Blaues Feuer

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„Du bösartiger Bengel, dass die Dämonen dich holen sollen! Wirst du wohl verschwinden!“

Norbert wischte sich das Blut von der Lippe.

„Bitte, Smeta! Sie... die schwarze Dame ist ein Dämon.“

Smeta wurde bleich. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut und Verzweiflung.

„Na, wenn schon,“ schrie sie in das Tosen des Bachs. „Was hab ich denn schon noch vom Leben. Wenn sie mir nicht hilft, will ich ja doch sterben!“

Sie schürzte mit der Linken ihr Kleid, umklammerte mit der Rechten den Korb mit dem Schweinchen und rannte stolpernd den Felsenpfad hinauf.

„Smeta!“

Norbert rannte ihr nach, aber er rutschte auf dem nassen Fels aus und schlug der Länge nach hin. Als er sich wieder aufgerafft hatte, war Smeta zwischen den Felsen verschwunden. Außer Atem stieg Norbert ihr hinterher.

Sie stand vor der Grotte, den Korb mit dem Ferkel an sich geklammert. Norbert kam es vor, als schwankte sie. Die Schwärze im Schlund der Grotte war keine gewöhnliche Dunkelheit. Sie schien aus der Grotte herauszuquellen, Smeta entgegen. Norbert wollte schreien, aber er hatte keine Stimme mehr. Wie gelähmt stand er am Eingang des Felseinschnitts. Über verfaultes Obst, modernde Kränze, Opfergaben des vergangenen Herbsts hinweg ging Smeta in die Grotte hinein. Sie ging sehr langsam und zögernd. Norbert konnte sie in der dichten Finsternis nicht mehr sehen.

„Smeta!“ Es war kaum mehr als ein Schluchzer.

Da war ein Geräusch wie aus der Kehle eines Raubtiers. Ein kurzes Gurgeln, bei dem sich Norberts Nackenhaare aufrichteten. Er hörte Smeta schreien. Der Schrei schwoll an zu einem panischen Kreischen, brach abrupt ab, setzte röchelnd wieder ein. Norbert presste die bebenden Lippen zusammen. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er schlotterte am ganzen Körper. Zwei blutende Hände klammerten sich aus der Schwärze heraus an den Fels am Grotteneingang. Die Ärmel waren zerfetzt. Etwas ruckte an den Armen, die Hände glitten ab, verschwanden in der Dunkelheit. Die Schreie kamen jetzt stoßweise. Sie verröchelten weit hinten in der Grotte.

***

Außer Atem, schlammverschmiert und durchnässt stolperte Norbert in die Wohnküche. Die Hofgemeinschaft war noch nicht zur Arbeit auseinander gegangen. Insgeheim hatten sie alle für Smeta zur Schutzgottheit Wildenbruchs gebetet.

Lene kreischte auf. „Bert, wo bist du gewesen?“

Schluchzend ging er in die Knie. Das Entsetzen ließ ihn nicht sprechen. Erst mehrere Atemzüge später fand er seine Stimme wieder.

Er heulte es aus vollem Hals heraus: „Die schwarze Dame hat Smeta gefressen!“

Mutter schrie. Norberts Onkel Beorn und Oliver sprangen auf, so dass die Bank hinter ihnen umstürzte. Hans Lederer starrte seinen Sohn an. Stumme Wut spiegelte sich in seinen Gesichtszügen.

„Sie hat das Ferkel gefressen und Smeta gleich mit!“ heulte Norbert.

Der Vater ging zum Brennholzstapel und griff sich einen kantigen Scheit.

„Hans, bitte!“ flüsterte die Mutter.

Leika streifte Norbert mit einem Blick und ging auf den Hausherrn zu. Hans Lederer sah ihr entgegen, als wollte er sie ebenfalls verprügeln.

Leika griff ihn am Arm. „Lass ihn. Warum willst du deinen Sohn zum Krüppel schlagen? Du siehst doch, dass er schon genug Seelenqualen leidet.“

Hans Lederer stand erstarrt. Langsam ließ er die Hand mit dem Holzscheit sinken. Mit zwei Schritten war Leika bei Norbert, zerrte ihn hoch und zog ihn hinter sich her in die Vorratskammer. Hinter der geschlossenen Tür kniete sie sich neben den zitternden, schluchzenden Jungen, fuhr ihm durchs Haar und presste ihn an ihre Brust, bis das hysterische Schluchzen verebbte.

„Rede nicht davon, hörst du?“ flüsterte sie.

„Aber es ist wahr, es ist wahr!“ weinte Norbert.

„Sie verstehen es nicht. Keiner von ihnen. Ich wollte es ja selbst nicht glauben.“

***

Die Wildenbrucher erzählten einander, Smeta sei ihrem Mann ausgerissen und in einen der Weiler jenseits des Gornwalds gegangen, weil sie kinderlos geblieben war. Ruth Feldnersohn behauptete, Smeta hätte ihr gegenüber einmal so etwas fallen lassen. Und Gerlinde Hüttner meinte, die Verena Methorst habe Smeta mit einem Bündel und Wanderstecken längs der Flussaue davonschleichen sehen, am Elbendorf vorbei. Verena sagte nichts dazu. Aber sie widersprach dem Gerücht auch nicht.

Wenn bei der Abendmahlzeit das Gespräch auf Smeta kam, legte Leika Norbert die Hand auf den Arm und rückte dicht an ihn heran. Sie beteiligte sich nicht, wenn die Mitglieder der Hausgemeinschaft einander beipflichteten, Smeta sei fortgelaufen. Hin und wieder warfen Mutter oder Margit Norbert ängstliche Blicke zu. Norbert schaute auf seinen Teller und kaute sein Essen. Er war froh über Leikas Händedruck auf seinem Arm. Es half gegen das Zittern, das ihn jetzt oft überkam. Smetas Schreie hallten ihm im Ohr. Nachts träumte er von ihren blutigen Händen. Und etwas Dunklem, Unsichtbaren, das ihn Nacht für Nacht schreiend auffahren ließ.

Lars Weidner ging fluchend und schimpfend durchs Dorf. An den Abenden saß er jetzt oft bei der Hofgemeinschaft Kurt Morgners, erzählte Kurt, wie er ihm bei der anstehenden Feldarbeit zur Hand gehen wolle und war freundlich zu Grete. Doch Kurt Morgner blieb nachdenklich.

„Ich werde niemals Lars' Frau!“ erklärte Grete laut im ganzen Dorf.

Oliver wurde rot, wenn er es mitbekam.

***

Der Regen wurde seltener und die Sonne trocknete den Schlamm zwischen den Hütten. Die Wildenbrucher Kinder trieben die Kühe und Schafe aus den Ställen auf die Wiesen jenseits des Bachs. Sie schlossen Wetten auf die gegeneinander kämpfenden Schafböcke ab.

Manchmal an den Abenden, wenn sie am Waldrand beieinander saßen, hauchten Maja oder Liese Norbert zu: „Erzähl von der schwarzen Dame. Was ist der Smeta passiert?“

Aber Norbert presste bloß die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Er versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das ihn durchfuhr.

Das Frühlingsopfer an die schwarze Dame der Grotte wurde vorbereitet. Bereits Tage vor dem Fest schwärmten die Kinder von Schmalzkuchen und süßem Dörrobst. Norbert stahl sich davon und versteckte sich in einer Scheune. Die Gefährten sollten seine Weinkrämpfe nicht mitbekommen. Er biss sich in die Faust, um nicht zu schreien.

Am Tag des Opferfests verkroch er sich auf Lutz Torstensohns Heuboden. Er hörte den Vater fluchen und seinen Namen rufen, aber er kam nicht heraus. Keine Macht der Welt würde ihn vor den Schlund der schwarzen Grotte bringen.

Eines Tages werd' ich ein Krieger wie Beowulf. Dann geh ich zur Grotte zurück und erschlage die schwarze Dame. Und dann werd' ich Smetas Knochen in der Flussaue begraben und niemand kann mich daran hindern!

Den ganzen Abend über, während die Wildenbrucher feierten, und noch über Nacht blieb Norbert auf dem Heuboden. Er wälzte sich im Heu umher und hielt sich die Ohren zu, aber Smetas Schreie gellten ihm doch in den Ohren. Erst früh am nächsten Morgen schlich er sich in die elterliche Wohnküche zurück. Doch die Prügel, die er erwartet hatte, blieben aus. Der Vater blickte ihn schweigend an. Lene und Mutter sahen ängstlich zwischen Norbert und dem Vater hin und her. Norbert nahm stumm den Wassereimer und beeilte sich, zur Tür zu kommen, aber Leika trat ihm in den Weg. Sie strich ihm Grashalme aus den Haaren.

„Guten Morgen, Bert.“

Norbert sah ihr in die Augen und wusste, dass sie verstand. Und er erkannte an ihrem Blick, dass sie mit Vater gesprochen hatte. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, musste schlucken und blickte zur Seite.

„Nun lauf schon!“

Er stolperte hinaus, um am Bach Wasser zu holen.

In bedrückender Stille versammelte sich die Hofgemeinschaft um den Frühstückstisch. Norbert kaute seine Gerstengrütze und blickte auf seinen Teller. Die Anspannung im Raum machte ihm Angst. Womöglich stand seine Bestrafung noch bevor.

Der Vater brach das Schweigen: „Übermorgen gehe ich nach Altenweil auf den Markt, Einkäufe machen.“

Es schien niemanden zu überraschen. Vater reiste sonst nur im Herbst zum Markt nach Altenweil. Norbert blickte sich verstohlen am Tisch um. Alle schienen etwas zu wissen, das ihm nicht gesagt wurde. Als der Vater ihn beim Namen rief, fuhr er zusammen. Der Ausdruck, mit dem der Vater ihn ansah, verwirrte ihn. Er kannte Vater wütend oder desinteressiert, aber nicht ernst.

„Norbert, du kommst mit. Wir gehen zum Kloster der Armen Brüder. Die sollen über dir beten.“

Der Bann war gebrochen. Alle redeten durcheinander. Mutter pries laut die Heilkraft der wundertätigen Ikonen der Armen Brüder. Lene holte zwei Schmalzkuchen aus ihrer Schürze hervor und schob sie Norbert hin.

„Die hab ich für dich aufgehoben.“

Norbert saß wie vom Donner gerührt. Er fragte sich, ob die wundertätigen Ikonen Gutes oder Böses bedeuteten. Eine Marktreise! Er war noch nie anderswo gewesen, als in Wildenbruch. Das Kloster machte ihm Angst. Aber schließlich riss er sich zusammen.

Ich will Krieger werden. Ich hab doch keine Angst vor Mönchen!

Er griff nach den Schmalzkuchen und stopfte sie in sich hinein.

„Danke, Lene.“

Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Nach dem Frühstück nahm Leika Norbert an der Hand und zog ihn hinters Haus. Sie blickte sich um. Niemand von der Hausgemeinschaft war zu sehen. Leika kniete sich hin, um mit Norbert auf gleicher Höhe zu sein. Sie schaute Norbert lange an. Er war überrascht, wie schön ihre Augen waren.

„Bis vorhin hab ich nicht gewusst, was er machen würde,“ flüsterte Leika.

Es war Norbert klar, dass sie den Vater meinte.

 

„Gestern Abend hat er geschworen, dass er dich totschlägt. Die halbe Nacht hab ich mit ihm gestritten.“

Leika blickte Norbert fest in die Augen. Ihr Blick verunsicherte ihn.

„Vor den Mönchen brauchst du dich nicht zu fürchten. Sie werden dir eine Ikone, ein Bild hinhalten und Gebete sprechen. Das hat gar nichts zu bedeuten. Dein Vater und die Familie glauben, du hättest eine Krankheit, aber es ist keine Krankheit, Norbert. “ Sie sagte es sehr ernst. „Es ist eine Gabe. Mir kannst du es glauben.“

Norbert schämte sich ein bisschen unter Leikas Blick.

„Leika,“ versuchte er abzulenken, „warum darfst du Vater solche Sachen sagen? Warum prügelt er dich nicht?“

Ein warmes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich bin Heilerin, Norbert. Was sie oben im Reich eine weise Frau nennen.“

Verwundert starrte er sie an. „Kannst du hexen?“

Um Leikas Mundwinkel zuckte es. „Nicht so viel, wie ich wünschte... Aber jetzt Schluss mit dem dummen Geplapper!“

„Leika, ich glaub, es ist doch eine Krankheit. Ich hab immer dieses Zittern. Und Nachts träum' ich ganz böse.“

„Ich mache dir heute Abend einen Johanniskrauttee. Das wird dir helfen. Aber mit deiner Gabe hat das nichts zu tun.“

***

An diesem und dem folgenden Tag unternahmen die Wildenbrucher Kinder keinen Ausflug. Sie steckten die Köpfe zusammen und redeten vom Altenweiler Markt und dem Kloster mit seinen wundertätigen Ikonen. Keins der Kinder war je aus Wildenbruch hinausgekommen. In umso schillernderen Farben malten sie sich die fremde, wunderbare Welt jenseits des Gornwalds aus. Es kam Norbert vor, als reise er in ein Märchenland, wo den Menschen die gebratenen Tauben in den Mund flogen.

In der Nacht vor dem Aufbruch lag Norbert mit klopfendem Herzen auf seinem Lager. Mit der ersten Morgendämmerung sprang er auf. Sein Kopf war benommen von der durchwachten Nacht. Er schlich sich zur Herdstelle, wo Margit und Leika das Feuer schürten. Fröstelnd kauerte er sich ans Feuer und hoffte, dass ihm warm würde. Die Mutter kam mit einem Topf Gerstenschrot aus der Speisekammer. Sie fuhr Norbert rau durchs Haar. Dann zog sie ihn zu sich heran.

„Ich gebe dir eine bessere Hose und eine andere Schlupfjacke aus der Truhe. Die Altenweiler brauchen nicht zu glauben, wir wären Bettler.“

Betroffen blickte Norbert auf seine dreckstarrende Wolljacke und die zerrissenen Hosen. Alle wildenbrucher Jungs sahen so aus. Es wäre Norbert nicht in den Sinn gekommen, dass an seinen Sachen etwas auszusetzen sein könnte.

Beim Frühstück legte die Mutter ihm ein Extrastück Speck in die Grützeschale. Der Vater betrachtete kauend seinen Sohn über den Tisch hinweg. Norbert trug die sauberen Sachen, die Mutter ihm herausgegeben hatte. Hans Lederer nickte anerkennend. Nach dem Frühstück nahm Leika Norbert beiseite. Vater und Onkel Beorn gingen vors Haus, um dem Esel den Reisepacken aufzuladen. Leika drückte Norbert ein winziges Stoffbündel in die Hand. Etwas Hartes war darin. Norbert lugte hinein und starrte mit stockendem Atem auf zwei kleine Kupfermünzen.

„Das sind zwei Viertelkreuzer. Kauf dir ein paar Rosinenbrötchen auf dem Markt,“ flüsterte Leika. „Dein Vater braucht nichts davon zu wissen.“

„Danke, Leika!“

Norbert steckte sich die eingewickelten Münzen unters Hemd. Eine Gabe hatte offenbar auch unerwartet gute Seiten.

Der schwarzen Dämonendame werd ich's noch zeigen!

Vor dem Haus ließ Norbert Umarmungen der ganzen Hofgemeinschaft über sich ergehen. Mutter klammerte ihn fest an sich.

„Komm gesund wieder, Bert, mein Junge!“

Lene legte ihm eines der kleinen Holzpüppchen in die Hand, die Onkel Beorn ihr vorletzten Herbst geschnitzt hatte. Verdutzt sah Norbert sie an.

„Das ist Petra. Sie soll auf dich aufpassen, solange wir nicht beieinander sind. Damit du nichts anstellst. Und damit du dir auch die Nase abwischst, wenn dir die Rotze rausläuft. Und wenn du zurück bist, kann sie mir alles von der Marktreise erzählen.“

Hans Lederer sah ungeduldig zu seinem Sohn hinüber. Er hielt den Esel am Halfterstrick. In der Rechten trug er einen Wanderstecken. Mit dem wilden roten Haar und dem Vollbart von derselben Farbe um den entschlossenen Mund, der gefurchten, wettergebräunten Stirn und dem festen Blick seiner grauen Augen war Norberts Vater ein beeindruckender Mann, fand Norbert. Der Vater trug den dicken Reisefilzumhang mit der Metallfibel. Unter die Leinentücher um seine Füße hatte er Ledersohlen gebunden. Die Riemen um die Fußleinen waren bis zu den Knien um die Hosenbeine geschnürt. An Vaters Gürtel hing ein langer Dolch.

Norbert steckte das Püppchen in die Hosentasche. Lene überrumpelte ihn mit einem Kuss, bevor er zurückzucken konnte.

„Also Tschüss,“ flüsterte er ihr zu.

Dann rannte er dem Vater hinterher, der bereits den Weg zwischen den Hütten zum Dorfausgang eingeschlagen hatte.

2.

Der Vater schritt zügig voran, ohne sich nach Norbert umzusehen. Der Trampelpfad längs der Flussaue war feucht vom Frühnebel und Norbert musste aufpassen, dass er mit seinen nackten Füssen nicht ausrutschte, während er dem Packesel hinterhereilte. Morgendunst stieg vom sumpfigen Ufer auf. Erste Sonnenstrahlen brachen durch die Baumkronen. Norberts Herz klopfte wild.

Ich reise mit Vater auf den Markt!

Er konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen.

Als sie sich der Anhöhe des Elbendorfs näherten, verdichtete sich der Nebel. Die Nebelschwaden um die Ruinen im Erlengehölz waren düsterer als sonst, fand Norbert. Der Pfad führte mitten hinein in die Nebelbank. Graue Schwaden quollen von der Anhöhe herab. Norbert blieb wie angewurzelt stehen. Oben auf der Anhöhe standen Gestalten im Dunst. Reglos schauten sie auf den Pfad herab.

„Norbert!“ Vaters Stimme klang harsch durch den Nebel.

Norbert stolperte den Pfad entlang.

„Da...“ Die Stimme versagte ihm und er musste schlucken. „Da sind Elben, Vater! Sie haben uns gesehen!“

„Glotz nicht in die Gegend! Bleib dicht hinter mir!“

Norbert hastete dem Vater hinterher. Der Esel schnaubte. Er machte einen Versuch, am Vater vorbei voran zu traben. Seine Flanken zitterten. Norbert hielt den Blick fest auf den Pfad gesenkt. Ein heiserer Flötenton hauchte den beiden Reisenden nach.

***

Sobald sie die Flussaue hinter sich gelassen hatten, verschwand der Nebel. Der überwucherte Pfad wand sich an der steilen Uferböschung entlang. Oberhalb der Böschung stand dichter Buchenwald. In den Baumkronen spielte Sonnenlicht.

Norbert schauderte noch immer beim Gedanken an die Gestalten auf der Anhöhe.

Sie wissen, dass ich in ihrem Dorf gewesen bin. Sie wollten mich nicht gehen lassen. Sie wollen mich holen!

Norbert biss die Zähne zusammen. Er lief dem Vater nach, der mit dem Esel schon wieder weit voraus war. Schließlich wollte er Krieger werden! Hatte Beowulf etwa Angst gehabt vor Grendel, dem Ungeheuer? Vielleicht – aber er hatte sich dem Ungeheuer gestellt und es besiegt.

Ich lasse mich nicht einschüchtern - von der schwarzen Dame nicht und nicht von euch!

Gegen Mittag legte der Vater auf einem vom Sonnenlicht beschienenen Hügel oberhalb des Flussufers eine Rast ein. Norbert taten die Füße weh. Er streckte sich im warmen Gras aus. Vater öffnete das Gepäck. Er schnitt einen Streifen Wurst ab, riss ein Stück vom Brotlaib ab und gab Norbert beides zusammen mit dem Wasserschlauch. Überrascht nahm Norbert das Essen entgegen. Der Vater kam ihm unerwartet großzügig vor. In Wildenbruch hatte Norbert außer Schlägen selten etwas vom Vater bekommen. Von der warmen Filzdecke letzten Herbst abgesehen, korrigierte er sich.

Sie aßen schweigend. Vater blickte auf den Fluss hinab.

Kauend meinte er: „Für deine Heilung werde ich im Kloster eine Menge Geld bezahlen müssen. Ich will, dass du dich dort zusammenreißt. Komm ja nicht auf die Idee, den Mönchen Widerworte zu geben.“

Hans Lederer betrachtete seinen Sohn mit einem Blick, der Norbert nachdenklich vorkam. Er wusste nicht, ob er zurückblicken oder lieber zu Boden schauen sollte. Der Vater kam ihm verändert vor. Norbert konnte sich nicht erinnern, je so von ihm angeschaut worden zu sein. Dazumal hatte der Vater noch nie so viele Worte an seinen Sohn gerichtet.

„Ja.“ Norbert hoffte, dass es die richtige Antwort war.

Noch immer schaute der Vater ihn an.

„In Wildenbruch,“ erklärte er, als müsse er sich die Worte mühsam zusammensuchen, „leben wir an der Grenze – im Urwald, wo vorher noch nie Menschen gelebt haben. Vieles ist dort gefährlicher, wilder als an den Orten, wo Menschen schon lange wohnen. Wir müssen uns in Acht nehmen. Wir müssen die Grenze respektieren, sonst ist es um uns geschehen, verstehst du?“

Hans Lederer suchte sichtlich nach Formulierungen. Norbert starrte seinen Vater mit offenem Mund an. Also wusste er...?

„Die Smeta Weidner...“ Es kam Hans Lederer nur zögernd über die Lippen, „die Weidnerin hat die Grenze nicht respektiert. Sie ist hinübergegangen...“

Norbert musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien. Das Zittern überkam ihn wieder.

Vaters Blick war unerbittlich. „Verstehst du, Norbert?“

Norbert blickte zu Boden.

„Dein Gerede über Geister muss aufhören, hörst du?“ forderte Hans Lederer.

„Ja,“ hauchte Norbert.

Und ich hör doch nicht damit auf!

***

Bis zum Abend marschierten die Reisenden flussaufwärts. Immer höher erhoben sich die bewaldeten Hügel zu den Seiten des Flusses. Norbert hatte Seitenstiche vom schnellen Gehen. Wieder und wieder rutschten seine nackten Füße auf Lehm und feuchtem Gras aus. Die Freude über die Marktreise war verflogen. Seit der Mittagsrast war eine dumpfe Empörung über ihn gekommen, seit ihm klar geworden war, dass Vater wusste, was mit Smeta geschehen war. Vielleicht, bestimmt sogar hatte Vater es vorausgesehen – und er hatte nichts gesagt! Möglicherweise wusste er auch von Großmutter – und hatte ihn trotzdem geschlagen... oder gerade deswegen! Leika hatte behauptet, die anderen verstünden nichts. Doch eine viel grausamere Wahrheit dämmerte Norbert herauf.

Bei Sonnenuntergang erstiegen sie einen Hang und suchten sich zwischen den Wurzeln alter Buchen einen Schlafplatz. Nach dem Abendimbiss, den sie schweigend zu sich nahmen, gab Vater Norbert eine Wolldecke heraus. Norbert schmerzten sämtliche Körperpartien nach dem Tagesmarsch. Er streckte sich aus, wo er war und wollte sich in die Decke rollen.

„Nicht dort neben dem Gepäck – komm hier herüber auf meine andere Seite!“ grollte der Vater.

Es war der Tonfall, den Norbert gewöhnt war, nicht der jenes ernsten, nach Worten suchenden Mannes, der ihm während der Mittagsrast so fremd vorgekommen war.

„Nicht, dass du dich nachts ans Gepäck schleichst und heimlich am Proviant zu schaffen machst!“

Auf so blödsinnige Ideen konnten nur Erwachsene kommen.

***

So müde er war, fand Norbert doch keinen Schlaf. Er rutschte in der Wolldecke auf dem unebenen Boden umher und versuchte, eine halbwegs bequeme Schlafposition zu finden. Aber immer wieder drückte ihn eine Wurzel, ein Stein. Was Vater über Smeta gesagt hatte, ging ihm im Kopf herum: sie wäre über die Grenze gegangen. Die Schreie aus der Grotte. Ihre blutig aufgerissenen Arme und Hände. Leise stöhnend wälzte Norbert sich umher. Vater schnarchte laut. Norbert tastete in der Hosentasche nach Lenes Holzpüppchen und umschloss das glatte Holz mit den Fingern. Er brachte das Figürchen dicht vor sein Gesicht.

Du musst mir helfen, Petra. Ich darf keine Angst bekommen, weil ich doch ein Held werden will – wie Beowulf. Aber ich hab immerzu so schreckliche Angst!

Das Püppchen lachte nicht. Es blickte auch nicht höhnisch oder verächtlich. Norbert wusste, dass Petra ihn verstand.

Ein paar Schritt abseits döste der Esel mit hängendem Kopf im Stehen. Jetzt hob er den Kopf und gab ein kurzes Knurren von sich. Norbert blickte durch die Baumkronen hinauf in den Nachthimmel. Die Mondsichel war von einem trüben Hof umgeben. Wald und Hügel langen in fahlem Dämmerlicht. An Vaters Schulter glänzte die Silberfibel, die den Umhang zusammenschloss, hell im Mondlicht. Aber drüben, beim Gepäck!

 

Mit einem Ruck fuhr Norbert hoch. Ein fahlblauer Schimmer umgab die Gepäcktaschen. Norbert kroch ein Schauder über den Rücken, wie von tastenden Fingern. Die Nackenhaare sträubten sich ihm. Das blaue Glühen schien aus den Gepäcktaschen hervorzukriechen. Der Esel zerrte knurrend an seiner Leine. Vaters Fibel strahlte hell, obwohl kaum Mondlicht schien.

Vorsichtig wickelte Norbert sich aus der Decke. Er schob das Püppchen zurück in die Hosentasche. Vater schnarchte. Fröstelnd stand Norbert auf.

Ich hab keine Angst, erklärte er Petra.

Er biss die Zähne fest zusammen, damit sie nicht aufeinander schlugen. Norbert zitterte am ganzen Leib. Aber er schlich sich um Vater herum zu den Gepäcktaschen. Es war, als würde die Nachtluft kälter. Aus einer der Taschen glühte es fahlblau heraus.

Wenn Vater wüsste, was er in seinem Gepäck hat!

Norberts Wissbegier siegte über seine Angst, über die unterschwellige Ahnung drohender Gefahr. Petra passte auf ihn auf. Zumindest redete er es sich ein. Mit klammen Fingern öffnete er die Tasche.

Kaltes blaues Licht blendete ihn. Er hatte das Gefühl, fortgerissen zu werden, weit weg von aller Wärme, allem Leben. Reglos starrte er in dieses unirdische Licht, er kannte es, er hatte es schon einmal gesehen, aber wo? Es war wie ein Sog, der ihn mit sich fortriss, in eine fremde, andere Welt, deren Schemen nebelhaft in der Ferne auftauchten. Noch konnte Norbert nichts erkennen. Und dann wusste er, woher er dieses Licht kannte: Die Elbensiedlung! Die Frau mit dem blutigen Säugling! Der Bogenschütze! Der Pfeil zielte ihm mitten ins Gesicht. Irgendwo kreischte eine Flöte.

„Norbert!“

Vaters Hand packte ihn an der Schulter, riss ihn zurück. Norbert blinzelte, noch halb geblendet. Plötzlich bekam er wieder Luft.

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht an die Gepäcktaschen gehen! Willst du wohl verdammt nochmal auf mich hören!“

Etwas gleißte strahlend hell an Vaters Schulter.

„Aber da ist...“ Weiter kam Norbert nicht.

Die Ohrfeige schlug ihn ins Gras. Der grelle Schmerz verjagte Norberts Benommenheit. Er presste die Hand gegen sein Ohr, in dem die Schmerzen tobten, biss die Zähne zusammen, um nicht zu schluchzen. Durch Tränenschleier bekam er mit, wie der Vater die Gepäcktasche zu zurrte und sie hinter die anderen Gepäckstücke warf.

„Unter deine Decke!“ schleuderte er seinem Sohn entgegen. „Dass du dich ja nicht mehr rührst heute Nacht!“

***

Norbert lag in die Decke gewickelt und starrte durch das Baumgeäst in den Nachthimmel, lauschte den Schmerzen in seinem Ohr, wie sie langsam abklangen.

Vater weiß, was in der Tasche ist! Er weiß es, aber ich sollte es nicht mitbekommen! Warum nimmt er das mit? Was ist das?

Seine Gedanken gingen im Kreis. Er konnte an nichts anderes mehr denken.

In der Morgendämmerung stand der Vater auf und entfachte Feuer mit einem Feuereisen. Eine Nebelbank verbarg den Fluss. Aus den Hügeln rings umher stieg Dunst auf. Norbert schälte sich aus der Decke. Feuchte Kälte kroch durch seine Kleidung. Er machte kreisende Bewegungen mit dem Unterkiefer, um festzustellen, ob das Ohr noch schmerzte und verzog das Gesicht. Die Schmerzen waren noch da. Norbert ging Holz zusammenklauben und brachte es ans Feuer. Vater blies die Glut an. Dann hielt er Norbert einen kleinen Kessel entgegen.

„Wir brauchen Wasser für den Tee.“

Wortlos nahm Norbert den Kessel und stieg zum Fluss hinab. Er rang mit sich, während er den Hügel wieder hochstieg.

Ich will ein Held werden. Ich fürchte mich nicht vor dem Vater! Und wenn er tobt, ich sag‘s doch!

Trotzig hielt er dem Vater den Kessel hin. Hans Lederer betrachtete seinen Sohn, während er Teekräuter in den Kessel gab. Schweigend holte er Brot und Käse aus dem Gepäck und gab Norbert von beidem. Mit zusammengekniffenem Mund nahm Norbert das Frühstück entgegen. Der Vater rieb sich die Hände über dem Feuer, dann fuhr er mit den schwieligen Händen über sein Gesicht und schaute in den Frühnebel hinaus.

„Nun frag schon!“ knurrte er.

Norbert hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

Er schluckte einen Bissen hinunter, dann stieß er die Frage hervor: „Was ist in der Tasche drin?“

Der Vater sah seinem Sohn in die Augen. „Elbenholz!“

Norbert hustete den Bissen wieder hervor, den er hinunterschlucken wollte. Entgeistert starrte er seinen Vater an.

„Aus der... von dem...,“ Er bekam keinen Satz heraus.

„Aus dem Elbendorf. In den Ruinen dort liegen Mengen morscher Balken. In Altenweil gibt es einen verrückten Gelehrten, der zahlt bares Silber für die vergammelten Holzstücke.“

„Aber wie... du...“ Norbert konnte nur Wortfetzen schreien.

Vater tastete nach der Mantelfibel.

Langsam seine Worte suchend erklärte er: „Woher dachtest du, dass unser Geld kommt? Das Geld, mit dem ich in Altenweil einkaufe, was wir brauchen? Was haben wir schon in Wildenbruch, womit man handeln könnte? Lutz Torstensohn stellt Wildfallen auf und bringt Felle auf den Markt, die Verena Methorst sammelt wilden Honig, aber was ist das schon? In den Augen der Menschen in der Zivilisation sind wir Bettler!“

Norberts Kopf trieselte. Er hatte sich nie Gedanken darum gemacht, womit Vater bei seinen Marktreisen handelte. Es war ihm immer selbstverständlich vorgekommen, dass der Vater im Herbst zum Markt reiste und eine Woche später mit dem schwer beladenen Esel zurückkam. Die Elbenfrau mit dem blutigen Säugling im Arm stand ihm vor Augen. Er quetschte sein Brot in der Faust zusammen.

„Das Dorf gehört den Elben – es ist ihr Holz.“ Er konnte es nur flüstern.

Hans Lederer warf seinem Sohn einen mahnenden Blick zu. „Ich habe dir gesagt, dass wir im Gornwald an der Grenze leben. Wir Siedler müssen zusammenhalten. Wir ringen der Wildnis das Land ab, verstehst du? Wir sind es, die das Land urbar machen für die Menschen. Es ist gefährlich. Wo wir die Toten nicht vertreiben können, besänftigen wir sie, halten sie jenseits der Grenze. Es ist unser Wald!

Obwohl sein Herz heftig schlug aus Furcht vor Prügel, sah Norbert den Vater trotzig an. „Es ist böse, was der Smeta passiert ist! Und es ist böse, was den Elben passiert ist! Ihr habt sie nicht besänftigt! Die Soldaten haben die Elben erschlagen, alle, sogar Kinder und Säuglinge, und du...“ Er schrie es hinaus: „Du bestiehlst sie! Es ist ihr Holz!“

„Die Elben sind tot. Sie werden vergehen, Norbert, wie die Großmutter vergangen ist. Jetzt sind wir es, die im Gornwald leben.“

Norbert starrte auf den Fluss hinunter, von dem die Frühnebel sich gehoben hatten.

Sein Herz raste, aber dennoch sagte er es laut: „Ich werde ein Held, wie Beowulf. Dann räche ich all das Unrecht!“

Hans Lederer schlug seinen Sohn nicht. Er goss eine Blechtasse mit heißem Tee voll und reichte sie ihm.

„Du bist mutig, Norbert. Aber Beowulf war nicht bloß mutig, sondern auch klug. Deshalb kam er Grendel auf die Schliche. Ich rate dir: werde zuallererst klug. In Altenweil bekommst du die armen Teufel noch zu sehen, die zuerst mutig waren und danach erst klug wurden.“

Norbert umschloss die heiße Blechtasse mit beiden Händen. Er hatte keine Ahnung, wovon Vater sprach. Eine dumpfe, trotzige Wut gärte in ihm.

***

Bis zum Mittag wanderten sie flussaufwärts, dem überwucherten Trampelpfad durch die Hügel folgend. Norbert las einen Ast vom Boden auf, der halbwegs als Wanderstecken taugte. Sein Körper schmerzte von der ungewohnten Anstrengung und er hatte Mühe, mit dem Vater Schritt zu halten. Während dem Laufen kam er nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, warum der Vater so verändert war: Er sprach mit Norbert, er erklärte ihm Dinge. Schreckliche Dinge, fand Norbert, aber es war allemal besser als Vaters wütendes Schweigen und die stummen Prügel in Wildenbruch.

Sie rasteten in einem sonnenbeschienenen, von Buchenschösslingen und jungen Bäumen bestandenen Windbruch. Als sie von der Mittagsrast aufstanden, betrachtete Vater Norberts behelfsmäßigen Wanderstock, zückte sein Messer und ging zu einer nahen Gruppe junger Buchen. Mit wenigen Schnitten hatte er einen stabilen Stecken zurecht gearbeitet und reichte Norbert den Stab.