Blaues Feuer

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„Da hast du deinen Wanderstock.“

Norbert verstand nicht, womit er so viel Aufmerksamkeit verdient hatte.

Sie bogen vom Fluss ab, der hier von den steilen Hügelketten im Nordosten herabgestürzt kam. Hinter den Hügeln warfen sich hohe Bergflanken auf. Hans Lederer und Norbert stiegen über bewaldete Hügel nach Westen. Norberts Lunge rasselte beim Aufstieg auf die Hügelflanke, trotz des Wandersteckens. Der Vater wartete mit dem Esel auf der Kuppe, bis Norbert nach Atem ringend ankam. Wortlos hielt er Norbert den Wasserschlauch hin. Als Norbert zu Atem gekommen war, stiegen sie hinab in ein enges, schattiges Hügeltal. Föhren klammerten ihre Wurzeln zwischen Felsblöcke. In der Talmitte schlängelte sich ein Bach entlang.

„Am Nachmittag kommen wir aus dem Gornwald in die Ebene heraus,“ erklärte der Vater. „Am Abend sind wir in Köhlershofen. Dort übernachten wir in der Herberge. Morgen Nachmittag erreichen wir Altenweil.“

Zwei volle Wandertage, fast drei von Wildenbruch bis Altenweil! Norbert hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie groß der Gornwald und das Land dahinter waren.

Während er über Steine und Wurzeln dem Vater nach abwärts stieg, brachte er hervor: „Vater – wie groß ist die Welt?“

Hans Lederer dachte nach. „Von Altenweil nach Trümmelfurt sind es fünf oder sechs Tagereisen. Von dort geht eine Straße zwanzig Tagereisen weit nach Klagenfurt, der Kaiserstadt an der Lorn. Die Lorn entlang, nochmal vielleicht zwanzig Tagereisen, kommt man ans Meer im Westen. Das Meer geht bis zum Horizont, wo abends die Sonne versinkt. Dahin kann kein Mensch gelangen.“

Norbert hatte keine Ahnung, was oder wo der Horizont war. Er musste stehen bleiben, weil ihm der Kopf schwamm.

***

Sie stiegen aus den Hügeln herab und folgten einem Trampelpfad durch dichten Nadelwald. Die Sonne hatte sich hinter die Wolkendecke zurückgezogen und der Wald lag in schattigem Dämmerlicht. Es roch nach Harz und faulem Holz. Fichtennadeln klebten sich Norbert an die Fußsohlen. Sein Herz hämmerte. Wie würde es sein, das Land hinter dem Gornwald?

Am späten Nachmittag wanderten sie auf einen Streifen Helle jenseits der Fichtenstämme zu. Unvermittelt hörte der Wald auf. Sie traten auf eine Rodung hinaus. Vor ihnen breitete sich das flache Land - Äcker und Brachen, Knüppelzäune um kleine Felder, die in jungem Grün standen, hier und da ein vereinzelter Baum mit nach allen Seiten sich breitender Krone, Haufen von Feldsteinen um seine Wurzeln. In der Ferne, in weiten Abständen voneinander, einzelne Katen. Von ihren Strohdächern stieg Rauch auf. Das Land verlor sich in einer beängstigenden Ferne, die Norbert den Atem raubte. Stumm vor Ergriffenheit wanderte er dem Vater nach.

***

Bei Sonnenuntergang erreichten sie Köhlershofen. Der Flecken bestand aus einem knappen Dutzend getünchter Hütten längs eines wenig befahrenen Karrenpfads. Windschiefe Schuppen standen hinter den Hütten im Morast. Hühner und Ziegen liefen umher. Männer und Frauen in ungefärbter Filz- und Leinenkleidung standen beieinander, bärtige Alte rauchten Pfeifen unter den Hüttendächern, Mütter riefen die kreischend herumtollenden, halbnackten Kinder zur Nacht in die Hütten.

Ein bisschen wie in Wildenbruch, wunderte sich Norbert, nur enger und schmutziger.

Die Herberge war ein niedriger, rindengedeckter Anbau an einer der Hütten, ein einziger, fensterloser Raum mit einem Strohlager am Boden. Dämmerlicht rieselte durch den Spalt zwischen Wänden und Dach. Vor dem Anbau standen zwei Tische für die Herbergsgäste. Bretter dienten als Bänke. Ein paar Schritt abseits an einem gemauerten Ziehbrunnen verabschiedeten sich Köhlershofener Frauen voneinander, um zu ihren Hütten zu gehen.

Außer Norbert und dem Vater waren an diesem Abend vier Kriegsknechte in Köhlershofen zur Herberge. Sie saßen beieinander am Tisch, tranken Bier aus Holzhumpen und blickten verdrossen vor sich hin. Ihre Piken lehnten an der Hauswand hinter ihnen. Am vorderen Tisch saß ein in einen Kapuzenumhang gehüllter Reisender mit schmutzigen Stiefeln und einem Schwert in einer Lederscheide, das er neben sich an den Tisch gelehnt hatte. Er blickte kurz von seinem Humpen auf, als Hans Lederer und Norbert über die Bank stiegen und sich an den Tisch setzten. Der Esel stand an ein Gatter gebunden an der Tränke. Norbert erhaschte einen Blick auf das Gesicht unter der Kapuze des Fremden. Graue Augen in einem wettergebräunten Bartgesicht musterten ihn.

„Den Sternen zum Gruß,“ knurrte der Vater.

Er rückte den Dolch am Gürtel zurecht. Der Fremde nickte nur. Norbert schaute fasziniert nach den Landsknechten in ihren speckigen Lederrüstungen. Helme und Lederhandschuhe lagen neben ihnen auf den Bänken. Die ungekämmten Haare hingen ihnen wirr über die Schultern. Einer von ihnen nickte Norbert zu. Er blickte auf Norberts nackte Füße und verzog das Gesicht zu einer Art Grinsen. Es sah nicht unfreundlich aus, fand Norbert, eher wie in halber Anerkennung für einen Jungen, der barfuß über Land reisen musste.

„Siedler?“ Die Stimme des Kriegsknechts hatte den Klang eines Reibeisens.

„Wir sind aus Wildenbruch,“ erklärte Vater. „Mein Junge faselt ständig davon, dass er Gespenster sieht. Ich bringe ihn zum Kloster der Armen Brüder in Altenweil, damit sie über ihm beten.“

Der Fremde sah auf. Einige Augenblicke lang lag der Blick seiner grauen Augen auf Norbert.

„Vielleicht ist es gar kein krankes Gefasel,“ überlegte einer der Kriegsknechte. „Vielleicht sieht dein Junge einfach nur mehr als andere. Wir hatten einen Kameraden...“

„Es ist eine Krankheit!“ polterte Hans Lederer. „Die Armen Brüder werden ihn heilen!“

Der Klang seiner Stimme verriet, dass er keinen Widerspruch duldete, was seinen Sohn betraf. Irrte Norbert sich, oder hatte er dem Fremden bei Vaters Wutausbruch den Kopf schütteln sehen?

„Hör mal, Siedler, seid ihr unterwegs Leuten begegnet?“ wollte der Kriegsknecht wissen. „Wir sind vom Markgrafen ausgesandt, nach Wilddieben zu suchen.“

Vater schüttelte den Kopf. „Keiner Menschenseele.“

Die Schankmagd brachte Bier und Kohlsuppe mit Schwarzbrot.

„Ihr könnt den Esel über Nacht in den Stall bringen,“ erklärte sie.

Der Vater nickte. Der Fremde betrachtete ihn, während der Vater schmatzend seine Suppe schlürfte.

„Da wirst du den Armen Brüdern viel bezahlen müssen, damit sie eine ihrer wundertätigen Ikonen über deinen Sohn halten und beten.“

Norbert fand die tiefe Stimme nicht unsympathisch. Der Vater sah kauend auf. Er betrachtete den Fremden, dann blickte er kurz zu den Kriegsknechten hinüber.

„Ich kenne jemanden in Altenweil, der mir Geld leiht,“ knurrte er. „Anton Dreyfuß, ein gelehrter Herr. Er kennt mich schon mehrere Jahre.“

Zuckte da ein Grinsen um die Lippen des Fremden? „Anton Dreyfuß leiht dir Geld? Wofür?“

„Das ist nicht deine Angelegenheit!“ brauste Hans Lederer auf.

„Das stimmt.“

Der Fremde stand auf, nahm sein Schwert und nickte Norbert zu. Ja tatsächlich, ihm, nicht dem Vater.

„Ich hau mich hin. Hab einen langen Reisetag hinter mir.“

Die Herbergstür knarrte, während er drinnen verschwand.

„Vater, was für ein Mann ist das?“ flüsterte Norbert.

„Ein Dreckskerl von einem Vagabunden, ein Strauchdieb oder Freischärler, ein Vogelfreier, ein Abenteurer, einer vom freien fahrenden Volk, die sich keinem Fürsten und keinem König untertan fühlen!“ brummte der Vater ebenso leise. „Ich bin froh, dass die Kriegsknechte heute Nacht hier sind, sonst wär ich weitergezogen, eh ich mit dem eine Nacht unter einem Dach verbracht hätte!“

Norbert war kein bisschen schlauer. Er hatte keine Ahnung, was für Leute das sein mochten, über die der Vater schimpfte.

***

Als es dunkel wurde, brachte der Vater den Esel in den Stall. Die Kriegsknechte nahmen ihre Piken und zogen sich in die Herberge zurück. Die Herbergstür klapperte. Norbert ging zu den Latrinen hinüber, die ein Stück weit ab auf einer Brache standen. In der Dunkelheit stolperte er über den gefurchten Boden. Die Mondsichel war ein blasser Fleck in den Wolken, der kein Licht spendete. Ein paar Schritt vor dem Brunnen blieb er wie angewurzelt stehen.

Am Brunnen stand ein Mädchen und schaute zu den Hütten hinüber. Das Haar hing ihr wirr ums Gesicht. Ihr Kleid triefte vor Nässe. Sie sah vierzehn oder fünfzehn Jahre alt aus. Das Mädchen stand vollkommen reglos. Auf dem Boden um sie bildete sich eine Pfütze. Ihr Blick war erfüllt von stummer Verzweiflung.

Norbert hielt den Atem an. Ein Gefühl wie von kalten Fingern rieselte ihm den Nacken herab. Es war ihm, als stünde er unter Zwang. Er konnte den Blick nicht von dem Mädchen wenden.

„Kannst du sie sehen?“ Die tiefe, warme Stimme ertönte unmittelbar hinter Norbert.

Norbert fuhr herum. Der Fremde im Kapuzenumhang stand hinter ihm. Er hatte die Kapuze abgestreift. Dichtes, dunkles Haar umgab sein Gesicht. Er deutete zum Brunnen. Norbert nickte stumm.

„Wer ist sie?“ flüsterte er.

„Die Köhlershofener erzählen, sie habe sich vor zwanzig Jahren in den Brunnen gestürzt, weil ein durchreisender Junker, in den sie sich verliebt hatte, weitergezogen sei, ohne sie mitzunehmen. Ich denke aber, es wird kein Junker gewesen sein, sondern irgendein Meierssohn aus Altenweil. Mag sein, dass sie sich gar nicht selbst ertränkt hat, sondern der Meierssohn hat nachgeholfen, als herauszukommen drohte, dass sie von ihm schwanger war.“

Norbert betrachtete die verlorene Erscheinung. Er meinte, ihren Schmerz körperlich zu spüren. Vorsichtig ging er einen Schritt auf sie zu. Ihm war, als wandte sie den Kopf ein wenig in seine Richtung.

 

Der Fremde hielt ihn am Arm fest. „Lass sie. Sie nimmt uns nicht wahr. Es ist gefährlich, die Toten zu stören.“

„Manchmal nehmen sie einen doch wahr,“ flüsterte Norbert.

Er musste an die Großmutter denken. Da war wieder die Wut, die jedes Mal gekommen war, wenn der Vater ihn von Großmutters Lehnstuhl weggezerrt hatte. Die ihn überkommen hatte, als Vater ihm vom Elbenholz erzählt hatte – und von der Smeta.

Er starrte zu dem Mädchen hinüber. „Ich werde ein Krieger, wie Beowulf. Dann räche ich alles Böse, was in Wildenbruch geschehen ist. Und was ihr passiert ist, auch!“

Der Abenteurer, wie der Vater ihn genannt hatte, nahm Norbert bei den Schultern. In der Dunkelheit waren seine Gesichtszüge kaum zu erkennen.

„Da werden dir Kriegskünste nichts nützen. Lerne lieber, mit deiner Begabung umzugehen. Es ist keine Krankheit, Junge. Du bist hellsichtig. Nur wenige Menschen sind das.“

„Das sagt Tante Leika auch,“ murmelte Norbert.

Er wand sich, aber der große Mann packte ihn nur fester an den Schultern.

„Statt ein Kriegsmann zu werden, solltest du zu einem Lehrmeister gehen, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult. Hör auf meinen Rat: Geh bei Anton Dreyfuß in die Lehre, dem dein Vater wer weiß was aus dem Grenzwald anschleppt.“

„Er bringt ihm Elbenholz.“

„Ich dachte mir so was. Sag Dreyfuß, Lars Wagenknecht hätte dich geschickt. Dann wird er dich aufnehmen.“

Der Fremde ließ Norbert los. Norbert betrachtete die Silhouette des Mannes in der Dunkelheit. Warum wollte der Abenteurer ihn zu dem sonderbaren Gelehrten schicken? Was hatte er davon?

„Was machst du hier? Wer bist du?“

Der Fremde schnaufte verächtlich. „Einer von den Wilddieben, die die Kriegsknechte suchen. Aber sag‘s ihnen nicht, sonst müssten sie versuchen, mich gefangenzunehmen und aufzuhängen.“

Die Hand des Fremden spielte mit dem Schwertknauf. „Und die armen Teufel wollen lieber heil und in einem Stück aus Köhlershofen wegkommen.“

„Vater sagt, du bist ein freier Abenteurer.“

„Mag sein,“ brummte der angebliche Wilddieb.

Er wies in Richtung Herberge. „Da kommt dein Vater vom Stall. Geh, lauf zu ihm. Er braucht nicht zu wissen, dass ich mit dir geredet habe.“

Während der Fremde sich mit raschen Schritten entfernte, schaute Norbert zum Brunnen hinüber. Das Mädchen war nicht mehr da. Auch die Pfütze nicht, die sich unter ihr gebildet hatte.

***

Auf dem Strohlager in der stockdunklen Herberge schwirrte Norbert der Kopf von den Ereignissen der letzten Tage: die atemberaubende Weite der Ebene - die Kriegsknechte mit ihren Waffen und Rüstungen - der geheimnisvolle Abenteurer... die vielen Dinge, die der Vater gesagt hatte - Norberts Wut beim Gedanken an die heftige Ohrfeige... das blaue Licht aus der Gepäcktasche, die Schatten der anderen Welt im diffusen blauen Licht, das entfernte Kreischen der Flöte... das verzweifelte Mädchen am Brunnen... dann das raubtierartige Grollen aus der Grotte und Smetas Schreie...

Die Worte des Abenteurers klangen Norbert in den Ohren: „Such dir einen Lehrmeister, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult...“

Ich werde kein verrückter Gelehrter, ich werde ein Krieger wie Beowulf!

Norbert wälze sich im muffigen Stroh herum. Auf der Seite der Soldaten hustete jemand rasselnd. Ein anderer murmelte und schmatzte im Schlaf. Norbert konnte lange nicht einschlafen.

***

Der folgende Tag brachte Nieselregen. Über aufgeweichte Wege zogen die beiden Reisenden vorbei an Viehweiden, Hecken und von Bächen durchflossenen Gehölzen. Der Regen rann Norbert übers Gesicht und in den Nacken. Alle paar Schritte musste er Rotz hochziehen. Seine Nase lief, aber Petra störte das nicht. Er wusste, dass Lene das maßlos ärgern würde, wenn er es ihr erzählte. Insgeheim freute er sich schon darauf.

Am Nachmittag sichteten sie Altenweil. Die Stadt lag auf einer Anhöhe. Hoch oben auf einem Felsplateau inmitten der Stadt erhoben sich die grauen Mauern und der wuchtige Rundturm der Markgrafenburg. Norbert blickte atemlos zu den Stadtmauern und Wehrtürmen Altenweils auf. Schiefe, steile Dächer ragten hinter den Mauern hervor.

„Ist das die größte Stadt der Welt, Vater?“

„Du bist ein dummer Junge. Trümmelfurt ist viel größer als Altenweil. Und Klagenfurt, die Kaiserstadt an der Lorn, erst recht.“

Es gruselte Norbert bei der Vorstellung von Riesenstädten, in denen sich Haus an Haus drängte, deren Bewohner vielleicht nie in ihrem Leben gesehen hatten, wie Sonnenstrahlen durchs Blätterdach des Waldes rieselten. Die dunklen Mauern von Altenweil machten ihm Angst.

***

Im Stadttor mussten sie angeben, wie sie hießen und woher sie kamen. Ein Reiter in Kettenhemd und Kettenhaube zahlte den Wachen das Torgeld aus der Lederbörse an seinem Gürtel. Sein Knappe wartete mit den vom Ritt schwitzenden Pferden. Norbert blickte sich mit klopfendem Herzen um. Überall grauer Stein: Das Torgewölbe bestand aus großen Feldsteinen, der Boden war gepflastert. Der düstere Tordurchgang bedrückte ihn.

Als Vater erklärte, sie seien Siedler, durften sie passieren, ohne Torgeld zahlen zu müssen. Sie traten hinaus in die lärmende Gasse. Norbert hatte den Eindruck, die schiefen Fachwerkhäuser mit ihren über die Gasse ragenden Erkern müssten jeden Moment über ihm zusammenstürzen. Der Gestank von verrottenden Küchenabfällen und Fäkalien lag in der Luft. Männer und Frauen in ungefärbter und brauner Kleidung drängten sich um die Auslagen der Läden und versuchten, das Rattern der Handwagen auf dem Pflaster zu überschreien. Norberts erster Impuls war, auf der Stelle durchs Stadttor wieder hinauszurennen.

Hier halte ich es keinen Tag lang aus!

Aber der Vater führte den Esel zügig durch das Gedränge und Norbert musste hinter ihm her, damit er ihn nicht aus den Augen verlor. Drei oder vier Burschen in einem Hoftor grinsten, als er vorbei ging. Boshaft lachend zeigten sie auf seine nackten Füße. Norbert biss die Zähne zusammen. Seine Finger krampften sich um den Wanderstab.

Der Vater bog in eine enge Seitengasse ein. Der Lärm ebbte ab. Nur wenige Alte saßen in den niedrigen Hauseingängen und rauchten. Die Häuser neigten sich bedrohlich über der dämmrigen Gasse zusammen. In Winkeln lagen Haufen von Unrat. Ratten huschten umher. Norbert begriff nicht, wie man in solchem Dreck und solcher Enge leben konnte.

Auf dem höchsten Punkt der Gasse zwängte sich ein Rundturm in die Häuserzeile. Er war kaum zwölf Schritt breit und die oberen Geschosse unter dem steilen Spitzdach sahen so schief aus, das Norbert geschworen hätte, er müsse sofort einstürzen. Es gab nur ein schmales Fenster in jedem Stockwerk. Ein paar Stufen führten zur Pforte hinauf. Über einem eisernen Türklopfer war ein vergilbtes Pergament an die Tür geheftet. Norbert vermutete, dass die verwaschenen Zeichen auf dem Pergament Buchstaben waren. Leika hatte einmal von Büchern erzählt, in denen Buchstaben sich zu Wörtern zusammenfügten, so dass man lesen konnte, was ein anderer in das Buch hineingeschrieben hatte. Norbert hielt es für schiere Zauberei.

Auf Vaters Klopfen wurde die Tür geöffnet und der Vater wechselte ein paar Worte mit jemandem hinter der Tür. Im dunklen Turmeingang konnte Norbert niemanden erkennen.

Der Vater drehte sich zu ihm um. „Warte hier mit dem Esel!“

Er verschwand mit der Gepäcktasche im Turm. Die Pforte schloss sich hinter ihm. Norbert blickte schaudernd zum Spitzdach des Turms hinauf. Er war fest überzeugt, dass in diesem Gemäuer inmitten der lärmenden, verdreckten Stadt nur ein Irrsinniger hausen konnte.

Der Esel stand geduldig, während Norbert von einem Bein aufs andere trat und auf den Vater wartete. Er wünschte, er hätte alles bereits hinter sich, wäre aus der Stadt hinaus und mit dem Vater unterwegs zurück zum Gornwald. Nie, nie würde er hierher zurückkehren, das schwor er sich. Als die Pforte sich öffnete, schreckte er auf. Er hörte den Vater mit jemandem reden. Vater trat aus der Pforte. Der alte Mann, der ihm nachkam, war in ein dunkles Gewand mit weiten Ärmeln gekleidet. Das hohlwangige Gesicht war von Falten durchzogen. Mit Fingern, die Norbert an Klauen erinnerten, schüttelte er Vater die Hand.

Norbert hörte Vater sagen: „Nein, ich bringe ihn zu den Armen Brüdern. Ich will, dass er geheilt wird.“

Der Blick des Alten lag auf Norbert. Kleine, stechende Augen musterten ihn. Norbert wäre am liebsten weggerannt. Der Alte sagte etwas zum Vater, dann schloss er die Turmpforte. Vater kam die Stufen herab und nahm Norbert die Leine aus der Hand.

„Das Kloster liegt am Marktplatz. Heute ist es zu spät, die Mönche aufzusuchen. Wir übernachten im Gasthof „Zum frommen Pilger“. Dorthin gehe ich jedes Mal in Altenweil. Dort ist es billig und gut.“

***

In der Torgasse wurden die Läden zu den Werkstätten der Handwerker geschlossen. Die Gasse leerte sich. Hinter der schwarzen Silhouette der Felsenburg über den Dächern der Stadt leuchtete trübes Abendrot.

Der Marktplatz lag am Ende der Torgasse. Obwohl der Burgfelsen den Platz überschattete, war es hier heller und die Luft kam Norbert reiner vor als in den engen Gassen der Unterstadt. Bei den großen Häusern vor dem Burgfelsen am gegenüberliegenden Ende des Platzes konnte es sich wohl nur um die Schlösser von Grafen oder Fürsten handeln, glaubte Norbert. Aber er wollte den Vater nicht schon wieder fragen. An der Ostseite begrenzte eine hohe Backsteinmauer den Marktplatz. Ein wuchtiges Gebäude ragte hinter der Mauer auf. Zwischen abgeschrägt gemauerten Außenpfeilern blickten oben unter dem Dach winzige Fenster aus den Mauern.

„Das Kloster der Armen Brüder,“ erläuterte Vater auf Norberts ehrfürchtigen Blick.

Die gewaltigen Tempelmauern waren nur ein weiterer drohender Schrecken dieser Stadt, von der Norbert glaubte, dass er sie bis an sein Lebensende hassen würde wie die Pest.

Auf dem Marktplatz wurden die Stände geleert. Händler luden ihre Waren in Schulterkiepen und Karren. In Lumpen gehüllte Frauen und dreckstarrende Kinder wanderten zwischen den Ständen herum und sammelten Gemüseabfälle auf. Die Händler fuhren sie an, manche traten auch zu, doch die Bettelleute zogen lediglich die Schultern ein und bückten sich nach dem nächsten Gemüserest. Ein Junge rannte über den Marktplatz, von rachsüchtigem Geschrei verfolgt. Er presste einen Kohlkopf gegen sein zerfetztes Hemd. Norbert blickte ihm mit klopfendem Herzen nach, bis er in einer Gasse verschwand. Ein untersetzter Mann in einer Schürze brüllte ihm hinterher. Er schwang ein Tischbein in der Faust.

Norbert blickte sich um wie gehetzt, als würde er selbst verfolgt von den wütenden Marktleuten. Da kauerten Gestalten an den Hausmauern längs des Platzes. Aus dreckigen Lumpen streckten sie den Vorbeigehenden Armstümpfe entgegen, blinzelten einäugig aus entstellten Gesichtern, ein Junge ohne Beine saß in einem Handwagen. Vater ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.

„Erbarmen, Junge, einen Viertelkreuzer für einen Diener des Grafen, der seinem Herrn treu gedient hat.“

Eine Krücke schwang vor Norbert. Der junge Mann, der sie hielt, hatte seinen Beinstumpf mit schmutzigen Lappen umwickelt. Sie waren dunkel von Blut. Auch das Sackleinen um die seltsam verkrümmte Hand waren blutverkrustet.

„Nur einen Viertelkreuzer, guter Junge!“

Fassungslos starrte Norbert in das ausgezehrte Gesicht. Er bekam keinen Ton heraus. Verzweifelt schüttelte er den Kopf, als könnte er die Erscheinung dadurch vertreiben. Dann rannte er dem Vater hinterher.

„Vater!“

Er konnte nicht anders, er musste sich an Vaters Jacke klammern. Tränen rannen Norbert übers Gesicht.

„Vater, was sind das für Leute?“

„Ich habe dir gesagt, dass du sie sehen würdest. Kriegskrüppel: Männer, die mutig aber dumm genug waren, in den Krieg zu ziehen. Jetzt sind sie klug geworden. Aber das schützt sie nicht mehr vorm Verrecken.“

Norbert wurde schlecht.

„Vater, lass uns weggehen. Lass uns draußen übernachten, nicht in der Stadt.“

„Unsinn, komm jetzt. Reiß dich zusammen!“

Der Vater schlug ihm über den Kopf – es war nur ein angedeuteter Schlag.

„Ich habe dir geraten, zuerst klug zu werden. Du wirst jetzt wohl auf mich hören, wie?“

Norbert nickte stumm.

***

Der Gasthof „Zum frommen Pilger“ lag ein paar Quergassen abseits vom Markt an der unteren Klostermauer. Es war ein großer Gasthof. Licht schimmerte aus den Pergamentfenstern im Erdgeschoss auf die Gasse hinaus. Aus der halboffenen Tür drangen Essensgerüche und Stimmengewirr. Der Vater und Norbert brachten den Esel in den Stall. Vater gab dem Stallknecht Trinkgeld und nahm dem Esel das Gepäck ab. Durch den Hinterhof mit den Latrinen und der Waschküche gingen sie zur Gaststube hinüber. Irgendwo lachte ein Mädchen. Ihr Juchzen passte nicht in eine Pilgerherberge, wie Norbert sie sich vorstellte.

 

Die Gaststube nahm das gesamte Untergeschoss des Wirtshauses ein. Viele der langen Tische waren voll besetzt. Männer mit abgearbeiteten, blassen Gesichtern hielten ihre Bierhumpen in die Höhe und prosteten den Schankmädchen zu, die mit Armen voller Humpen von den Bierfässern her kamen. Die Mädchen hatten saubere Kleider an, stellte Norbert staunend fest, manche sogar blau gefärbte Schürzen, die sie sich eng um die Taille geschnürt hatten. Eine junge Frau erzählte den Männern an den umgebenden Tischen mit in die Hüften gestemmten Armen eine Geschichte, die offenbar sehr lustig war, denn die Männer johlten und prosteten ihr zu. Über der Herdstelle wurde ein Spanferkel am Spieß gedreht. Es roch nach Bier, verschwitzten Körpern und Braten. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen.

Sie suchten sich einen freien Platz an einem Tisch am unteren Ende der Gaststube.

Der Vater fragte das Mädchen, das an den Tisch kam: „Ist Rebekka nicht da?“

Das Mädchen überlegte kurz. Dann sah sie Hans Lederer nachdenklich an. Der Vater holte den Geldbeutel aus der Jacke, legte ihn klimpernd auf den Tisch ohne ihn loszulassen und steckte ihn wieder ein. Norbert beobachtete die Szene gespannt, ohne etwas begreifen zu können.

„Ich glaube, Rebekka ist in der Waschküche,“ sagte das Mädchen mit einem seltsamen Blick auf Norbert. „Ich sag ihr Bescheid. Soll ich dir Bier bringen?“

Der Vater nickte. „Und dem Jungen auch. Essen wollen wir auch was.“

„Ich bringe euch Eintopf und Bier. Wollt ihr auch Spanferkel?“

Oh ja, bitte, bitte! dachte Norbert.

Doch er wusste, dass der Vater kaum viel Geld ausgeben würde. In Wildenbruch achtete er stets genauestens darauf, dass niemand mit dem Essen verschwenderisch umging.

„Ja,“ sagte Hans Lederer. „Und gib uns Brot dazu.“

Norbert starrte den Vater mit großen Augen an.

Der duftende Krustenbraten, der Kartoffeleintopf und das frische Brot ließen Norbert die Schrecken der Unterstadt und des Marktplatzes vergessen. Er war so mit Kauen und Schlucken beschäftigt, dass er den Wirtshauslärm kaum noch wahrnahm. Das Bier stieg ihm in den Kopf und machte ihn dösig. Die junge Frau bemerkte er erst, als sie sich zu ihnen an den Tisch setzte. Ihre Schürze war ausgebleicht und sie hatte Schwielen an den Händen, aber die Haut ihrer Unterarme, des Gesichts und des Halses, der bis zum Schlüsselbein zu sehen war, war sauber. Ihr brünettes Haar war gewaschen und ordentlich aufgesteckt. So viel Mühe um ihr Äußeres gaben sich die Wildenbrucher Frauen nur an Festtagen. Die junge Frau hatte ein hübsches Gesicht, fand Norbert. Er wunderte sich, warum sie ihr Kleid nicht bis oben zugeschnürt hatte.

„Sonst kommst du immer im Herbst,“ sagte die Frau zu Hans Lederer.

Sie war wohl die Rebekka, nach der der Vater gefragt hatte.

Hans Lederer deutete auf Norbert. „Mein Sohn. Er ist geistersichtig. Es gibt Gerede darüber im Dorf. Ich bringe ihn zu den Armen Brüdern, damit sie über ihm beten.“

Den Blick, mit dem die Frau, die wohl Rebekka war, ihn betrachtete, fand Norbert freundlich.

„Glaubst du, die Gebete der Armen Brüder werden ihm helfen?“

„Wehe, wenn nicht!“ grollte Hans Lederer. „Er soll sich bloß zusammenreißen!“

Er sah Norbert drohend an. Norbert guckte auf seinen Teller und stopfte sich Spanferkel in den Mund, weil er nicht wusste, was er darauf für ein Gesicht machen sollte. Als er aufgekaut hatte, wischte er mit dem Finger den letzten Rest Suppe aus der Holzschale. Der Vater und Rebekka unterhielten sich leise. Rebekka nahm Norbert den Suppenteller aus der Hand.

„Ich hole dir noch Eintopf. Du brauchst bei uns nicht zu hungern.“

Norbert musste an die Kriegskrüppel draußen beim Markt denken. Plötzlich fühlte er sich schlecht.

Als Rebekka mit dem vollen Teller Suppe zurück an den Tisch kam, fragte Norbert, obwohl sein Herz dabei zu pochen anfing: „Warum gibt niemand den Kriegskrüppeln was zu essen? Und den Bettelkindern?“

Aus irgend einem Grund glaubte er, solange Rebekka am Tisch saß, würde er vom Vater keine Ohrfeigen kassieren. Der Vater schlug tatsächlich nicht zu.

Statt dessen grollte er: „Weil die nichts haben, womit sie bezahlen können! Wer sollte ihnen da was geben wollen? Wenn du allen Krüppeln der Welt dein Geld geben willst, bist du bald selber Bettler! Glaub bloß nicht die Ammenmärchen, die die Weiber im Dorf erzählen: Wenn eine ihr letztes Hemd weggibt, regnen die Sterne Gold auf sie herab. Im Dreck landet sie, nirgends sonst!“

Norbert musste wohl ein sehr bestürztes Gesicht gemacht haben, denn Rebekka legte ihm die Hand auf den Arm und sagte versöhnlich: „Die Armen Brüder betreiben ein Siechenhaus im Kloster. Da waschen sie den Kriegsversehrten die Wunden und verbinden sie. Sie geben ihnen auch etwas zu essen, aber dann schicken sie sie fort. Es heißt, es gibt einen Streit zwischen dem Abt und dem Markgrafen. Der Abt sagt, die Kriegsleute hätten dem Markgrafen gedient, zu dem sollen sie gehen, damit er sie versorgt.“

Das verstand Norbert nicht, aber er hörte auch kaum zu, weil er es mochte, wie Rebekkas Hand auf seinem Arm lag. Er hätte ihre Berührung gerne noch länger gespürt, aber sie zog die Hand weg.

Sie lächelte Hans Lederer an. „Du hast einen aufgeweckten Jungen, Hans.“

Der Vater betrachtete seinen Sohn zweifelnd.

„Noch ist er nicht klug, aber klug werden muss er, das rate ich ihm!“

***

Norbert döste am Tisch, während der Vater und die junge Frau leise miteinander sprachen. Das Bier und das Essen machten ihn müde. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so satt gewesen war. Lärm, Bierdunst und das Durcheinander der Menschenmenge in der Gaststube schwammen ihm im Kopf und er wusste nicht, ob er noch wach war, oder ob er bereits im Halbschlaf träumte.

Irgendwann hörte er Rebekka sagen: „Dein Sohn schläft gleich ein, Hans, ihm fallen ja schon die Augen zu.“

Norbert dachte, sie wollte ihm eine Ohrfeige geben, aber sie fuhr ihm bloß zärtlich durchs Haar. Er konnte sich nur noch schwer konzentrieren.

„Ich bringe ihn nach oben in die kleine Kammer, da kann er schlafen, ohne dass die Betrunkenen ihn stören.“

Der Vater nickte. Norbert hatte gedacht, Vater und er würden zusammen übernachten. Aber der Vater machte diese Miene, die er immer machte, wenn er der Verena eine Speckseite oder ein Ferkelchen brachte. Norbert sah sich in der Gaststube um. Mit einem Mal hatte er den Eindruck, dass es gar nicht wegen dem Bier oder dem Essen war, weswegen viele der Männer im Raum in den „frommen Pilger“ gekommen waren.

Er folgte Rebekka zur Treppe neben der Küche. Rebekka brachte einen glimmenden Kienspan. Aus einer Truhe nahm sie Decken und ging ihm voraus nach oben. Neben dem Wäscheboden öffnete sie die Tür zu einer kleinen Kammer. Es gab einen schmalen mit Stroh gefüllten Bettkasten und eine Truhe. Die Dachluke war mit einem Laden verschlossen. Rebekka setzte den Kienspan in einen Ständer auf der Truhe.

„So, hier kannst du dich ausruhen.“ Sie legte die Decken im Bettkasten zurecht. „Wenn du später noch mal Hunger bekommst, geh nur runter in die Küche und lass dir ein Stück Brot geben. Die Küchenmägde wissen alle, dass du Hans Lederers Sohn bist. Du brauchst hier keinen Hunger zu haben.“

„Rebekka?“

Sie sah ihn fragend an.