Blaues Feuer

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„Bringt dir Vater auch ein Geschenk? Der Verena im Dorf bringt er immer eine Speckseite oder ein Stück Rauchfleisch oder so etwas, wenn er zu ihr geht.“

Sie fuhr ihm durchs Haar. „Du redest wie ein dummer kleiner Junge. Erwachsene sprechen nicht über solche Dinge.“

Sie reden nicht drüber, aber sie tun es trotzdem.

„Und nun schlaf. Träum schön.“

„Rebekka, ich hab Angst, dass ich von den Kriegskrüppeln träume.“

In Rebekkas Augen lag eine traurige Zärtlichkeit, als sie ihn sanft in die Decken drückte. „Daran musst du nicht denken. Wenn wir alle Nase lang an den Tod dächten und das Elend, das einen erwischen kann, wie sollten wir das aushalten? Du bist ein gewitzter, gesunder Junge und hast einen fleißigen, hart arbeitenden Vater. Du wirst deinen Weg gehen. Du brauchst keine Angst zu haben vor dem Elend.“

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und während Norbert sich noch darüber wunderte, ging sie hinaus und schloss die Tür leise hinter sich.

Norbert lag im Lichtschimmer des Kienspans und starrte zu den schrägen Dachbalken hinauf. Die Ecken der Kammer lagen im Dunkeln. Sein Kopf drehte sich. Er fühlte sich unendlich fremd in dieser Stadt. Jetzt im trüben Schimmer des Kienspans jagte ihm alles, was er gestern und heute erlebt hatte, Angst ein. Er tastete in der Hosentasche nach dem Holzpüppchen.

Petra, wenn ich groß bin, werde ich Krieger und räche alles, alles! Was sie den Elben angetan haben und der Smeta, dem Mädchen am Brunnen und den Kriegskrüppeln. Wenn ich erst ein Held geworden bin, dann werde ich...“

Aber er wusste gar nicht mehr, was er denn unternehmen würde, um das alles gut zu machen, was ihn bedrängte. Er presste das Püppchen an seine Brust und weinte vor Wut und Verzweiflung.

Ich bin bei dir, sagte Petra. Hab keine Angst.

***

Norbert wachte früh auf und ging in die Küche hinunter, wo er Brot mit Schmalz bekam und auf den Vater wartete. Der Vater sah müde aus, als er hinunterkam. Sie frühstückten Gerstengrütze mit Bier und machten sich zum Tempel auf.

Im Klosterhof waren nur wenige Menschen. Ein paar Frauen mit abgedeckten Körben gingen zwischen den niedrigen Gebäuden an der oberen Mauer umher. Vor dem Tempelportal standen Reisende in Filzumhängen mit langen Stecken in den Händen. Pilger, vermutete Norbert. Echte Pilger. Die Morgensonne brach durch die Wolken und beschien mehrere Reihen steinerner Gräber zwischen dem Tempelgebäude und der Klostermauer. In die Grabstelen waren kleine Bilder in verwaschenen Blau- und Rottönen eingearbeitet.

Das massige Tempelgebäude stand wie ein unverrückbarer Fels dem Eingang zum Klosterhof gegenüber. Norbert glaubte, die wuchtigen Mauern müssten von Riesen erbaut worden sein. Hinter dem Tempelportal öffnete sich eine von Pfeilern getragene Halle. Das Deckengewölbe lastete in einer derartigen Höhe auf den Stützpfeilern, dass es Norbert den Atem raubte. Die höchsten Waldbäume, die er kannte, waren kaum so hoch. Diesiges Licht rieselte aus kleinen Fenstern zwischen den Seitenpfeilern in die Halle herab. In fensterlosen, vergitterten Seitengewölben brannten unzählige Kerzen vor dunklen Bildaltären, deren Konturen in den Schatten verschwanden.

Norberts Herz klopfte heftig. Der Vater sprach mit einem Mönch und zählte ihm mehrere Münzen auf die Hand. Der beleibte Mann in der schwarzen Kutte schaute Norbert nicht an. Er ging Norbert und dem Vater voraus zu einem Seitengewölbe, schloss das Gitter auf und wies Norbert hinein vor den dunklen Altar. Kerzen standen vor einer Kniebank auf dem Boden. Überall an den Wänden zu den Seiten des Altars waren kleine Tafeln angebracht.

„Dies alles sind die Votivtafeln derer, die von der heiligen Mutter von Altenweil geheilt oder von großem Unglück erlöst worden sind,“ erklärte der Mönch dem Vater. „Bei deinem nächsten Besuch in Altenweil wirst du ebenfalls eine Tafel zum Dank für die wunderbare Heilung deines Sohnes hier anbringen lassen können.“

„Mögen eure Götter es geben,“ knurrte der Vater.

Der Mönch legte Norbert seine fleischige Hand auf die Schulter. „Zweifle nicht, mein Sohn, du wirst von deiner Plage erlöst werden.“

Ich hab keine Angst, dachte Norbert, am ganzen Körper zitternd. Ich lasse mich nicht verzaubern. Auch nicht von eurer heiligen Mutter.

Der Mönch befahl ihm, sich auf die Bank vor dem Altar zu knien. Dann öffnete er die Altarklappen. Das Bild dahinter war im Schimmer der Kerzen kaum zu erkennen. Aber es stellte keine Mutter dar, dachte Norbert. Es war das Bild eines jungen Mädchens mit verdrehten Augen, die ein Rehkitz im Schoß hielt. Sicher würde der Mönch böse werden, wenn Norbert fragte, was das Bild bedeutete. Er hielt lieber den Mund.

Vielleicht mag sie das Rehkitz nicht und guckt darum so komisch.

Der Mönch murmelte ein Gebet. Norbert biss die Zähne zusammen. Es passierte nichts. Kein Wunder geschah. Verstohlen beobachtete Norbert eine Maus, die hinter dem Altar am Boden entlang schnupperte.

***

Vor dem Eingang zum Klosterhof erklärte der Vater: „Ich will ein paar Sachen einkaufen für zu Hause. Geh zum Gasthof und warte auf mich in der Küche bei den Mägden. Mach flott und trödle nicht!“

Norbert ließ es sich nicht zweimal sagen und lief auf den Marktplatz hinaus.

Zwischen den Ständen drängte sich eine bunte Menge. Frauen in graubraunen Kleidern und Holzschuhen trugen Körbe in den Händen. Sie diskutierten mit den Marktfrauen. Händler in Schürzen und Handwerker in kurzen Arbeitskutten schrien sich über die Standtische hinweg an. Männer in Stiefeln mit Dolchen oder Schwertern an der Seite, die Norbert für Reisende hielt, betrachteten die Auslagen auf den Tischen. Es gab Stände mit Säcken und Körben voller getrockneter Früchte, an denen Norbert das Wasser im Mund zusammen lief, Tücher und Stoffballen in unglaublicher Menge, glänzende Kupferkessel in jeder Größe und Becher und Teller aus Zinn, die wohl für hohe Adlige ausgestellt wurden, dachte Norbert staunend. An einem Gemüsestand plauderte ein Händler mit zwei Kriegsknechten. Sie hatten ihre Piken gegen die Schultern gelehnt und kauten Rettich. Der Händler warf Norbert einen feindseligen Blick zu.

„Die Betteljungen solltet ihr aus der Stadt jagen. Wozu bezahlt euch der Markgraf eigentlich?“

Einer der beiden Knechte zuckte mit den Schultern. „Gib ihnen halt ab und zu was von deinem vergammelten Grünkram ab, dann klauen sie es nicht.“

Norbert beeilte sich, vom Stand wegzukommen.

Neugierig lief er zwischen den Ständen umher. Er mied den unteren Teil des Marktes, wo die Krüppel und Bettler an den Hausmauern saßen und um Mitleid warben. In der Hosentasche spielte Norbert mit den zwei Viertelkreuzern, die Leika ihm mitgegeben hatte. Ein Bäcker verkaufte Rosinenbrötchen, zwei Stück für einen Viertelkreuzer. Norbert konnte kaum widerstehen, aber er wollte sicher gehen, dass es nichts gab, was noch leckerer war. Und er wollte noch weiter über den Markt schlendern und die Rosinenbrötchen erst ganz zuletzt kaufen.

Auf der dem Kloster gegenüberliegenden Marktseite nahm das Gedränge ab. Einige Stände waren leer. An einem Bierausschank war kaum Betrieb. Nur ein paar Alte standen beim Ausschank hinter den leeren Bänken. Ein Mädchen ging zwischen den Ständen umher, sie mochte etwa in Norberts Alter sein. Das blonde Lockenhaar floss ihr um die Schultern. Ihr Kleid war an mehreren Stellen geflickt. Die Füße hatte sie mit Lappen umwickelt. Sie hielt den Marktgängern einen abgedeckten Korb entgegen. Mit einer hellen Glockenstimme pries sie Schmalzkuchen an, drei Stück den Viertelkreuzer. Norbert fand, sie sang es beinahe.

Er ging zu dem Mädchen. Sie sah ihn kommen und guckte wie Lene, wenn sie ihm einen Nasenstüber geben und mit ihm schimpfen wollte. Er hielt ihr einen Viertelkreuzer entgegen.

„Drei Schmalzkuchen!“ Norbert musste schlucken. „Bitte.“

Die Augen des Mädchens wurden groß.

Du hast einen Viertelkreuzer für Kuchen?“

Sie blickte auf seine schmutzigen, nackten Füße, auf seine staubige Reisekleidung.

„Ja, den hat mir Leika mitgegeben, als wir zu Hause losgegangen sind.“

Es klang trotzig, obwohl Norbert es nicht wollte. Die Kleine nahm die Münze.

„Halt die Hände auf!“

Die fetten Schmalzkuchen waren etwas größer als Hühnereier. Sie hatten eine braune Kruste. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen. Das Mädchen schaute ihn nicht noch einmal an. Sie deckte ihren Korb zu und ging weiter.

„Warte!“

Sie drehte sich um und guckte böse.

„Ich schenk dir einen Schmalzkuchen. Damit du auch mal was Leckeres essen kannst!“

Norbert mochte es, wenn sie diese großen Augen machte.

„Aber – wieso...“

Er streckte ihr das Küchlein entgegen.

„Nimm! Komm, wir setzen uns auf die Bank da drüben.“

Zögernd nahm sie den Kuchen. Sie gingen zu der leeren Bank abseits des Marktgetriebes. Das Mädchen strich ihren Rock glatt, setzte sich und ließ die Beine baumeln. Sie biss in den Schmalzkuchen. Norbert setzte sich neben sie. Aus irgendeinem Grund pochte ihm das Herz, aber es war ein angenehmes Pochen.

„Die hab ich selbst gebacken,“ sagte sie mit vollem Mund.

„Lecker!“

Auch Norbert hatte den Mund voll Schmalzkuchen.

„Mutter wäscht den ganzen Tag Wäsche für andere Leute,“ plauderte das Mädchen. „Ich mach den Haushalt und am Abend backe ich die Schmalzkuchen. Die verkaufe ich am nächsten Tag auf dem Markt, dann haben wir ein bisschen mehr, um einzukaufen und Mutter muss abends nicht immer weinen.“

 

Norbert schaute das Mädchen an. Sie hatte braune Augen und einen hübschen Mund.

„Und dein Vater – prügelt er dich auch immer? Meiner prügelt mich zu Hause ständig.“

„Ich hab gar keinen Vater,“ sagte sie traurig.

Norbert überlegte, ob das nicht besser war. Sie aßen die Schmalzkuchen auf und wischten sich die Münder ab.

„Ich bin Norbert. Wir sind Siedler im Gornwald.“

Sie betrachtete ihn staunend. „Gibt‘s da wirklich Geister?“

„Ja. Manche sind schlimm.“

Sie dachte darüber nach.

Dann sagte sie: „Ich bin Melanie. Jetzt muss ich weiter.“

Sie nahm ihren Korb. Norbert schoss eine Idee in den Kopf. Schnell sprach er sie aus, damit er es sich nicht gleich wieder anders überlegte.

„Hier – ich schenk dir den dritten Schmalzkuchen auch noch, wenn... wenn du mir einen Kuss gibst.“

Er liebte ihre großen Augen. Sie sah aus, als überlegte sie, ob sie böse gucken sollte. Norbert hielt ihr den Schmalzkuchen hin.

„Bitte, Melanie.“

Er konnte es nur flüstern. Sie nahm den Schmalzkuchen.

Ihr Kuss schmeckte nach Speichel und Norbert wurde ein bisschen übel im Magen und hinterher wusste er nicht, ob er den Kuss gemocht hatte oder nicht. Aber später musste er immer wieder an diesen Kuss denken. Das Mädchen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, bis Jahre später Maja und er andere Sachen miteinander ausprobierten.

***

Am nächsten Morgen wachte Norbert früh auf. Schales Dämmerlicht sickerte durch die Spalten der Dachluke. Norbert warf die Decken beiseite und ging hinunter in die Küche. Im Haus war es noch dunkel. Irgendwo schnarchte jemand. Die Küchenmagd gab ihm ein Stück Brot und stellte ihm den Schmalztopf hin. Sie schöpfte eine Kelle Wasser in einen Becher und stellte ihn dazu.

Norbert wippte ungeduldig auf der Bank, während er das Schmalzbrot aß. Nach dem Frühstück würden Vater und er abreisen. Er hoffte, dass Vater heute genauso lange bei Rebekka bleiben würde, wie gestern Morgen. Den ganzen Abend lang hatte der Vater in der Gaststube neben Rebekka gesessen und mit ihr geschmust, wenn er glaubte, Norbert sähe nicht hin. Norbert schluckte den letzten Bissen hinunter und sah sich nach der Küchenmagd um. Sie hantierte am Herd. Schnell huschte er zur Tür und schlüpfte hinaus.

Auf dem Marktplatz waren die Händler dabei, die Stände aufzubauen und Waren auszulegen. Norbert fröstelte im kalten Wind. Aber die klare Morgenluft gefiel ihm besser als der Dunst des Menschengedränges über Mittag. Ein Bettler streckte ihm eine fleckige Hand entgegen.

„Um der Milde der Götter willen, sei gut zu einem Kranken, Junge!“

Norbert lief schnell auf den Platz hinaus.

Am Bäckerstand drängten sich Städterinnen, um Brot zu kaufen. Einige sahen Norbert unwillig an. Er achtete nicht darauf. Norbert kaufte zwei Rosinenbrötchen für seinen letzten Viertelkreuzer. Sie waren noch warm und dufteten verführerisch. Dann ging er nach dem Mädchen mit den Schmalzkuchen suchen, die gesagt hatte, sie heiße Melanie. Er wanderte über eine Stunde auf dem Markt umher, aber er konnte sie nicht finden. Schließlich setzte er sich allein auf die Bank bei dem noch leeren Bierausschank, wo Melanie und er gestern gesessen hatten. Enttäuscht betrachtete er die zwei Rosinenbrötchen. Sie mitzunehmen hatte keinen Sinn, sie würden ihm in der Tasche nur zerknautschen. Außerdem würde der Vater ihn prügeln, wenn er erführe, dass Norbert Süßigkeiten auf dem Markt gekauft hatte. Er wartete noch eine Viertelstunde, ob Melanie nicht doch noch kam, dann aß er die Brötchen alleine auf. Aber sie schmeckten ihm längst nicht so gut, wie gestern Melanies Schmalzkuchen.

***

Im Gasthof empfing Hans Lederer seinen Sohn mit einem Wutanfall.

„Wo hast du dich rumgetrieben? Ich habe dir verboten, in der Stadt rumzustrolchen! Hier im Gasthaus hattest du zu bleiben. Früh aufbrechen wollte ich! Wann wirst du missratener Bengel endlich einmal auf mich hören?“

Norbert zog die Schultern hoch in Erwartung der Ohrfeige, aber die Küchenmagd ging dazwischen.

„Lass ihn, Hans Lederer. Es war unsere Schuld. Wir hätten besser auf ihn aufpassen müssen. Jeder Junge will doch mal durch die Straßen wandern und sich die Stadt ansehen. Warum soll dein Sohn nicht auch ein bisschen Vergnügen haben?“

Hans Lederer zog mürrisch die Hand zurück.

„Wenn die Stadtwache ihn als Betteljungen eingefangen hätte, hätte ich teuer bezahlen müssen, um ihn auszulösen.“

„Die Kriegsleute fangen gar keine Bettelkinder ein,“ platzte Norbert heraus. „Die sind viel klüger als die fiesen Markthändler.“

Jetzt kassierte er die Backpfeife doch noch.

Hans Lederer hatte bereits gefrühstückt. Er saß schlecht gelaunt dabei, während Norbert hastig seine Hafergrütze hinunterschlang. Rebekka erschien nicht. Der Vater zahlte dem Gastwirt die Zeche. Der Wirt war ein fettleibiger kleiner Mann mit misstrauisch blinzelnden Augen. Er drehte die Silbermünzen in den Händen und hielt sie ins Licht, um zu prüfen, ob sie echt waren. Norbert fragte sich, wie viel man wohl in einem „teuren“ Gasthaus bezahlen musste. Und wie es dort wohl zugehen würde.

Als sie die Stadt verließen, war es früher Vormittag. Wind strich über die Äcker und flüsterte in den Hecken. Wo Sonnenstrahlen durch wandernde Wolkenlücken schienen, leuchtete helles Grün auf den Feldern. Norbert atmete auf. Nach dem Gedränge und den üblen Gerüchen in den Gassen der Stadt war er glücklich, wieder Erdboden unter den Füssen und weite Felder um sich zu haben. Der Vater marschierte schnell. Norbert hatte Mühe, ihm und dem beladenen Esel hinterherzukommen. In seinem Kopf überschlugen sich die Eindrücke der letzten Tage. Er hätte gerne inne gehalten, um nachdenken zu können über alles, was er erlebt hatte, aber Vater trieb den Esel an und Norbert blieb nichts übrig, als sich darauf zu konzentrieren, mit dem Vater Schritt zu halten, um nicht zurückzufallen.

In Köhlershofen machten sie Rast. Norbert taten die Füße weh, aber der Vater wollte vor Einbruch der Nacht noch den Gornwald erreichen und hörte nicht auf Norberts Betteln, doch in der Herberge zu übernachten. Am Tisch vor der Herberge waren sie die einzigen Nachmittagsgäste. Beim Brunnen spielte eine Schar Kinder. Ihr Kreischen und Lachen drang durch den Wind herüber. Vater bestellte Bier und Essen für sich und Norbert. Es gab Kohlrübeneintopf. Das Bier machte Norbert müde und er fragte sich, wie er die Wanderung bis zum Wald durchhalten sollte. Wenn es nicht mehr ging, würde er sich eben einfach an den Wegrand setzen. Wenn der Vater ihn dann prügelte, würde er ja doch nur noch schlechter weitergehen können. Das musste der Vater ja wohl begreifen.

Die Kinder tanzten im Reigen um den Brunnen. Sie sangen ein Lied dazu. Die Melodie klang wehmütig, fand Norbert. Wie die Erinnerung an einen lange vergessenen Traum.

Ein Mädchen steht am Brunnen,

sie stehet da so still,

wartet auf ihren Liebsten,

der nicht kommen will.

Geh nicht zum Brunnen am Abend,

warte den Morgen ab.

Das stumme Mädchen am Brunnen,

sie zieht dich sonst hinab.

Der Köhler fand sie im Wald bei den Wölfen,

er nahm sie mit ins Haus.

Sie brachten ihr bei, im Hause zu helfen,

doch immer wieder riss sie aus.

Sie war nicht geschickt am Weberahmen,

zerbrach Topf und Krüge, die man ihr gab.

Sie biss die Jungen, wenn sie kamen,

sie zu besuchen am Feiertag.

Der reisende Junker, den sie liebte,

zu Sonnenwend ließ er sie allein.

Sie fand keine Tränen für ihre Liebe,

stürzte sich in den Brunnen hinein.

Geh nicht zum Brunnen am Abend,

warte den Morgen ab.

Das Wolfsmädchen am Brunnen,

sie zieht dich sonst hinab.“

Norbert stand auf und ging zum Brunnen. Er blickte in den dunklen Brunnenschacht. Aus weiter Ferne drangen Klänge an sein Ohr. Sie hallten im Brunnenloch. Zuerst glaubte Norbert, das Kreischen einer Flöte zu hören, aber es war das langgezogene, einsame Heulen einer Wölfin.

Die Kinder tanzten kreischend um Norbert herum.

Das Wolfsmädchen am Brunnen,

sie zieht dich hinab!“

3.

Auf dem Rückweg redete der Vater kaum ein Wort mit Norbert. Sie marschierten, bis es dunkel wurde. Norbert war zu müde, um über irgendetwas nachzudenken, obwohl der Kopf ihm schwamm von den vielen Eindrücken und er seine jagenden Gedanken dringend hätte ordnen wollen. Erst, als Norbert kaum mehr die Hand vor den Augen erkennen konnte, hielt der Vater an. Längs des Hangs, auf dem sie rasteten, floss das schwarze Wasser der Gorn. Das gegenüberliegende Ufer war nicht mehr auszumachen. In der Dunkelheit konnte Norbert das Gesicht des Vaters nicht sehen, der ihm schweigend Brot und Käse reichte. Er hätte dem Vater gern vieles gefragt, doch Vaters Schweigen und seine schroffen Gesten erinnerten Norbert an Zuhause. Die Veränderung, die mit dem Vater auf dem Hinweg vorgegangen war, schien vorbei.

Norbert streckte sich aus und starrte in die Baumkronen bis es stockdunkel geworden war. Mitten in der Nacht wurde er wach. Ganz deutlich hörte er es. Keinen Steinwurf entfernt.

„Vater, da sind Wölfe!“

Er hörte den Vater sich aufsetzten. Norbert hielt den Atem an. Er lag wie erstarrt.

„Da, jetzt heult er ganz nah beim Lager!“

„Unsinn, es ist völlig still. Das hast du geträumt. Halt deinen Mund und schlaf!“

Aber Norbert hatte es nicht geträumt. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass es nicht irgendein Wolf war. Es war das Wolfsmädchen vom Brunnen. Sie rief nach ihm.

***

Die Nacht war angebrochen, als sie am folgenden Tag in Wildenbruch ankamen. Die Wildenbrucher hatten sich bereits in die Häuser zurückgezogen. Der Vater befahl Norbert, vor der Haustür zu warten, während er den Esel in den Stall brachte. Benommen von Hunger und Erschöpfung setzte Norbert sich auf die Schwelle. Seine Füße waren wund vom ununterbrochenen Marschieren. Als der Vater mit den prall gefüllten Gepäcktaschen vom Stall kam und die Haustür aufriss, stolperte Norbert hinter ihm in die Wohnküche. Es duftete nach warmer Grütze.

Die Hofgemeinschaft umringte sie. Alle starrten auf Norbert, der sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Mutter, Lene, Margit, Beorn und Oliver schauten, als versuchten sie, einen Heiligenschein zu entdecken, der Norbert umgeben müsste. Nur Leika lächelte und zwinkerte ihm zu. Die Mutter nahm Norbert in die Arme. Sie hatte Tränen in den Augen.

„Bert, mein Junge!“

Norbert wollte nur essen und schlafen. Aber seine Angst, lange Erklärungen abgeben zu müssen, war unbegründet.

Mitten in das Durcheinander der auf Norbert einstürmenden Fragen polterte der Vater los: „Die heiligen Brüder haben über ihm gebetet. Mit der Geisterschwärmerei ist es vorbei, ein für alle Mal! Ich will kein Gerede über Geister mehr hören, hier nicht und nirgendwo. Ich schlag ihn grün und blau, wenn mir nochmal was von Geistern zu Ohren kommt!“

Das Stimmengewirr verstummte. Sigurt hielt ihren Sohn umklammert, als wollte der Vater ihn gleich schon mal vorbeugend verprügeln. Hans Lederer blickte grimmig nach Leika, doch sie hielt seinem Blick stand und schaute fest zurück. Die Haltung des Vaters lockerte sich etwas. Die Hofgemeinschaft ging zögernd zurück an den Tisch. Mutter und Lene stellten Schalen und Becher für den Vater und Norbert hin. In einem ungesehenen Moment warf Lene Norbert einen verschwörerischen Blick zu. Er wusste, was sie meinte.

„Petra war die ganze Zeit bei mir,“ flüsterte er.

Lene strahlte vor Stolz. Norbert machte sich über die heiße Grütze her.

Nachdem der Vater ein paar Bissen Rauchfleisch gekaut hatte, schlug er einen versöhnlichen Ton an.

„Ich habe Wachskerzen, Kleiderstoff, Leinen, Messer und zwei neue Äxte mitgebracht.“

 

Aber von dem Geld, das er im „frommen Pilger“ ausgegeben hatte, sagte er nichts. Norbert schaute die Mutter an. Die schmale, verhärmte Frau blickte ängstlich von ihren Teller auf zu ihrem Mann. Und mit einem Mal wusste Norbert, warum Vater nie von seinen Marktreisen erzählte und warum niemand in der Hofgemeinschaft ihn danach fragte, was er auf seinen Reisen erlebte.

***

In der Hofgemeinschaft wurde nicht mehr über die Marktreise gesprochen. Hans Lederers Schweigen wirkte wie ein Verbot, Norbert Fragen zu stellen. Wie selbstverständlich ging das alltägliche Leben auf dem Hof weiter, wenn auch die Mutter Norbert am nächsten Morgen eine Extraportion Speck und Bohnen in die Frühstücksschale gab und Margit und Oliver ihm neugierige Blicke zuwarfen. Lene, die neben ihm saß, betrachtete ihren Bruder verstohlen.

Nach dem Frühstück ließen Norbert und Lene die Ziegen aus dem Stall. Lene hielt Norbert in der Stalltür fest und zerrte ihn hinter den Stall.

„Was ist geschehen auf der Reise?“ flüsterte sie atemlos.

Die beiden Kinder kauerten sich unter das niedrige Strohdach.

„Vater hat eine Freundin in Altenweil,“ erklärte Norbert.

Lene sah aus, als wollte sie ihn ausschimpfen, aber sie überlegte es sich anders.

„Eine Freundin?“

„Ja, zwei Nächte ist er bei ihr gewesen und abends haben sie in der Wirtsstube gesessen und geschmust. Und dem dicken Wirt, bei dem sie Waschfrau ist, hat er die Hälfte seines ganzen Geldes gegeben und nur für die andere Hälfte Sachen auf dem Markt eingekauft.“

Lene blickte Norbert zweifelnd an.

„Ist das auch wahr?“

„Natürlich ist es wahr!“

„Und das Kloster? Gibt‘s die Zauberbilder, die Ikonen wirklich?“

„Ich musste mich vor einen Kasten knien, der auf einem Steintisch stand. Dann haben sie den Kasten aufgemacht. Da war ein Bild drin von einem Mädchen, das ein Rehkitz auf dem Schoß hatte. Aber sie mochte das Kitz nicht und guckte ganz sauer.“

„Und dann?“

„Nichts. Sie haben noch Geld genommen von Vater, damit ich das Bild sehen durfte.“

In Lenes Gesicht arbeitete es. Sie knetete ihre Finger, brachte die Frage aber nicht heraus. Norbert kannte seine Schwester gut genug, um zu erraten, worum es ging. Er holte Petra aus seiner Hosentasche.

„Hier, dein Püppchen. Und danke noch mal.“

Lene sah ihn ganz seltsam an.

„Hat sie dir geholfen?“

„Ja.“ Er sagte es sehr leise.

„Weißt du, du kannst sie behalten, wenn du willst.“

Und mit einem Blick auf ihren Bruder und das Holzpüppchen in seinen Händen fügte sie hinzu: „Ich glaube, Petra möchte bei dir sein.“

Norbert hielt das Figürchen in beiden Händen vor sein Gesicht.

Klar bleib ich bei dir, sagte Petra.

„Ja,“ murmelte Norbert. „Danke, Lene.“

Vor lauter Verlegenheit vergaß er, ihr zu sagen, dass es Petra überhaupt nicht gekümmert hatte, wenn er Rotz hochziehen musste.

***

Am Abend trafen die Wildenbrucher Kinder sich am Waldrand am gegenüberliegenden Ende der Weidewiese. Die Wiese und das Dorf lagen im Schatten. Über den bewaldeten Felsen glühte der Himmel in sanftem Rot. Unten auf dem Fluss funkelten letzte Sonnenstrahlen.

Maja setzte sich neben Norbert ins Gras. Die Kinder blickten Norbert gespannt und ein wenig scheu an. Lene reckte stolz den Hals und blickte triumphierend in die Runde, als wäre sie es gewesen, die die Marktreise gemacht hätte.

„Und?“ wollte Roderig wissen. „Haben sie dich geheilt? Kannst du keine Geister mehr sehen?“

„Doch, kann ich, es ist ja keine Krankheit. Leika sagt, es ist eine Gabe. Und der Abenteurer in Köhlershofen hat es auch gesagt. Im Kloster heilen sie nur Krankheiten.“

„Petra, mein Püppchen, das ich ihm gegeben habe, hat ihm geholfen!“ jubelte Lene.

Alle bestürmten Norbert mit Fragen, alles sollte er erzählen, aber Roderig winkte forsch ab.

„Woher weißt du, dass du es noch kannst?“

Norbert spürte einen Stich in der Brust. „Da... da war ein Mädchen am Brunnen in Köhlershofen. Sie ist vor vielen Jahren in den Brunnen gefallen...“

„Und?“ Roderig kniff die Augen zusammen.

Norberts Stimme war belegt. „Ich hab sie am Brunnen stehen gesehen. Sie hat nach mir gerufen...“

„Bist du hingegangen?“

Norbert schüttelte den Kopf. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhärchen aufrichteten, wenn er an das Heulen der Wölfin dachte. Und konnte er sie nicht eben jetzt in der Dämmerung hören – drüben in den Schatten der nebelumflossenen Elbenruinen? Töne drangen an sein Ohr, fern und sehr leise.

„Erzähl uns von Altenweil!“

Die Stimmen der Gefährten rissen ihn aus seiner Trance. Norbert erzählte.

„Die Stadt hat eine hohe, dicke Mauer aus Stein und die Häuser stehen ganz eng beieinander, so dass man kaum dazwischen hindurch kommt. Sie sind so hoch wie zwei, sogar drei Häuser übereinander gebaut und oben sind sie so schief, dass sie jeden Moment einstürzen können. Und das tun sie sicher auch immerzu. Die Wege zwischen den Häusern sind voller Dreck, den niemand wegfegt und auf den Wegen sitzen Kriegskrüppel, die im Krieg zusammengehauen worden sind und halten den Leuten ihre Stümpfe entgegen. Aber niemand gibt ihnen was, weil sie niemandem mehr nützen und sie müssen verhungern.“

Entgeistert starrten die Kinder Norbert an.

„Aber in Altenweil ist doch der Markt!“ protestierte Horst. „Alles kann man da kaufen, alles, was es auf der ganzen Welt gibt. Das muss doch eine ganz wunderbar reiche Stadt sein!“

„Ja,“ gab Norbert zu. „Hinter dem Markt, da wohnen lauter Könige und Fürsten in steinernen Schlössern. Da dürfen die Bettler nicht hin. Aber da sind Bettelkinder und alte Lumpenweiber auf dem Markt, die versuchen, heimlich was zu essen zu stehlen. Die Marktleute schlagen sie tot, wenn sie sie erwischen. Und die Kriegsknechte gucken nur zu.“

Beim Diskutieren über Norberts unglaubliche Erzählungen vergaßen die Kinder die Zeit. Erst als es stockdunkel geworden war, viel zu spät, um noch rechtzeitig nachhause zu kommen, schlichen sie zurück zu ihren Familien.

***

Am folgenden Nachmittag hielt Leika Norbert am Arm fest, als er den Eimer mit den Küchenabfällen aus der Wohnküche zum Schweinestall tragen wollte. Der Vater war noch nicht vom Holzfällen zurück. Leika und Norbert waren allein in der Küche.

„Wie ist er mit dir umgegangen auf der Reise? Ging alles gut?“

Norbert stellte dem Abfalleimer wieder hin.

„Vater war ganz anders als sonst. Er hat mit mir geredet, weißt du?“

Leika hörte ihm aufmerksam zu. Mit einem Mal überkam Norbert all die Empörung und die Wut, die er seit der Reise in sich hineingefressen hatte.

„Vater hat gesagt, im Gornwald leben wir an der Grenze zu den Toten, aber das Land gehört jetzt uns, nicht mehr ihnen. Dabei haben wir es ihnen doch weggenommen! Vater hat mir verboten, über die Grenze auf die andere Seite hinüberzuschauen, dabei geht er selber hinüber und nimmt den Elben ihr Holz weg, um es dem Zauberer in Altenweil zu verkaufen. Daher kommt nämlich unser Geld! Aber die Hälfte davon gibt er seiner Freundin in Altenweil, damit sie mit ihm...“

Leika gab ihm einen Klaps auf den Mund. „Halt den Mund, über so was redet man nicht!“

„Ja, das hat sie auch gesagt. Aber getan hat sie‘s doch mit ihm.“

„Sei still, Norbert!“

Norbert war außer sich vor Wut. „Und ich sag‘s doch! Allen sag ich‘s! Auch das mit dem Elbenholz und dass er gewusst hat, dass die schwarze Dame Smeta fressen würde und trotzdem hat er Smeta hingehen lassen!“

„Das wirst du nicht tun!“

Etwas in Leikas dunklen Augen machte Norbert benommen. Auf einmal konnte er seine Wut nicht mehr spüren. Atemlos starrte er Leika an.

„Du wirst das alles für dich behalten, Norbert. Deine Gabe bedeutet auch die Pflicht, sie nicht zum Schaden anderer einzusetzen, hörst du? Du hast die Pflicht, der Dorfgemeinschaft zu dienen, wie wir alle, damit wir überleben können. Du darfst die Gemeinschaft nicht zerstören. Hast du mich verstanden?“

Die Elben wurden alle ermordet. Warum hatte niemand die Pflicht, sie zu schützen? dachte Norbert.

Aber aus irgendeinem Grund konnte er es nicht sagen. Stattdessen nickte er stumm. Es kam Norbert wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Leika diesen dunklen Blick von ihm wandte. Noch immer fühlte er sich benommen.