht worden war? Ein Einheimischer? Vielleicht wollte ja auch niemand ihn erkennen? Immerhin, zwei Häuser standen leer …, wer weiß, wie lange schon. Gehörte der Tote zu einem der leerstehenden Häuser? Er brauchte dringend die Liste. Heute würde er sowieso nichts mehr erfahren.

Schwertfeger hatte in Wittstock ein Zimmer für ihn organsiert. Mal sehen, ob er noch ein passables Abendessen bekommen könnte. Sein Magen meldete sich inzwischen unmissverständlich.

Das leere Haus

Ein vergessenes Fleckchen Erde

Endlos grüne Wiesen, darauf Schafe und ’ne Kuh,

Kopfweiden am Wegesrand, und am Himmel

große Vögel, ganz heiser schon vom ewigen Rufen,

die eigentlichen Könige.

Menschen gibt’s nur wenige, viele zogen fort,

nur die Alten blieben zurück in ihren Dörfern,

Kaffee schlürfend sitzen sie am Fenster,

werfen sehnsüchtige Blicke hinauf

in den Himmel zu den großen Vögeln,

den eigentlichen Königen.

I

Siedlung Krähwinkel

Dienstag, 2. Oktober 2007

Die Hausnummer Sieben war nun schon seit fünf Jahren verwaist. Das Haus stand zum Verkauf, doch kein potentieller Käufer konnte sich bisher mit dem alten Bauernhof anfreunden. Möglicherweise waren die Vorstellungen seitens der jetzigen Besitzerin, einer entfernten Verwandten der ehemaligen Hauseigentümer, die irgendwo im tiefsten Hessen lebte, zu utopisch. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja die hessische Preistabelle im Kopf gehabt beim Taxieren.

Auf alle Fälle gab es für die Sieben keine Hoffnung auf baldige Änderung des Status Quo. Den Leuten im Dorf waren die Querelen um den Verkauf des Anwesens bekannt. Sie schüttelten den Kopf. Natürlich, je mehr Häuser leer standen, desto problematischer war es, neue Leute anzulocken. Die Sieben war nun schon das zweite Grundstück, dass seit Jahren unbewirtschaftet blieb.

Am anderen Ende des Dorfes stand das Haus Nummer Eins, eigentlich mehr eine Ruine, denn ein Haus. Es war das alte Krähwinkel, das Vorwerk, welches dem Dorf seinen Namen gegeben hatte. Früher musste es einmal ein ansehnliches Gebäude mit Stallungen und einer gemauerten Umzäunung gewesen sein.

Aus roten Backsteinen erbaut, zweistöckig, mit diversen Anbauten versehen, wirkte es aus der Ferne wie eine kleine Burg.

Zum alten Krähwinkel gehörte eine Brennerei, die allerdings schon lange nicht mehr funktionierte. Sie stand etwas abseits direkt an der Landstraße, war inzwischen ein dachloses Geviert ohne Fenster und ohne Türen. Nur der große, viereckige Schornstein stand noch unerschütterlich an seinem Fleck, darauf ein großes Storchennest, welches schon verlassen war. Die Störche flogen bereits Anfang September wieder Richtung Afrika.

Das Hauptgebäude war baupolizeilich gesperrt, Einsturzgefahr.

Das Dach größtenteils verschwunden, nur das Gebälk gab dem Gebäude noch so etwas wie eine Idee seiner früheren Würde.

Die Dorfbewohner konnten sich nicht mehr daran erinnern, dass jemals Leute in dem Vorwerk lebten. Man munkelte, dass gleich nach dem Krieg ein paar Flüchtlinge aus Ostpreußen dort gehaust haben sollten. Sie wären aber nicht lange geblieben. Schon damals war das Vorwerk eine Ruine.

Später erzählte man sich Spukgeschichten über den Bau. Dunkle Gestalten würden darinnen umgehen und es roch auch immer nach Schwefel. Als ob der Teufel höchstpersönlich ein- und ausgehen würde.

Die vielen Raben, die neuerdings im Dorf gesehen wurden, kämen alle aus dem verfallenen Vorwerk. Dort würden sie nisten und dorthin würden sie sich zurückziehen, wenn wieder einmal ein erboster Dorfbewohner ihnen mit dem Luftgewehr nachstellte.

Dieses Schicksal sollte die Nummer Sieben nicht erleiden. Zumal die Sieben mitten unter bewohnten Häusern stand. Nebenan die Sechs war auch nur zeitweise bewohnt. Die beiden alten Leutchen, die Baierstedts, waren ins Pflegeheim eingewiesen worden und der Schwiegersohn hatte im fernen Angermünde ein Haus gebaut, kam nur noch ab und an, um nach dem Rechten zu sehen. Im Sommer wollte er das Haus als Ferienwohnung vermieten, aber bisher gab es keinerlei Interessenten. Auf alle Fälle kümmerte er sich um Hof und Garten. Die Sechs machte daher auch nicht den verwahrlosten Eindruck, den inzwischen die Sieben bot.

Linthdorf hatte den Plan der Siedlung vor sich ausgebreitet. Alle Grundstücke waren fein säuberlich nummeriert und mit ihren Besitzern beschriftet. Daneben lag die ausgedruckte Liste der Bewohner des Dorfes. Schwertfeger hatte ihm gleich am Morgen die Liste mit einem schuldbewussten Gesicht ausgehändigt. Daraufhin war der Kommissar losgefahren. Allein.

Den Weg kannte er nun. Kurz nach Zehn traf er mit seinem SuV im Dorf ein, parkte den Wagen hinter der verlassenen Brennerei und holte den Plan hervor.

Er studierte den Plan, verglich immer wieder die Anwesen auf dem Papier mit denen der Wirklichkeit. Langsam entstand ein Bild des Dorfes in seinem Kopf. Die Menschen, die es bevölkerten, bekamen einen Platz zugewiesen, wurden von Linthdorf mit den entsprechenden Häusern, Autos und Gärten zu lebendigen Personen. Wo sollte er anfangen?

Die Leiche war am Ausgang des Dorfes gleich hinter dem Ortsschild gefunden worden. Das nächstgelegene Grundstück war die Nummer Zwölf. Linthdorf überprüfte in seiner Liste, wer dort wohnte. Herbert Golm, Lehrer, sechsundsechzig Jahre, pensioniert. Die meisten Leute des Dorfes waren Rentner.

Linthdorf kannte das Problem. Brandenburgs ländliche Regionen waren tickende Zeitbomben. Die biologische Uhr lief gnadenlos ab. Nach der Wende hatte sich eine ganze Generation aufgemacht, ihr Glück im Westen zu suchen. Zurück blieben neben den Alten die damals Fünfzigjährigen, die an ihrem Besitz hingen und die beruflich keine größeren Ambitionen mehr hatten.

Achtzehn Jahre nach der Wende waren die Alten von damals bereits tot und die Zurückgebliebenen ins Rentenalter gekommen. Händeringend suchten die Agrargenossenschaften inzwischen Nachwuchs. Die fehlende Generation der jetzt Vierzigjährigen hätte eigentlich den Staffelstab übernehmen sollen, aber die war einfach nicht mehr da.

Die Überalterung brachte große Probleme mit sich. Immer mehr Häuser standen zum Verkauf, immer mehr Dörfer wurden zu Geisterdörfern. Ein Prozess, der unumkehrbar war. Denn neben der verlorengegangenen Generation der Vierzigjährigen fehlte natürlich auch deren Nachwuchs.

Nur selten siedelten sich hier im Niemandsland Großstadtflüchter an. Die bevorzugten den Berliner Speckgürtel mit seiner guten Infrastruktur und der Nähe zur Metropole.

Also Golm, ein Lehrer. Linthdorf klingelte nun schon das dritte Mal. Endlich kam Bewegung. Eine Tür wurde geöffnet.

Vor Linthorf stand ein älterer Herr in bequemer Strickjacke und mit einer Pfeife zwischen den Zähnen, auf der er genüsslich herumkaute. Wie er da so stand, hätte er gut und gerne auch als Mittfünfziger durchgehen können. Wache Augen, ein federnder Gang und braungebrannt, wie gerade aus dem Urlaub gekommen. So präsentierte sich Herbert Golm dem Kommissar.

»Was gibt’s?«

Er ließ sich nicht anmerken, dass er überrascht war von dem Besuch. Seine Augen musterten Linthdorf, als ob er ein Staubsaugervertreter sei. Erst als der sich vorstellte und seinen Dienstausweis hervorholte, änderte sich der misstrauische Gesichtsausdruck.

»Kommen Sie herein.«

Das Haus Nummer Zwölf war ein Neubau aus den sechziger Jahren. Der Rauputz hatte inzwischen eine solide Graufärbung angenommen. Die Fenster waren allesamt frisch gestrichen, der kleine Garten machte einen gepflegten Eindruck.

 

Eine Garage war erst später angebaut worden. Sie wirkte seltsam fremd in der genügsamen Wohnwelt der Nummer Zwölf. Sie war blendend weiß gestrichen, hatte ein futuristisches Aussehen und wirkte ein bisschen protzig.

Golm führte seinen Gast in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit Bücherregalen vollgestellt war. Ein großer schwarzer Ledersessel verriet, dass der Besitzer genau hier die meiste Zeit verbrachte. Direkt neben dem Sessel lagen auf einem Beistelltisch ein paar aufgeklappte Bücher, eine Kaffeetasse stand ebenfalls in Griffweite und der Aschenbecher für den Pfeifentabak.

Golm nahm in seinem Sessel Platz, bot Linthdorf einen bequemen Polsterstuhl an, der zu dem runden Tisch gehörte, der sich in der Mitte des Zimmers befand.

Zwei große Fenster ließen genügend Licht in das Zimmer fallen, so dass man ohne Probleme tagsüber lesen konnte. Golm war Junggeselle. Er lebte hier seit seiner Kindheit. Seine Eltern waren vor über zwanzig Jahren gestorben. Sie hatten damals in den frühen Sechzigern das Haus erbaut. Er hatte studiert, war verbeamteter Lehrer am Gymnasium in Wittstock und seit einem Jahr pensioniert.

Linthdorf konnte mit einem Blick auf die Bücherwand sofort erkennen, welche Fachgebiete Golm unterrichtete. Es war unschwer zu erraten, überall standen Bücher zu physikalischen und astronomischen Themen herum. Auch auf dem Tisch lag ein dicker Wälzer, der sich mit der Stringtheorie beschäftigte. Gleich daneben ein Büchlein über die exotische Welt der Quanten, der kleinsten Bestandteile einer unsichtbaren Welt, des Mikrokosmos.

»Sie ahnen sicherlich, weshalb ich hier bin. Es geht um den Toten, der unweit Ihres Hauses im Straßengraben gefunden wurde.«

Golm nickte bedächtig. Natürlich hatte er am Sonnabend den Aufmarsch der Polizeikarawane gesehen. Von seinem Küchenfenster aus hatte er einen direkten Blick auf die Landstraße.

Schnell hatte es sich im Dorf herumgesprochen, dass der Tote ein junger Bursche gewesen war, den keiner zu kennen schien. Er hatte keinen Blick auf den Toten geworfen. Es war ja auch alles abgesperrt. Und zu den Gaffern wollte er sich nicht stellen.

Ob er in der letzten Woche etwas Ungewöhnliches bemerkt habe? Fremde Leute? Oder fremde Autos, die im Ort parkten?

Golm zuckte mit den Schultern, er ging nicht oft im Dorf spazieren. Wohin auch? Innerhalb von fünf Minuten war man am anderen Ende angekommen. Meist lagen die paar Häuser verlassen und still da. Er hatte wenig Kontakt zu den Leuten, galt ein bisschen als Sonderling, der sich mit Dingen beschäftigte, die den meisten Dorfleuten suspekt waren. Er wurde auch der Sternengucker genannt.

Da fiel Golm wieder sein nächtliches Erlebnis vom Mittwoch ein. Er wollte Uranus beobachten. Doch dann war da der Schrei …

Mein Gott! Ob der Schrei zu dem Toten gehört hatte? Er war sich nicht sicher, hatte den Schrei schon wieder vollkommen aus seinem Gedächtnis gestrichen.

Er berichtete dem Kommissar von dem nächtlichen Schrei, auch, dass er auf die Straße gelaufen war, aber nichts gesehen hatte.

Wann das denn gewesen sei?

So gegen Drei. Ja, er hatte sich gerade einen Kaffee eingegossen, denn immer so gegen Drei wurde er müde. Da sei er sich ganz sicher.

Was das denn für ein Schrei gewesen sei?

Naja, klang schon etwas gruselig, so langgezogen und überhaupt, er habe gedacht, es sei ein Tier im Todeskampf.

Linthdorf notierte eifrig, was Golm erzählte.

Ob er sonst noch etwas bemerkt habe?

Golm ließ sich noch einmal die Ereignisse der letzten Sternenbeobachtung durch den Kopf gehen. Saturn, Uranus … Es war ein klarer Himmel in dieser Nacht. Seitdem verdeckten Wolken den Blick zu den Sternen. Der Schrei, der so unbarmherzig lange andauerte, die Straße, die still und friedlich… Halt! Der Schatten, da war ja auch noch der Schatten!

Golm hielt ihn für eine streunende Katze oder einen Marder. Es könnte aber auch … Aber im Dunkel der Nacht waren Konturen nicht zu erkennen gewesen. Auf alle Fälle bewegte sich der Schatten zu dem unbewohnten Haus Nummer Sieben, dass nun schon seit ein paar Jahren verlassen war. Kein Mensch kümmere sich um die Sieben. Eigentlich schade, war immer ein schöner Hof.

Linthdorf hatte inzwischen aus seiner Tasche ein Foto hervorgeholt. Ein blasses, schmales Gesicht war darauf zu sehen.

Die Augen waren geschlossen, als ob er schliefe. Die Haare zurückgekämmt, die Ohren standen etwas ab, Segelohren wurden die wohl genannt. Eine gewisse Strenge strahlte das Gesicht aus. Ein Foto, ohne Emotionen, ohne Glanz und Glamour. Sachlich wie eine Illustration für ein Biologielehrbuch. Das Gesicht war vielleicht Mitte Zwanzig, eher jünger. Es gehörte dem Toten.

Golm warf einen Blick darauf. Schwer erkennbar, wie der Junge mal lebendig ausgesehen haben könnte. Für einen Moment glaubte Golm ein paar bekannte Züge erkannt zu haben, aber das täuschte wohl. Nein, das Gesicht gehörte einem Unbekannten, da sei er sich sicher.

Linthdorf registrierte den kurzen Moment in Golms Augen, in denen er sich an irgendjemanden zu erinnern schien. Immerhin, er hatte einen ersten Anhaltspunkt, wann das Verbrechen genau passiert war. Und er bekam eine Bestätigung dafür, dass Fundort und Tatort höchstwahrscheinlich übereinstimmten.

Der Mord geschah also direkt vor dem schlafenden Dorf.

Wollte das Opfer ins Dorf flüchten oder kam es aus dem Dorf? War er vielleicht in dem leeren Haus Nummer Sieben gewesen? Kannte er möglicherweise das Dorf oder ein paar seiner Einwohner? Oder war alles nur purer Zufall?

Ein Auto, ja, ein Auto war Golm nicht aufgefallen, er habe auch keines wegfahren hören in der Sternennacht. Außer dem Schrei und dem Schatten wäre nichts weiter gewesen.

Linthdorf bedankte sich bei Golm. Er lief weiter zum Nachbarhaus. Das trug allerdings nicht die Nummer Elf, wie es üblicherweise in den Ortschaften war, sondern die Vierzehn. Die Häuser waren hier entsprechend ihrer Entstehung nummeriert. Das Haus Nummer Vierzehn war das bislang letzte Haus, was im Dorf gebaut worden war. Aber das lag nun auch schon dreizehn Jahre zurück.

Wieder klingelte Linthdorf, wieder wartete er unsäglich lange, bis endlich die Tür geöffnet wurde. Er bemerkte erst jetzt, dass Haus Nummer Vierzehn zwei Eingangstüren besaß. Da, wo er geklingelt hatte, blieb es ruhig, aber nebenan, die zweite Eingangstür bewegte sich.

»Die jungen Leute sind auf Arbeit.«

Ein älterer Mann mit Trainingshose und grauem Arbeitskittel kam auf Linthdorf zu.

»Was wollen Sie denn?«

Er hatte seinen Ausweis hervorgeholt und dem Mann vor die Nase gehalten. »Linthdorf, LKA Potsdam. Es geht um den Toten, der am Samstag unweit des Dorfes gefunden wurde.«

»Und weshalb wollen Sie dann zu meinem Sohn und meiner Schwiegertochter? Glauben Sie, die haben damit etwas zu tun? Das ist doch Unsinn!«

»Nein, nein! Wir befragen jeden. Ganz systematisch. Es geht uns darum, Hinweise über den Toten zu bekommen. Vielleicht kannte ihn ja jemand …«

Mit einem undefinierbaren Brummen, was wohl Zustimmung andeuten sollte, lud der Mann in dem grauen Kittel Linthdorf ein, rüberzukommen.

»Sie sind …?«

»Erhard Kappenbach, Ingenieur, jetzt Rentner …«

Linthdorf sah sich um. Er erkannte die kreative Hand eines technisch versierten Menschen. Überall waren kleine Bewegungsmelder angebracht, die wahrscheinlich die Außenbeleuchtung kontrollierten. Mit Kennerblick betrachtete Linthdorf den Wintergarten. Er mochte solche Anlagen.

In der grauen Winterszeit saß er oft stundenlang in den Glashäusern des Botanischen Gartens, tankte Grün und schnupperte die feuchtwarme Luft der Pflanzen. Seine Favoriten waren die Gewächshäuser mit den wildwuchernden Tropenpflanzen aus den Regenwäldern. Rieselanlagen sorgten für ständige Feuchtigkeit und große Heizaggregate garantierten eine angenehme Temperatur.

Kappenbach hatte seinen Wintergarten vor allem mit nützlichen Pflanzen bestückt. Tomatenstauden, Paprikabüsche, am Boden reiften Gurken und Zucchini, sogar eine Auberginenpflanze entdeckte er, deren Früchte bereits eine lila Färbung annahmen.

Eine Seite jedoch war den Zierpflanzen vorbehalten. Eine Dieffenbachie, ein Ficus Benjamini, diverse Draconias, zwei Acapanthus-Stauden in Pflanzkübeln, ein Hibiskus-Bäumchen und ein großer Bottich mit Zyperngras grünten in trauter Eintracht mit den Gemüsepflanzen.