Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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Der Gotthard: Befestigung, Reduit, Mythos

Der Gotthard spielte in der Geistigen Landesverteidigung eine zentrale Rolle. Er hatte schon immer viele Bedeutungen: Passübergang, Bollwerk, Herz Europas, Wasserscheide, Sehnsuchtsort, Kraftquelle, mentale und materielle Festung. Der Mythos Gotthard wurde zur Zeit der Bedrohung durch Nazi-Deutschland fest eingebunden in die Geistige Landesverteidigung. Er evozierte die Vorstellung einer unverdorbenen Alpeninsel, wo der Sitz des edlen «homo alpinus helveticus» war, es bot sich das Bild des Wächters der Passstrasse an oder des Granits, aus dem die Willensnation Schweiz gefestigt ist.

Doch wichtiger als der Mythos war die Funktion des Gotthards als Bollwerk. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der rasanten Entwicklung der Waffentechnik stellte sich für die Schweiz die Frage, wie die Landesverteidigung zu gewährleisten sei. Es stritten sich dabei die Verfechter eines Grenzkordons mit den Befürwortern einer Zentralfestung. Eine 1872 eingesetzte Landesbefestigungskommission sollte die Frage klären. Mit der Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 war die Sache entschieden. Der Krieg hatte die strategische Bedeutung der Eisenbahnen deutlich gemacht. Vier Jahre später wurde mit dem Bau einer Festung am Alpenübergang begonnen.37 Das Projekt sah eine Abwehrstellung in der Region Airolo und im Raum Andermatt vor. 1892 wurde mit den Arbeiten an den Festungswerken Daily und Savaton oberhalb von St-Maurice zur Sperrung von Simplon und Grossem St. Bernhard begonnen. Aus den Befestigungen wurde kein Geheimnis gemacht: Bis 1913 waren sie kaum getarnt, man konnte sie sogar besuchen.38 Die Tarnungen, oft in Form von Chalets oder Ställen, fanden allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre grösste Verbreitung. Mit dem Kalten Krieg gewann die Tarnung als Teil des Verteidigungsdispositivs wegen der Spionagetätigkeit zusätzlich an Bedeutung.

Während des Ersten Weltkriegs wurden die Alpenfestungen nur unwesentlich verstärkt. Bei Kriegsende 1918 kam die Armeeführung zum Schluss, die Festungswerke hätten ihren strategischen Wert verloren, der Unterhalt sei reine Geldverschwendung, neue sollten keine mehr gebaut werden.39 Eine pazifistische Grundströmung in Europa nach dem Ersten Weltkrieg liess die Rüstungsausgaben allgemein schrumpfen. Mit einem Memorial forderte Eugen Bircher, bedeutender Kriegschirurg, Divisionär und damals Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG), Gründer der Bürgerwehren 1918 und Mitbegründer der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute SVP), den Bundesrat im August 1934 auf, der Befestigungsfrage mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mit Mitteln der Wehranleihe und einem Arbeitsbeschaffungsprogramm begannen ab 1937 die Befestigungsarbeiten. Diese waren verzögert worden, weil in der Zwischenzeit viel Knowhow verloren gegangen war.

Es entstand eine Bunkerkette entlang der nördlichen und östlichen Landesgrenze zwischen Basel und St. Margrethen. Im Westen wurde sie von St-Croix nach Vallorbe fortgesetzt. Bis Mai 1940 wurden mehr als 250 Bunker erstellt, die als «Grenzbefestigung» ins kollektive Gedächtnis eingingen. 110 waren noch im Bau oder projektiert. Die letzten Lücken im Neuenburger und Waadtländer Jura wurden 1943/44 geschlossen. Der Bau dieser Befestigungen wurde oft unkoordiniert durchgeführt, es gab keine Typenpläne oder Baunormen. Alleine bei den Geländepanzerhindernissen gab es 40 verschiedene Typen.

Mit der Kapitulation Frankreichs im Frühling 1940 änderte sich die strategische Situation der Schweiz. Die schlecht gerüstete Schweiz war nun von den Achsenmächten umzingelt. Mit dem Rütli-Rapport vom 25. Juli 1940 schwor der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Henri Guisan, das Offizierskorps auf eine neue Strategie ein: Rückzug ins Reduit national, verbunden mit der Demobilisierung eines grossen Teils der Armee von 450 000 auf 150 000 Mann. Diese demobilisierten Soldaten hielten die Industrie- und Rüstungsproduktion aufrecht, deren Erzeugnisse im Gegenzug für Kohle und Eisen zu einem guten Teil nach Nazi-Deutschland exportiert wurden. Dieser strategisch heikle Schritt erfolgte im Wissen, dass die Befestigungen nur zum geringsten Teil gebaut waren. Der Rückzug ins Reduit wurde denn auch von Militärstrategen wie dem britischen Feldmarschall Bernard Law Montgomery als «undurchführbarer Unsinn» bezeichnet.40 Die Armee solle – so sagte er anlässlich eines Ferienaufenthalts in der Schweiz – der Verteidigung des Mittellands mehr Aufmerksamkeit schenken und sich nicht aufs Reduit verlassen. Doch auch wenn es seine Tauglichkeit nicht beweisen musste, festigte das Reduit doch den Willen zum Durchhalten und verankerte später den Reduit-Mythos in der Erinnerungskultur der Aktivdienstgeneration.

Als Verteidigungsstellung gegen einen Einfall italienischer Truppen und als Sperre der Gotthardachse wurden die Artilleriewerke «Foppa Grande» und «San Carlo» am Gotthard41 kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausgebaut. Nach Kriegsende, im Herbst 1945, wurde das Werk vervollständigt und in den folgenden Jahrzehnten waffentechnisch erneuert. Ende 1992 wurden die letzten 38 Schüsse abgegeben, 1997 wurde es deklassifiziert und kann seither besichtigt werden. Auch die Festung «San Carlo» wurde mit dem Reduit-Beschluss sukzessive in Betrieb genommen und war 1944 voll ausgebaut.42

Einen Tag vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bewilligte der Bundesrat 36 Millionen Franken für den Bau der Festung Sargans, die ursprünglich zur Grenzsicherung vorgesehen war. Der Mangel an Arbeitern verzögerte den Bau vorerst, und auch im weiteren Verlauf führten die zu knappen Mittel immer wieder zu Diskussionen.43 Der endgültige Ausbau, der 83 Millionen Franken gekostet hatte, erfolgte Ende 1946, wobei noch 1993 wie bei den anderen Reduit-Werken St-Maurice und Gotthard BISON-Geschützbunker eingebaut wurden, die man sechs Jahre später wieder demontierte. 2003 wurden diese Festungen endgültig aufgehoben und zu den historischen Bunkern geschlagen. Bis Kriegsende übernahm das Festungswachtkorps Bauten im Gesamtwert von über einer Milliarde Franken. Wie schon der Bau der Grenzbefestigung erfolgte auch der Ausbau des Reduits nicht ohne Schwierigkeiten und Kompetenzgerangel, die von Koordinationsproblemen bis hin zu kriminellen Taten reichten.

Auch wenn letztlich Unsummen in den Bau der Grenzbefestigung und ins Reduit gesteckt wurden: Die Schweizer Armee hinkte dem Kriegsverlauf immer hinterher. «Die Landesbefestigung deckte die operativen Bedürfnisse der Aktivdienstzeit immer nur mit einiger Verspätung ab. […] Die schweizerische Verteidigungsstruktur, die tausende von unterirdischen Anlagen umfasst, wurde im Ausland als Emmentalerkäse versinnbildlicht, der ja ebenfalls zahlreiche Löcher aufweist.»44 So waren im Gefahrensommer 1940, als ein Einfall seitens Deutschlands drohte, weder die Grenzbefestigung noch die Limmatstellung fertig erstellt. Und im März 1943, als wieder Alarm ausgelöst wurde, war auch die Zentralraumstellung nicht voll in Betrieb. Selbst im Herbst 1944, als sich ein Ende des Kriegs abzeichnete, klafften noch «bedeutende Lücken in der Befestigung des westlichen Grenzgebiets».45 Taktisch sinnvoller wäre es gewesen, so der Historiker und Generalstabschef Hans Senn, wenn ein Teil der enormen Mittel statt in Beton und Eisen in Panzer und Panzerabwehrwaffen investiert worden wäre. Denn eine für diese Kampfführung geschulte Truppe hätte mehr erreicht «als wohlgeschützte, aber bis zu einem gewissen Grad dem ‹Maginotgeist› verfallene Werk- und Stellungsbesatzungen».46 Nichtsdestotrotz wurden nach dem Krieg nochmals 40 Millionen Franken aufgewendet, um die angefangenen Bauten zu komplettieren. Fertiggestellt und mit den fehlenden Waffen bestückt wurde das Reduit erst Anfang der 1950er-Jahre, obwohl es mit der Truppenordnung 51 (TO 51) offiziell aufgegeben wurde.47

Das Reduit festigte als Vermächtnis General Guisans den Mythos der Alpenfestung Schweiz. Dieser war so stark, dass man selbst dann noch in Ausbau und Unterhalt investierte, als das Reduit nach Meinung von Militärstrategen längst obsolet geworden war. «Mit dem Aufkommen der Atomwaffen war klar, dass die Tage der grossen Festungen gezählt sein würden.» Sie seien – so Hans Senn – zu aufwendig und zu verwundbar geworden.48 Dennoch vertraute man weiterhin auf die Feuerkraft der Artilleriegeschütze und ersetzte 1983 die alten Haubitzen durch neu entwickelte 15,5-cm-Geschütze. «Die Ideen General Guisans erlebten eine Renaissance.»49 Selbst der Fall der Mauer 1989 und der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks konnten an der Alpenfestung nicht rütteln. Immerhin passte die Armeespitze mit der «Armee 95» das operative Dispositiv der Realität an und deklassierte 13 000 Artillerie- und Infanteriewerke, Waffenstellungen, Unterstände, Sperrstellungen, Panzersperren und Sprengobjekte.

Seine Tauglichkeit als Festung musste das Reduit nie unter Beweis stellen, was wohl auch nicht gelungen wäre, weil dessen Vollendung asynchron zum Kriegsgeschehen verlief, es also nie auf dem vorgesehenen Stand war. Aber die geheimnisumwitterten unterirdischen Anlagen der Alpenfestung trugen stark zur Produktion von Imagination bei. Das Reduit mit seinen gegen aussen gerichteten Stacheln der Kanonenrohre war uneinnehmbar, weil man daran glaubte. Diese imaginierte Unbesiegbarkeit festigte im Kalten Krieg den Reduit-Mythos.

Friedrich Dürrenmatt sagte 1986 in einem Interview über das Reduit: «Ich greife die Schweizer im Zweiten Weltkrieg überhaupt nicht an. Das war die einzig mögliche Politik, und der Gedanke des Reduits war ein genialer Gedanke, der darin besteht, dass die Armee sich selber schützt und das Volk im Stich lässt. Absolut absurd! Aber es war die einzige Möglichkeit vom militärischen Denken her – so eine Art Nibelungenstrategie. Aber die Schweiz bezieht sich auf einen Heldenkampf, der nie stattgefunden hat.»50

 

Parteiische Neutralität

Die Bedrohung durch Nazi-Deutschland vermochte die sozialen Gegensätze unter dem Schirm der Geistigen Landesverteidigung zu kaschieren. Doch diese brachen nach dem Krieg auf, es kam zu Streiks, aber auch zu sozialen Reformen. Ende der 1940er-Jahre endete diese Phase des Umbruchs; der Kampf gegen den Kommunismus wurde wichtiger als sozialer Fortschritt; es setzte eine Phase der politischen und sozialen Stagnation ein. Dieser Kampf fiel in der Anfangsphase in eine Zeit, als die Schweiz ratlos und desorientiert war. Man war vom Krieg verschont geblieben, hatte sich aber in vielerlei Hinsicht nicht gerade ehrenvoll verhalten, was die Alliierten unmissverständlich deutlich machten. Sie sahen die Schweiz als Zudienerin der Nazis und Profiteurin des Kriegs. Doch die offizielle Schweiz sah keinen Grund, das eigene Verhalten infrage zu stellen, sondern fühlte sich dank Armee und Vorsehung verschont und kultivierte den «Sonderfall». Beschäftigt mit der eigenen Nabelschau, registrierte sie nicht, dass sich die Welt verändert, sich in zwei Blöcke gespalten hatte. Je mehr sich der Ost-West-Gegensatz akzentuierte, desto grösser wurde der Gegensatz zwischen der Zugehörigkeit zur westlichen Werte- und Schicksalsgemeinschaft und ihrer Position als neutraler Sonderfall.51

Innenpolitisch verschaffte sich der Bundesrat Luft, indem er die 173 Namen der «Eingabe der Zweihundert», die eine Anpassung der Schweizer Politik und Presse an diejenige von Nazi-Deutschland gefordert hatten, 1946 veröffentlichte. Damit richtete sich die ganze Wut auf diese «Landesverräter» und lenkte davon ab, dass sehr viele «ehrenwerte» Persönlichkeiten höchst profitable Kontakte zum Nazi-Regime gehabt hatten. Auch die Prozesse gegen «Landesverräter», in denen teilweise Todesurteile gesprochen wurden, waren Nebelpetarden, die andere, die sich schwerere Vergehen zuschulden kommen liessen, einhüllten.

Nach dem Krieg stand keineswegs fest, dass die Schweiz ihren – wenigstens deklarierten – rigiden Neutralitätskurs fortsetzen würde. Die ideologische und militärische Bedrohung durch die als expansiv eingeschätzte Sowjetunion löste bei etlichen politischen Entscheidungsträgern Zweifel an einer neutralitätsorientierten Politik aus. Bundesrat Max Petitpierre, Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD), erachtete ab Frühjahr 1947 vor dem Hintergrund der einsetzenden europäischen Teilung ein neutrales Dazwischenstehen der Schweiz als Begünstigung der Sowjetunion, die den Interessen der Schweiz zuwiderlaufe. Trotz dem Bemühen, die Beziehungen zur Sowjetunion zu normalisieren und die Neutralität wieder integral zu interpretieren, war klar, auf welcher Seite die Schweiz ideologisch, politisch und wirtschaftlich stand. An einer gemeinsamen Sitzung der Kommission für auswärtige Angelegenheiten und der Militärkommission sagte Petitpierre: «Im Westen glaubt man nicht an die Wirksamkeit unserer Neutralität. Im Osten ist man der Auffassung, wir seien schon lange auf der Seite des Westblocks. Im Kampf um die Ideologie wird das Schweizervolk Partei ergreifen.»52 Nach der Machtergreifung der Kommunisten in der Tschechoslowakei 1948, die für Petitpierre ein Schock war, sah er eine intensivere Kooperation mit den westeuropäischen Staaten als das bessere Mittel, die schweizerische Unabhängigkeit zu bewahren, als eine restriktive Neutralitätspolitik. Er bezweifelte, ob die bisherige Neutralitätspolitik moralisch noch zu rechtfertigen sei, denn sie verunmögliche einen eindeutigen Positionsbezug gegen den Kommunismus.53

1948 forderte Petitpierre im Bundesrat eine Modifikation der bisherigen Konzeption der Neutralität und eine Anreicherung um den Begriff Solidarität. Das sollte gewissermassen der Befreiungsschlag sein, um aus der aussenpolitischen Isolierung ausbrechen zu können, doch drang er vorerst nicht durch. Bis Ende 1949 hatte Petitpierre noch Zweifel an der bisherigen Interpretation der Neutralität, die er als dysfunktional erachtete. Dies im Gegensatz zu den anderen Bundesräten, die eine emotionalere Bindung an diese Staatsmaxime hatten und deshalb dogmatischer waren. Doch die Abkehr von der Neutralität erwies sich als blosses Gedankenspiel. Weil die Neutralität von keiner Seite infrage gestellt wurde und die sich in Europa herausbildenden Institutionen nicht als Alternative zur Neutralität anboten, änderte sich Petitpierres Einstellung radikal. Er hatte zwar in einer verstärkten Integration in Europa – mit Einschluss der Schweiz – ein Gegengewicht zu den beiden Supermächten gesehen, doch liess er es bei rhetorischen Bekundungen bewenden und unternahm selbst dort keine Integrationsschritte, wo das neutralitätspolitisch möglich gewesen wäre, etwa bei einem Beitritt zum Europarat. Mit ihrer Neutralitätspolitikschloss sich die Schweiz aus den sicherheitspolitischen Strukturen des Westens aus. Sie konnte sich allerdings diese «Trittbrettfahrerei» erlauben, weil sie von den Verteidigungsanstrengungen der Nato profitierte, mit den eigenen Verteidigungsanstrengungen aber auch signalisierte, dass man nicht nur Profiteurin sein wollte.

Von der Verteidigungskraft der Schweizer Armee hielten die Engländer allerdings wenig. Feldmarschall Montgomery schrieb in einem Memo vom 14. September 1949: «If Switzerland gave up her neutrality and joined the West […] the Western Allies would gain no advantage and would incur added obligations.»54 Als ob das nicht reichte, streute Feldmarschall Montgomery im Jahr darauf nochmals Salz in die Wunden des Schweizer Aussenministers. In einem Gespräch mit Bundesrat Petitpierre äusserte er die Ansicht, die Schweizer Armee sei nicht im Stande, die Neutralität zu sichern, und fügte bei: «Switzerland ist not getting full value for the large sums of money she was spending on defence.» Petitpierre soll erschüttert gewesen sein.55

Die schweizerische Neutralität wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mythisch überhöht und historisch verklärt, zu einem «Dogma von fast religiöser Weihe» emporgehoben.56 Immerhin gab es keine Denkverbote. Oberstdivisionär Max Waibel plädierte 1955 in einer Studie dafür, entweder der Nato beizutreten oder Ausrüstung und Ausbildung der Schweizer Armee Nato-kompatibel zu gestalten, weil sie in Zukunft nicht mehr in der Lage wäre, einen Krieg autonom zu führen. Deshalb sei es auch unlogisch, sich im Frieden auf die autonome Kriegführung vorzubereiten. Doch sowohl der Generalstabschef als auch der Bundesrat lehnten jegliche Vorstellung ab, die Zweifel an der Neutralität liessen. Damit war die Neutralitätsdiskussion für Jahrzehnte vom Tisch.57 Die Kompatibilität mit der Nato erfolgte zwei Jahrzehnte später. Der frühere Brigadier Peter Arbenz sagt: «Man hat ab den 1980er-Jahren die ganze Stabsorganisation auf eine bessere Zusammenarbeit mit der Nato ausgerichtet. Das ging bis zur Anpassung von Bezeichnungen. Die hohen Offiziere mussten alle Englisch lernen, um die gleiche Terminologie zu beherrschen.»58

Das alles überragende Ziel der Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik war die unbedingte Bewahrung der Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Territoriums. Die Schweiz handelte damit «überwiegend im Rahmen der nationalegoistischen Staatsräson».59 Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs hatte die «Unabhängigkeit» zu einem verklärten und damit umso identitätsstiftenderen Begriff gemacht, der bis heute seine Wirkung entfaltet. Immerhin ergänzte die Schweizer Aussenpolitik die als egoistisch wahrgenommene Neutralität ab Mitte der 1950er-Jahre mit den Maximen der Solidarität, Universalität und Disponibilität. Aufgeladen mit diesen zusätzlichen Elementen, bildete sich eine «Ethisierung» der Neutralität heraus, in der die bürgerlichen Eliten die besondere Mission der Schweiz sahen. Mit der Gründung der Vereinten Nationen verschlechterte sich indes der Status der Neutralität, das Leitmotiv «mischt euch nicht in fremde Händel» wurde im Ausland negativ konnotiert.

Die Westmächte akzeptierten die Schweizer Neutralität, doch wäre sie im Kriegsfall irrelevant gewesen. Die Nato sah in der Neutralität kein taugliches sicherheitspolitisches Instrument, um die Schweiz aus einem Grosskonflikt herauszuhalten, und integrierte deshalb den ungenügend verteidigten Schweizer Luftraum in ihren eigenen Kampfraum.60 Auch die Sowjetunion zählte ab 1963 die Schweiz zum Kampfgebiet der Nato.61 Die Nato-Strategen gingen davon aus, dass die Schweiz mit dem Ausgang eines Ost-West-Kriegs nichts zu tun hätte, höchstens als Nachrichtendrehscheibe und Basis für verdeckte Operationen, falls das übrige Westeuropa von der Roten Armee überrannt würde. Bei Gelegenheit hätten die USA nicht gezögert, die Schweiz auch zu neutralitätspolitischen Verletzungen zu zwingen.62

Ab 1948 verstärkten die USA den Druck auf die westlichen Staaten, ihren Handel mit der Sowjetunion einzuschränken. Auch die Schweiz musste die Restriktionen des Coordinating Committee for Multilateral Export Controls (CoCom) teilweise mittragen und bei sogenannten Liste-II-Produkten den Warenverkehr mit der Sowjetunion auf dem normalen Durchschnitt (Courant normal) einfrieren. Bei den «strategischen» Produkten musste sie sogar einer Reduktion oder gar Streichung zustimmen. In zähen Verhandlungen kam im Juli 1951 das geheime Hotz-Linder-Abkommen, benannt nach den Verhandlungsleitern, zustande, das den Schweizer Handel mit der Sowjetunion unter die Kuratel der USA stellte. Die Positionen der Schweiz und der USA klafften dabei diametral auseinander. Eine Notiz an Bundesrat Petitpierre vom 26. Juli 1951 hielt fest: «Sur le plan politique il existait un abîme entre notre conception et celle des Américains. En effet, la délégation suisse plaidait la liberté du commerce, à laquelle un pays neutre a droit, tandis que les Américains se basaient sur une politique d’alliance et d’hostilité à l’égard du bloc oriental. La délégation américaine a refusé de reconnaître à la Suisse des droits particuliers dûs au statut de neutralité.»63 Aus Furcht vor Retorsionsmassnahmen der USA verzichteten Schweizer Firmen in der Folge auf die Ausnutzung der ausgehandelten Kontingente. Erst 1994 wurde das CoCom abgeschafft.

Mit dem Hotz-Linder-Agreement von 1951 gab die Schweiz ihr Einverständnis, sich an der indirekten Wirtschaftskriegsführung der Nato gegen den Ostblock zu beteiligen. Kritik an dieser einseitigen Politik der Schweiz war unerwünscht. Der kommunistische Journalist Pierre Nicole, der die militärisch-wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA in einem Zeitungsartikel im März 1951 kritisiert und als Neutralitätsverletzung bezeichnet sowie den Bundesrat bezichtigt hatte, er wolle die Schweiz in einen Krieg gegen die Sowjetunion verwickeln, wurde im Dezember gleichen Jahres zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 15 Monaten verurteilt. Nicht nur Nicole sah sich später bestätigt, dass es sich beim Abkommen um eine Verletzung der Neutralitätspolitik handelte. Selbst Bundesrat Petitpierre schätzte das Abkommen neutralitätspolitisch als problematisch ein.64 Nach Ansicht des Historikers Hans Ulrich Jost war das Hotz-Linder-Agreement eine «Wendung zur atlantischen Perspektive». Das Konzept der Neutralität wurde stillschweigend angepasst, was auch der Nationale Sicherheitsrat in den USA vermerkte: «The Swiss concept of neutrality has, in fact, shown signs, during the past months, of becoming less inflexible.» Damit sei – so Jost – in der schweizerischen Aussenpolitik auch in der Nachkriegszeit die Neutralität als rhetorisches Vernebelungsinstrument eingesetzt worden, um wirtschaftspolitische Manöver zu verbergen.65

Die Amerikaner konnten mit der Schweizer Neutralität zufrieden sein. Sie lobten die kooperative Haltung bei Waffenlieferungen, bei denen wenige Jahre nach Kriegsende die Oerlikon-Bührle zum Zug kam, und stellten mit Genugtuung fest, dass die Sympathien des Schweizervolkes und der Regierung im ideologischen Kampf zwischen Ost und West auf der Seite des Westens seien. Immer wieder betonten offizielle Dokumente, dass die Schweiz, obwohl neutral, fest auf der Seite des Westens sei und dass der kommunistische Einfluss vernachlässigbar sei. Die Schweiz sei «the most aggressively neutral people in Europe», und die Neutralität sei ein «way of life». Die Schweiz schrecke sogar davor zurück, gewisse Aktionen zu unternehmen, aus Angst, die Kommunisten könnten ihnen vorwerfen, nicht neutral zu sein.66