Welt als Körper

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2.2 Unsichtbarkeit und Paranoia

Den im vorhergehenden Abschnitt genannten Blickperspektiven ist gemeinsam, dass sie eine SichtbarkeitSichtbarkeit (von Ganzheit) generieren, die natürlich nicht gegeben ist. Nun ist zusätzlich auf einige weitere Ansätze einzugehen, die sich der Thematik der Sichtbarkeit von GanzheitGanzheit aus anderen Richtungen annähern. Fredric Jameson geht explizit von einer ‚Unzugänglichkeit‘ von stark raumgreifenden Zusammenhängen aus, ohne diese über die Metaphorik des Sehens (oder Nicht-Sehens) zu konzipieren. Zweitens soll – unter Bezug auf Emily Apter – auf eine ‚hypersensible Allsichtigkeit‘ im Kontrast zur These der ‚Unsichtbarkeit‘ des Ganzen hingewiesen werden.

Jameson führt in Cognitive Mapping aus:

[G]lobal realities are inaccessible to any individual subject or consciousness– […] –which is to say that those fundamental realities are somehow ultimately unrepresentable or, to use the Althusserian phrase, are something like an absent cause, one that can never emerge into the presence of perception. Yet this absent cause can find figures through which to express itself in distorted and symbolic ways: indeed, one of our basic tasks as critics of literature is to track down and make conceptually available the ultimate realities and experiences designated by those figures, which the reading mind inevitably tends to reify and to read as primary contents in their own right. (350; Hervorhebung T.E.)

Die Abwesenheit der Metaphorik des Sehens ist – gerade im Kontrast zu den bisher untersuchten Ansätzen – auffallend. Jameson spricht betont neutral von einer „unzugänglichen Realität“, von deren Nicht-Repräsentierbarkeit, und einer sehr allgemein gehaltenen „Wahrnehmung“. Laut Jameson steht die individuelle Erfahrung und Wahrnehmung in einem Verhältnis völliger Disjunktion zu den „global realities“, der maßgeblichen sozialen Totalität. Die von Jameson beschriebenen Zusammenhänge (bezogen auf die aktuelle, spät-kapitalistische Stufe der GlobalisierungGlobalisierung) sind nicht unmittelbar wahrnehmbar oder evident, und bedürfen daher erheblicher – literaturwissenschaftlicher – Arbeit, um sie erkenn- und wahrnehmbar werden zu lassen. Die von ihm so genannte ‚konzeptuelle Arbeit‘ kann, so Jameson, „global realities“ verfügbar machen. Auch wenn Jameson hier eine Analyse der Gegenwart bespricht, ist die vorliegende Studie zu einem gewissen Grad diesem Ansatz beizuordnen, insofern hier durch ‚konzeptuelle Arbeit‘ die Verschränkungen von FdG mit Körpern als „figures“ gelesen werden, die stark raumgreifende Zusammenhänge wahrnehmbar werden lassen.

Auch auf David McNallys Monsters of the Market kann hier verwiesen werden, in dem er, mit Bezug auf Marx, von einer – diesmal explizit so genannten – ‚Unsichtbarkeit‘ des „capitalist market system“ (5) ausgeht. Er beendet dabei seine literarischen Analysen, die bis zu Shellys und Shakespeares Texten zurückgehen, mit einer Untersuchung des Verhältnisses zeitgenössischer afrikanischer Zombieliteratur zur ‚GlobalisierungGlobalisierung‘. Seiner Hauptthese zufolge lassen MonsterMonster in der Literatur das kapitalistische System sichtbar werden.1 Mittel zur Sichtbarmachung eines stark raumgreifenden Zusammenhangs – des besagten capitalist market systems – sind demnach literarisch auf spezifische Weise inszenierte Körper (vgl. hierzu genauer III.4.4). Hier ist nur festzuhalten, dass auch McNally, ganz wie Jameson, von einer Unverfügbarkeit des Ganzen ausgeht, wobei beide Autoren eine marxistische Perspektive verbindet, auf die die These von der Unsichtbarkeit kapitalistischer Zusammenhänge zurückzuführen ist (vgl. McNally 5–9).

Doch kann der Prozess der ‚konzeptionellen Verfügbarmachung globaler Realitäten‘ auch völlig anderes eingeschätzt werden. So schlagen Apters Ausführungen zu der von ihr so genannten ‚oneworldedness‘ vor, einen Extrempunkt des Nachdenkens über die GanzheitGanzheit als ‚ParanoiaParanoia (Oneworldedness)‘ zu beschreiben. Paranoia ist damit die Steigerung von Vorstellungen, wie sie Netzwerktheorien oder der Slogan „everything is connected“ transportieren, hin zu einer Vorstellung vom Ganzen, in der jedes größere politische Ereignis und jeder relevante Handlungsträger mit allen anderen Ereignissen und Handlungsträgern verknüpft werden kann. Interessant ist dabei vor allem Apters Beobachtung, dass die Größe einer solchen ‚Welt‘ der oneworldedness gleichzeitig sehr groß und sehr klein ist, insofern sie alle Ereignisse und Handlungsträger enthält und verknüpft, und die gesamte Welt auf einen Erklärungszusammenhang reduziert (namentlich den vom paranoiden Denken gewählten):

In this picture, as the world expands to include everybody, it paradoxically shrinks into a claustrophobic all-inclusiveness. Paranoid oneworldedness obeys a basic law of entropy that posits that increased disorder diminishes available energy within the confines of a closed system. (370)

Die Darstellung oder Konzeption von GanzheitGanzheit setzt notwendig voraus, dass ein großer Zusammenhang auf eine (wörtlich und übertragen verstanden) überschaubare Größe reduziert wird (s.o. bei Arendt). Steigert sich diese Reduktion ‚zu weit‘ und gerät ‚zu nah‘ an eine „claustrophobic all-inclusiveness“, dann läßt sich mit Apter von paranoider „oneworldedness“ sprechen. Die Grenzen verlaufen hier nicht trennscharf, denn die Beschreibung als ‚zu weit‘ bezieht sich nicht auf eine sichere Skala. So gesehen laufen alle Vor- und/oder Darstellungen von Ganzheit Gefahr, paranoid zu werden, bzw. sind es alle zu einem gewissen Grade notwendigerweise. Am anderen Ende des Spektrums steht jedoch eine Perspektive auf die Ganzheit, in der sich diese als chaotische, unmöglich zu überschauende Menge an Informationen und Ereignissen präsentiert, die unmöglich zu deuten ist, und die – mit Jameson gesprochen – gänzlich absent bleibt. Anders gesagt: ‚Konzeptuelle Arbeit‘ mit dem Anspruch größere Zusammenhänge zu fassen, kann immer in paranoide Erklärungsmuster verfallen. Die Alternative jedoch erscheint mindestens ebenso unattraktiv: mit einer unbegreiflichen Menge an Ereignissen und Informationen konfrontiert zu sein, die nicht als ‚Welt‘ gefasst (oder: zu einer solchen reduziert, geordnet) und damit nicht verständlich werden kann.

Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint auch Wallersteins Ansatz als potenziell paranoid – und nicht umsonst geht Apter am Beginn ihres Textes von Wallersteins Welt-SystemWelt-System aus: „Wallerstein’s central idea of the world as one but unequal is easily extended to a paradigm of planetary paranoia marked by cyber-surveillance, cartographies of cartels, and webs of international relationality within and outside the nation, and on the edges of legality.“ (365) Apter will damit jedoch nicht gesagt haben, Wallersteins Beschreibungen seien tatsächlich paranoid:

ParanoiaParanoia (Oneworldedness), I am suggesting, underwrites a one-worldist paradigm that differs from transnational or global ascriptions of world-systems theory in fully realizing the psychotic dimension of planetarity. (370)

Das Risiko der ParanoiaParanoia (Oneworldedness) anheimzufallen ist unumgänglich, doch gleichzeitig ist Reduktion der unvermeidbare Grundmodus des Sprechens über GanzheitGanzheit, vorausgesetzt es will „global realities“ (Jameson, „Mapping“ 350) zur Darstellung bringen.

2.3 ‚Welt‘ und Literatur

Wie ist die Literatur in das Problemfeld der Darstellung von GanzheitGanzheit einzuordnen? Aus der hiesigen Perspektive ist auf die weitverbreitete Vorstellung einzugehen, dass Literatur fiktive Welten erzeugt, bzw. auf den Gemeinplatz, literarische Texte erzeugten/seien ‚Welten im Kleinen‘. Christian Moser und Linda Simonis äußern sich wie folgt zum Verhältnis zwischen ‚Welt‘ und Literatur:

Indem Literatur fiktive Welten entwirft, verfehlt sie nicht etwa ihren Weltbezug, sie stellt ihn allererst her. Die Bedeutung, die Literatur für Globalisierungsprozesse gewinnen kann, beruht gerade auf ihrer Fähigkeit, fiktive Welten zu produzieren. Wenn GlobalisierungGlobalisierung ein Bewusstsein von der EinheitEinheit der Welt beinhaltet, dann ist sie auf die Existenz von Bildern und Narrativen angewiesen, die diese Einheit vorstellig machen. Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich – es bedarf imaginärer (literarischer und künstlerischer) Weltentwürfe, um diese zu veranschaulichen. (12)

Einerseits entsprechen diese Darstellungen zu weiten Teilen dem von Jameson als ‚konzeptueller Arbeit‘ gefassten Vorgang, insofern Moser und Simonis „Bildern und Narrativen“, die sich in der Literatur finden, die Funktion zuschreiben, die „EinheitEinheit vorstellig [zu] machen“. Der Fokus auf dem Problem der Sichtbarmachung und Veranschaulichung, das hier genannt wird, lässt sich ebenfalls in die bisherigen Ausführungen eingliedern, insofern mehrfach beschrieben wurde, dass das „Ganze der Welt […] der Wahrnehmung nicht zugänglich“ ist.

Andererseits illustriert die zitierte Passage ein Verständnis der Relation zwischen Literatur und ‚Welt‘, von dem ich mich absetzen möchte. Denn im Passus werden zwei grundverschiedene Bedeutungen der FdG ‚Welt‘ gleichgesetzt: ‚Welt‘ als Wort zur Beschreibung der ‚sozialen Realität‘, wie „Globalisierungsprozesse“ sie hervorbringen einer-, und ‚Welt(en)‘ als Wort zur Benennung des von Texten hervorgebrachten ‚abgeschlossenen Ganzen‘ andererseits (dessen Status, wie zu zeigen ist, alles andere als unmittelbar evident ist; vgl. Hutchinson 174–177; Hayot 44–47). Durch das Gleichsetzen dieser beiden Bedeutungen wird die Relevanz von Literatur für „Globalisierungsprozesse“ postuliert: Insofern Literatur selbst ‚Welten‘ generiere, könne sie gar nicht anders, als ‚welthaltig‘ zu sein. Die vermeintliche Evidenz der Tautologie dieser Behauptung verdeckt dabei, dass das Verhältnis zwischen fiktiven ‚Welt(en)‘ und ‚unserer Welt‘ nicht schlicht auf das doppelte Auftauchen des Wortes ‚Welt‘ reduziert werden kann. Denn, dass literarische Texte eine Welt, oder Welten, generieren, sagt noch nichts über das Verhältnis dieser Einzelwelten zu der Welt (im Sinn der ‚GanzheitGanzheit der sozialen Realität‘) aus. Auch wenn sich ein solcher Zusammenhang zwischen literarischen Welten und der ‚Welt‘ natürlich untersuchen lässt (und von der Literaturwissenschaft weiter untersucht werden sollte), so wird er hier, unzulässig, mittels einer nur scheinbar stimmigen Entsprechung – ‚Welt‘ hier und ‚Welt‘ da – gesetzt.

 

Stattdessen müsste man genauer die Frage stellen, wie Literatur fiktive Welten generiert – denn diese Annahme wird allzu leicht als Gemeinplatz hingenommen (vgl. Pavel 43–72). Zunächst wäre dazu die „tension between world as whole world and world as self-contained unity“ (Hayot 45) zu adressieren. Hayot führt außerdem aus:

Literary critics have usually, however, focused on the artwork’s world-content, not world-form, trusting the general concept of aesthetic or generic form to address the work’s relation to worldedness. This pattern of thought means that the world-forming quality of the work, though often sensed or felt, has rarely been directly looked at. Novels, we all know, have certain kinds of worlds. But what kinds? (25)

So wäre also weiter zwischen ‚Welt-Form‘ und ‚Welt-Haltigkeit‘ zu unterscheiden. Erst nachdem man dieses Verhältnis geklärt hat, ließe sich die anschließende Frage stellen, wie sich das literarische Generieren von Welten zu der Welt verhält. Fraglich ist jedoch ob Hayot, obwohl er das Problem immerhin sehr akkurat benennt, eine eindeutig bessere Konzeption vorzuweisen hat.1 So führt er aus: „Aesthetic worldedness is the form of the relation a work establishes between the world inside and the world outside the work. The history of aesthetic worldedness is thus always, simultaneously, a history of the idea of the world as such“ (45). In Abgrenzung zu Moser und Simonis lässt sich – mit Bezug auf Hayot – festhalten, dass sich die Frage nach dem Verhältnis von Literatur zu der Welt nicht auf dessen ‚Entwerfen von fiktiven Welten‘ (s.o.) reduzieren lässt, zumindest nicht ohne den Zusammenhang zwischen der Welt einerseits und fiktiven Welten andererseits genauer darzulegen.2 Die intuitive Einschätzung, das Verhältnis gestalte sich in Form einer Synekdoche – die ‚Welt‘ eines Romans also sei eine ‚Welt im KleinenWelt im Kleinen (Synekdoche)‘ – ist also mit einiger Vorsicht zu genießen, denn sie fußt auf einer Tautologie, und übergeht mehr Fragen als sie beantwortet. Steven Hutchinsons Ausführungen zum Verhältnis zwischen ‚Welt‘ und Literatur zeigen, wie schwierig es ist, ‚Welt‘ im Sinne eines überschaubaren, kleineren Ganzen klar zu definieren:

In its most elementary use, “world” evokes an identifiably complex, autonomous community or society of beings with its own culture and economy, its own patterns of behavior and interaction and modus vivendi, spread out in a more or less extensive spatial domain. To conceive of the world or a world necessarily involves thinking in terms of territory, time, nature, life, and sociocultural order and infusing these with specific characteristics and principles. The notion of “world,” then, comprehends any isolable environment in which culture, society, economy, politics, and history–or a plurality of these–are thought to be enacted. This notion need not imply human inhabitants since there maybe worlds of gods, or dogs for that matter, or of any other real or imaginary species, as long as these are anthropomorphized to the extent that they are capable of at least the rudiments of culture. Nor need it imply any ontological grounding: a world lacking such grounding is a utopia. Since no text is cast in a total void, it could be argued that any text whatsoever somehow conveys some sense of “world,” however fragmentary or diffuse this might be, insofar as it reveals perspective and value while opening up and characterizing an illusory ambient space. (Hutchinson 174f.)

Die äußerst weite Definition von ‚Welt‘ als „any isolable environment in which culture, society, economy, politics, and history–or a plurality of these–are thought to be enacted“ illustriert, wie schwer das Verhältnis zwischen der Welt und den Welten in Texten zu bestimmen ist. Und auch die Formulierung „it could be argued that any text whatsoever somehow conveys some sense of ‘world,’ however fragmentary or diffuse this might be“ legt offen, auf welch unsicherem Fundament (oder: Allgemeinplatz) die angenommene Beziehung zwischen der Welt einerseits und Welten in Texten andererseits fußt.

Abhilfe schafft hier die Arbeit von Edward Said, der in The World, the Text, and the Critic darauf aufmerksam macht, dass es in der Literaturwissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Trennung zwischen „der Welt“ („the world“, mit bestimmtem Artikel) und dem Text kommt.

American literary theory of the late seventies had retreated into the labyrinth of “textuality,” dragging along with it the most recent apostles of European revolutionary textuality–Derrida and Foucault–whose trans-Atlantic canonization and domestication they themselves seemed sadly enough to be encouraging. It is not too much to say that American and European literary theory now explicitly accepts the principle of noninterference, and that its peculiar mode of appropriating its subject matter (to use Althusser’s formula) is not to appropriate anything that is worldly, circumstantial, or socially contaminated. “Textuality” is the somewhat mystical and disinfected subject matter of literary theory. (3)

Dieser Trend zur ‚Textualität‘ und deren Analyse als ausschließlicher, d.h. von „der Welt“ nicht „kontaminierter“ Gegenstand, wird von Said scharf kritisiert. Weiter erläutert Said sein Verständnis von ‚Welt‘ ausdrücklich, welches sich durch eine Ersetzung dieser durch ‚Realität‘ und/oder ‚Geschichte‘,3 wie er selbst vorschlägt, annäherungsweise beschreiben lässt. Außerdem versteht er hierbei den jeweiligen Text als Ergebnis eines eigenen Produktionsprozesses, und/oder als Reaktion auf einen spezifischen historischen Kontext. Von der Fähigkeit ‚Welten zu erzeugen‘ spricht er nicht, und vermeidet somit eine Vermischung dieser beiden Aspekte. Deutlich macht er dies durch eine simple Adjektivbildung: Texte sind – seiner Terminologie nach – „worldly“, womit er folgende Haltung beschrieben wissen will: „My position is that texts are worldly, to some degree they are events, and, even when they appear to deny it, they are nevertheless a part of the social world, human life, and of course the historical moments in which they are located and interpreted.“ (World 4) Das Adjektiv ‚worldly‘ steht somit ein für die Positionierung von Texten in ihrem historischen Kontext, und für ihre gesellschaftliche Rolle als (potenzielle) ‚Ereignisse‘. Said öffnet somit den Raum für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Texten und ihrem historischen Kontext.4

2.4 Körper und Ganzheit

Das allgemeine Darstellungspotenzial des Körpers präsentiert sich als nahezu grenzenlos:

The body is a model which can stand for any bounded system. Its boundaries can represent any boundaries which are threatened or precarious. The body is a complex structure. The functions of its different parts and their relation afford a source of symbols for other complex structures. (Douglas 142)1

Nicht nur erklärt Mary Douglas den Körper hier zur ‚Super-Trope‘, die für „jedes geschlossene System stehen kann“, er ist darüber hinaus ein Modell, dessen Bildpotenzial sich aus seiner „komplexen Struktur“ ableitet. Da der Körper komplex ist, so die Argumentation, lässt er sich zur Abbildung anderer komplexer Strukturen instrumentalisieren. In Der fiktive Staat beschreibt Koschorke (et al.) dieses Potenzial des Körpers – anhand des Beispiel des ‚Staatskörpers‘ – wie folgt:

Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei solchen rhetorischen Figuren, die ein Bild der Gesellschaft als GanzheitGanzheit entwerfen, wie es in erster Linie die Metapher des sozialen Körpers tut. Gehört zum Begriff der Ganzheit nämlich die Idee der Totalität und „Übersummativität“ des Gebildes (dass es, nach klassischer Definition, „mehr“ ist als die Summe seiner Teile), so ist doch gerade diese Totalität und Übersummativität, also gerade das ‚Ganze‘ der Ganzheit, sinnlich nicht wahrnehmbar: Weder das extensive Ganze der Gesellschaft noch die Gesellschaft als intensive Ganzheit sind mögliche Gegenstände einer empirischen Anschauung. Metaphern für das ‚Ganze‘ eines Gemeinwesens sind als Hypotyposen, Versinnlichungen eines Begriffs, die mit rhetorischen Mitteln vor Augen stellen, was anders nicht gesehen werden kann. (58)

Die Metapher des Staatskörpers bringt den Staat zur sichtbaren Darstellung, wobei dies überhaupt erst nötig ist, weil „das ‚Ganze‘ der GanzheitGanzheit […] sinnlich nicht wahrnehmbar“ ist. In ihren Teilen kann Ganzheit wahrnehmbar sein, aber nicht als Ganzheit natürlich (oder: „empirisch“) gesehen werden. Immanuel Kant, auf den Koschorke (et al.) sich hier bezieht,

unterscheidet zwischen schematischen Hypotyposen, ‚da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird‘, und symbolischen Hypotyposen, ‚da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken kann und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird‘. (Koschorke et al. 59)Hypotypose2

Die Notwendigkeit zur Verwendung von Hypotyposen/Versinnlichungen ist bei der Darstellung von Ganzheiten dabei in besonderem Maße gegeben, da

nach der klassischen philosophischen Erkenntnislehre Ganzheiten nur vermöge der Einbildungskraft apperzipiert werden können, weil sie nicht als solche empirisch ins Auge fallen, so muss auch die soziale Synthesis den Umweg über eine Erkenntnisform nehmen, die das, was man nicht sehen kann, in ein Bild kleidet. (Koschorke et al. 59)

Die Wahl des Körpers als Bild, das die unsichtbare GanzheitGanzheit sichtbar macht, ist keineswegs beliebig, da „der menschliche Körper selbst gleichsam das ursprüngliche Vorbild auch noch des abstraktesten logischen Begriffs der Ganzheit“ (Koschorke et al. 60) ist. Gemeint ist damit keine natürlich gegebene Verbindung zwischen Körper und Ganzheit, sondern eine lange Denktradition, die beide in Beziehung zueinander setzt.

Doch mit der Darstellung der GanzheitGanzheit des Staates als Körper wird nicht nur die Vorstellung von Ganzheit selbst, die der Körper traditionell transportiert, auf den Staat übertragen: die Darstellung vollzieht parallel weitere Übertragungen von Elementen und Eigenschaften, die, gewissermaßen als „Cargo“ (Mahr 162),3 auf den Staat transferiert werden:

[S]o leistet die Metapher des sozialen Körpers die Übertragung eben jener vom menschlichen Körper abgezogenen Bestimmungen auf den Staat. Dazu gehören, neben Totalität (Vollständigkeit), Übersummativität (Kontinuität) und funktionaler Differenzierung vor allem auch Gegebenheit (Natürlichkeit), Unteilbarkeit und Fraglosigkeit der ‚Systemgrenzen‘, deren Vorstellungen dem Begriff des Staats auf metaphorischem Wege „unterlegt“ werden. (Koschorke et al. 60)

Der Vorgang ist der einer metaphorischen Übertragung (oder: Unterlegung) mit mehrfachem Cargo („Totalität“, „Übersummativität“, „funktionale Differenzierung“, „Gegebenheit“, „Unteilbarkeit“, „Fraglosigkeit der ‚Systemgrenzen‘“), die sich weiter genauer als HypotyposeHypotypose/Versinnlichung klassifizieren lässt. Hier wird also nicht etwa Achill zum Löwen, sondern einem Gegenstand, dem in der Realität ‚keine Anschauung korrespondieren kann‘ (und d.h. vor allem keine, die ihn in seiner Gänze zeigen kann), wird überhaupt erst eine Anschauung gegeben, er wird „in ein Bild [ge]kleidet“ (s.o.).4

Einer deutlich größeren GanzheitGanzheit – der ‚Welt‘ bzw. dem ‚Kosmos‘ – und ihrem Verhältnis zum (bzw. ihrer Darstellung durch den) Körper nimmt sich die mittelalterliche Konzeption des MakrokosmosMikrokosmos/Makrokosmos/Mikrokosmos an. Die Beziehung zwischen Ganzheit und Körper gestaltet sich dabei wie folgt:

Der MikrokosmosMikrokosmos/Makrokosmos ist nicht nur ein kleiner Teil des Ganzen, nicht ein Element des Weltalls, sondern gleichsam seine verkleinerte und es nachbildende Replik. Nach der Idee, die von Theologen und Dichtern geäußert wurde, ist der Mikrokosmos ganzheitlich und in sich vollendet wie auch die große Welt. Man stellte sich den Mikrokosmos in Form eines Menschen vor, der nur im Rahmen des Parallelismus ‚kleines‘ und ‚großes‘ Weltall verstanden werden kann. (Gurjewitsch 65)

 

Es handelt sich also um eine Parallelisierung, welche auf der „völligen Analogie zwischen Weltall-Makrokomos und Mensch-MikrokosmosMikrokosmos/Makrokosmos“ (400) beruht, die sich detailliert ausbuchstabieren lässt: „Jeder Teil des menschlichen Körpers entspricht einem Teil des Weltalls: der Kopf dem Himmel, die Brust der Luft, der Bauch dem MeerMeer, die Beine der Erde, die Knochen den Steinen, die Adern den Zweigen, die Haare dem Gras und die Gefühle den Tieren.“ (65) Wie man an dieser Aufreihung erkennen kann, handelt es sich um einen hochgradig konventionalisierten Analogieschluss, dessen einzelne Bestandteile ohne Vorwissen nicht zwingend einleuchten. Die Vorstellung vom Makrokosmos/Mikrokosmos, die „im mittelalterlichen Europa, insbesondere seit dem 12. Jahrhundert“ (65) äußerst populär ist,5 zeitigt zahlreiche bildliche Darstellungen, die menschliche Körper mit dem Kosmos im Wechselverhältnis zeigen (vgl. Gurjewitsch 67f.) und beruht des Weiteren auf der zeittypischen Vorstellung, dass die GanzheitGanzheit dualistischen Charakters ist.Mikrokosmos/Makrokosmos6 Der Körper ist also auch jenseits der StaatskörperStaatskörper (body politic)-Metapher im europäisch-christlichen Denken seit Langem mit Ganzheit assoziiert, d.h., dass der Körper somit schon seit geraumer Zeit und in verschiedenen Varianten in ein überraschendes Näheverhältnis zu kleineren und größeren Ganzheiten gerückt wird.7

In Fragen der Darstellung von GanzheitGanzheit verdient das Konzept der HypotyposeHypotypose besondere Aufmerksamkeit, denn die Darstellung der Ganzheit des Staates als Körper (bzw. die breite und aufschlussreiche Forschung zu dieser Thematik) kann die Perspektive auf die Darstellung von größeren Ganzheiten informieren. Der StaatskörperStaatskörper (body politic) kann so als Modell dienen, zu dem sich Relationen zwischen Körpern und größeren Ganzheiten in ein Verhältnis setzen lassen. Denn was für den Staat gilt, trifft auch auf größere Ganzheiten zu: „Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich“ (Moser u. Simonis 12). Das Argument des Abstandes zwischen Ganzheit und Wahrnehmung kann so auf eine mögliche Brücke hin geöffnet werden: der Staatskörper, der auf dem allgemeinen hohen Potenzial des Körpers zur Darstellung von „bounded systems“ (Douglas 142) fußt.Mikrokosmos/Makrokosmos8

Um das allgemeine Darstellungspotenzial von Körpern im Kontext von GanzheitGanzheit weiter darzulegen, ist auf die Rolle des Körpers im kartografischen Kontext einzugehen, der untrennbar mit dem Themenfeld des Kolonialismus verknüpft ist. Das enge Verhältnis zwischen Körper und KartografieKartografie (vgl. III.2.3, III.4.4.4) wird angesichts folgender Beschreibung zunächst überraschend erscheinen: „Die Karte bringt zahlengenaue Maßverhältnisse ins Spiel, abstrahiert von der idiosynkratischen Perspektive einzelner Subjekte und von deren seelischer Tiefe“ (Stockhammer, Kartierung 8). Dennoch gibt das menschliche Herz frühen Weltkarten ihre Form (vgl. Ramachandran 33–39), bzw. werden in Darstellungen, die Karten begleiten und rahmen, gehäuft riesenhafte menschliche Körper platziert (Ramachandran 23, 51f.). Außerdem füllen und schmücken die Darstellungen von Tieren und Menschen Globen und Karten, und bewohnen dabei zumeist unbekannte oder entlegene Regionen der Erde. Abgebildeten Kannibalen und Monstern kommt hierbei gehäuft die Rolle zu, die Peripherie der (bekannten) Erde zu markieren; so schienen etwa „die amerikanischen Reiseberichte eine Bestätigung jener antiken Prognosen zu liefern, nach denen am Rande der Welt MonsterMonster, Fabel- und Zwitterwesen leben: Kannibalen, kopflose Wesen (Acephali), Satyre, Amazonen, Hermaphroditen, Monstergestalten“ (Manow 23; zu diesen Monstern vgl. auch Daston u. Park 205).9 „As writers struggled to represent the novelty of the American hemisphere for a European audience back home, monsters and marvels became coextensive with terra incognita in colonial representations.“ (Barrenechea 27)

Man denke weiter an den AtlasAtlas (Mythos)- bzw. Herkules-Mythos, in dessen bildlicher Darstellung ein riesenhafter Mann einen Globus schultert. Jörg Dünne hat mit Bezug auf frühneuzeitliche Beschreibungen darauf aufmerksam gemacht, dass die „Ansicht der Welt in einer zweidimensionalen Karte […] den Augen ein ähnliches Unwohlsein“ verursacht „wie das Gewicht der Erdkugel, die Herkules in dem Moment, als er sie Atlas abnimmt, auf seinen Schultern zu spüren bekommt“ (12), womit ein gleich doppelt körperliches Verhältnis zur Karte (im Erschrecken einerseits und dem Bild des Atlas/Herkules andererseits) in Szene gesetzt wird. Atlas gibt darüber hinaus einem kartografischen Genre seinen Namen, beginnend mit dem Atlas von Mercartor, womit ein signifikanter Übergang markiert wird:

From a literary historical perspective, the volume’s title [AtlasAtlas (Mythos); T.E.] is striking and strange. It introduces a new nomenclature for the map book, replacing conventional metaphors with the materiality of the human body. […]. The Atlas troubles the illusion of the map as a transparently mimetic object–a “mirror of the world”–by highlighting the function of the human mapmaker as a mediator; it is through his particular perspective and technical gaze that we see the world visualized on the page. (Ramachandran 27)

Weiter werden im Rahmen der Engführung von Körper und KartografieKartografie die Relationen zwischen anthropomorphen Körpern und der GanzheitGanzheit in außergewöhnliche Größenverhältnisse gesetzt, insofern der menschliche Körper die Erdkugel schultert, oder als Riese von kosmischen Ausmaßen den Erdglobus – gleichsam Erde und ihre Repräsentation – in den Händen hält, wie auf dem Titelkupfer des AtlasAtlas (Mythos) von Gerhard Mercartor (1595); „as an allegory of making it announces a bold argument: the mapmaker embodies the world. In material and metaphorical ways, the human body and the global body become one.“ (Ramachandran 22) Ayesha Ramachandran schreibt weiter:

Rhetorically, the materialities of geographic and bodily space become powerfully fused in the early modern period, paving the way for subsequent analogies between the human body and the great body of the world. (31)

Neben diesem Zusammenhang ist auch auf die Nähe zwischen KartografieKartografie und AnatomieAnatomie hinzuweisen, insofern beide wiederholt, so kontraintuitiv es erscheinen mag, als ähnlich beschrieben wurden (Ramachandran 29–32).

Weiter ist die Darstellung von Körpern in kolonialen Kontexten zu nennen – einmal im Rahmen der Diffamierung des Anderen (vgl. Manow 23–26) und einmal im Rahmen der Darstellung von zu kolonisierenden Regionen. Am bekanntesten ist hier mit Sicherheit die gegenderte Darstellung Amerikas als nackte, von Vespucci – seines Zeichens voll bekleidet und mit wissenschaftlichen Instrumenten ausgerüstet – ‚entdeckte‘ Frau (im Bildhintergrund findet, um dem Betrachter jegliche weitere Orientierungsarbeit zu ersparen, ein kannibalisches Barbecue statt). Doch gibt es auch Darstellungen, die alle – nach jeweiligem Stand der KartografieKartografie bekannten – Erdteile, zuvorderst Europa und Amerika, als „Frauengestalten“ (Manow 57) darstellen; diese Bildtradition findet auch im Titelkupfer des De Cive von Thomas Hobbes Eingang (vgl. Manow 55–57). Dieses Ins-Verhältnis-Setzen von Körpern und größeren Ganzheiten – und das koloniale Begehren, das ihnen eingeschrieben ist – kann jedoch auch ganz andere Formen annehmen: „The form of the globe finds anthropomorphic expression in the human eye or the female breast […], generating a poetics of form that connects the microcosm of a gendered human body to the macrocosm of the planetary globe.“ (Cosgrove 7f.) Auf noch konkretere Verbindungen zwischen Hobbes LeviathanLeviathan (Text und Titelkupfer) und der Kolonialgeschichte, auf die Philip Manow hingewiesen hat, wird unter III.2.4.1 eingegangen.