Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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Eine verunsicherte Schweiz

Die Schweiz war in den 1920er-Jahren eine tief gespaltene Gesellschaft. Die Arbeiterschaft kam geschwächt aus dem für sie desaströsen Landesstreik 1918 heraus. Das Bürgertum demonstrierte gemeinsam mit der Unternehmerschaft, wer Herr im Haus ist. Die Bundespolitik zeigte sich im Sozialbereich weitgehend reformunfähig. Die im Landesstreik geforderte Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) gelangte zwar 1925 auf Verfassungsebene, ein Ausführungsgesetz wurde aufgrund der Opposition von föderalistischen und rechtsbürgerlichen Kreisen aber 1931 abgelehnt. Es dauerte bis 1948, bis die ersten Renten ausbezahlt wurden.

Das Bürgertum instrumentalisierte das Trauma von der angeblich bolschewistischen Verschwörung 1918. Die während des Landesstreiks gegründeten Bürgerwehren, die sich im Schweizerischen Vaterländischen Verband (SVV) zusammengeschlossen hatten, verstärkten zusammen mit anderen nationalistischen Bewegungen den Klassenantagonismus und hatten im Verbund mit staatlichen Kräften die flächendeckende Bekämpfung von Streiks und Aufständen zum Ziel. Mit ihrer Spitzeltätigkeit in Zusammenarbeit mit staatlichen Polizeibehörden marginalisierten sie die Linke zusätzlich, indem sie ihnen staatliche Stellen verwehren wollten. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums bildete sich ein kompakter Block aus Christlich-Konservativen, Freisinnigen sowie Bauern und Gewerbetreibenden, der mit gesetzlichen Massnahmen, die allerdings vom Volk abgelehnt wurden, den Staatsschutz und die Repression gegen Oppositionelle verstärken wollte. Was rechte Organisationen und Parteien einte, war die Furcht vor dem Kommunismus. Während der 1920er-Jahre dominierte in den Parlamenten die klassenkämpferische Frontstellung: ein ideologisch heterogener Bauern-Bürger-Block gegen eine Linke, die ebenso heterogen war und anarcho-syndikalistische, kommunistische und reformerische Kräfte umfasste.13 Allerdings wurden die bürgerlichen Repressionsbemühungen auch in die Schranken gewiesen, indem das Volk 1922 ein Gesetz, die «Lex Häberlin», das den Staatsschutz massiv ausgebaut hätte, ablehnte. Eine weitere Vorlage wurde 1934 verworfen. Die Linke übte sich in den 1920er-Jahren in Gewaltverzicht, während die Rechte sich in Habitus und Auftreten martialisch gab.

Mit dem Aufkommen des Faschismus in Italien und dem Nationalsozialismus in Deutschland entstanden auch in der Schweiz Kräfte, die mit diesen autoritär-diktatorischen Bewegungen sympathisierten, etwa Bundesrat Giuseppe Motta (ein Bewunderer Mussolinis) oder der spätere Bundesrat Ludwig von Moos, der mit den rechtsextremen Frontisten liebäugelte. Er unterstützte 1935 zusammen mit den Jungkonservativen eine Initiative zur Umgestaltung der Schweiz in einen ständisch-korporativen Staat. Jahre später heiligten die Mittel den Zweck: Die Gräueltaten der Nazis traten in seinem Verständnis hinter die Bekämpfung des Bolschewismus zurück. Er schrieb 1942 im Obwaldner Volksfreund: «Herr Dr. Goebbels kann versichert sein, dass wir innigst beten, der Herrgott möge den Bolschewismus nicht über ganz Europa hereinbrechen lassen.»14

Angesichts der vorerst ideologischen Bedrohung durch den deutschen Nationalsozialismus sammelten sich in der Schweiz die politischen Kräfte links und rechts der Mitte. Den Weg frei machten zum einen die in kommunalen und kantonalen Exekutiven gezeigte Regierungsfähigkeit der Sozialdemokraten, zum andern das Bekenntnis zur bewaffneten Landesverteidigung 1935 und das Friedensabkommen in der Metall- und Maschinenindustrie 1937. Bereits in den 1920er-Jahren hatte sich allerdings in den Betrieben eine Annäherung zwischen Arbeiterschaft und Unternehmern abgezeichnet, nahm doch die Streiktätigkeit in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts drastisch ab. 1927 strichen die Gewerkschaften das Ziel der «Diktatur des Proletariats» aus den Statuten. Vorübergehend verschärfte sich indes die Polarisierung zwischen links und rechts aufgrund der sich 1929 über den ganzen Globus verbreiteten Wirtschaftsdepression weiter. Die Rechte suchte das Heil in Lohnsenkungen, einer Austeritätspolitik und im Budgetausgleich, der «Politik des guten Hausvaters», um vor allem im Export konkurrenzfähiger zu werden. Für die Linke war die Krise ein Symptom, dass das kapitalistische System versagt hatte. Sie forderte eine nachfrageorientierte Politik nach John Maynard Keynes zur Stärkung der Konsumkraft der arbeitenden Bevölkerung und massive staatliche Investitionen.

Mit der Machtübertragung an Adolf Hitler erlebten die verschiedenen rechtsextremen Organisationen der Frontisten ihren «Frontenfrühling». Getragen wurde diese Bewegung zu einem grossen Teil von studentisch-akademischen Kreisen, Sympathien hatte sie bis ins Bürgertum. So gingen etwa die Freisinnigen der Stadt Zürich mit den Frontisten eine Listenverbindung ein. Dass die frontistischen Ideen nicht verfingen, zeigte die massive Ablehnung einer Volksinitiative, die einen Übergang zu einem autoritären, korporatistisch organisierten Ständestaat vorgesehen hätte.

Angesichts des ideologischen Verführungspotenzials der Nazi-Ideologie und der Krise der liberalen Demokratie sammelten sich die Kräfte der Mitte etwa in der Richtlinienbewegung, die einen Konnex zwischen wirtschaftlichem Wiederaufbau und der Sicherung der Demokratie machten und deshalb auf breite Resonanz stiessen. Praktisch parallel dazu verbreitete sich der Begriff der «Geistigen Landesverteidigung», der Ende 1929 auftauchte und sich später im Diskurs der Rechten verbreitete. Den Begriff für eine breite demokratische Allianz mehrheitsfähig machte Bundesrat Philipp Etter mit seiner Kulturbotschaft 1938. Die später als «Magna Charta» der Geistigen Landesverteidigung bezeichnete Botschaft wurde zum Kristallisationspunkt einer helvetischen Sammlungsbewegung und zu einem ideologischen Konstrukt, das seine Wirkung während mehr als 30 Jahren entfaltete.

Geistige Landesverteidigung: Abwehr gegen Nazi-Ideologie

Die am 9. Dezember 1938 veröffentlichte «Botschaft über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung»15 war die erste kulturelle Grundsatzerklärung des Bundesrates seit der Gründung des modernen Bundesstaates 1848. Ausgangspunkt der Überlegungen von Bundesrat und Kulturminister Philipp Etter waren die «tiefgreifenden Umwälzungen», die sich im geistigen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben Europas seit dem Ersten Weltkrieg abgespielt hätten und die ihren «Wellenschlag» auch in die Schweiz werfen würden.16 Die über 50-seitige Botschaft, von Philipp Etter grossenteils selbst und mit dem ihm eigenen Pathos verfasst, evozierte Bilder einer alpinen, wehrhaften Bauernnation, die am stärksten alleine ist. Auch 80 Jahre später wird dieses Konstrukt einer Tradition noch politisch instrumentalisiert, nämlich in der Politik der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mit deren Eintreten für eine autonome bewaffnete Landesverteidigung oder dem Antagonismus gegenüber der Europäischen Union.

In Etters Botschaft «Sinn und Sendung der Schweiz» wird der Gotthard zu einem Bollwerk gegen die Ideologie des Nationalsozialismus, gleichzeitig ist um den Gotthard herum «eine geistige Gemeinschaft der Völker und Kulturen» entstanden, womit er auch eine Nähe zu Faschismus und Nationalsozialismus impliziert. In der ländlich-alpinen Gemeinschaft der alten Eidgenossen hatte die mythologisch verklärte Schweiz ihren Ursprung, der Mythos Gotthard wurde zur Geburtshelferin einer grossen Idee: «Der schweizerische Staatsgedanke ist nicht aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch, er ist aus dem Geist geboren. Es ist doch etwas Grossartiges, etwas Monumentales, dass um den Gotthard, den Berg der Scheidung und den Pass der Verbindung, eine gewaltig grosse Idee ihre Menschwerdung, ihre Staatwerdung feiern durfte, eine europäische Idee, eine universelle Idee: die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kulturen.»17 Die Parallele zur Menschwerdung Jesu ist unverkennbar. Der Gotthard hat eine Doppelfunktion: mythisches Zentrum beziehungsweise Symbol des Schweizergeistes und Bollwerk gegen feindliche Armeen.

Etter plädierte dafür, dass sich die Kultur als Ausdruck «schweizerischen Geisteslebens und schweizerischer Eigenart» frei entfalten könne. In der «schöpferischen Tat» solle sich zeigen, was «schweizerisches Wesen ausmacht und bestimmt».18 Die Kulturbotschaft mit Betonung auf «schweizerisch» war als Abgrenzung gegenüber ausländischen Einflüssen zu verstehen. Etter blieb in seinen Umschreibungen und Vorstellungen einer Schweizer Kultur und Eigenart bewusst vage und blumig, sodass sich jede und jeder seine oder ihre je eigene Sicht bilden konnte. Dieses Fundament der Geistigen Landesverteidigung, ein Begriff, der nur selten in der Botschaft auftaucht, wurde zwar als Absage an eine totalitäre Kultur verstanden, war aber auch kein Bekenntnis zu einer offenen, liberalen Kultur, obwohl Etter die Zugehörigkeit zu den drei europäischen Kulturräumen und die kulturelle Vielfalt betonte. Etter sah das so: «Diese Aufgabe besteht darin in unserem eigenen Volke die geistigen Grundlagen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die geistige Eigenart unseres Landes und unseres Staates neu ins Bewusstsein zu rufen, den Glauben an die erhaltende und schöpferische Kraft unseres schweizerischen Geistes zu festigen und neu zu entflammen und dadurch die geistige Widerstandskraft unseres Volkes zu stählen.»19 Das patriotische Pathos Etters, das stellenweise an Duce Mussolini erinnerte, wurde im Volksmund allerdings ins Prosaische gedreht: Die Geistige Landesverteidigung wurde als «Ge-la-ver», also Geschwätz, abgekürzt, was bedeuten sollte, dass die hochgeschraubte Rhetorik wenig Substanzielles hervorgebracht hatte.

 

Etters Kulturbotschaft war massgeblich von Gonzague de Reynold inspiriert, der Ende der 1920er-Jahre die liberal-demokratische Staatsform kritisierte und in einer späteren Schrift die Vorzüge eines autoritären und föderalistischen Staates mit einem Landammann an der Spitze, der er selbst sein wollte, pries. Wie Gonzague de Reynold zeigte Etter Sympathien zu autoritären oder faschistischen Staatsmännern wie António de Oliveira Salazar in Portugal, Francisco Franco in Spanien oder Benito Mussolini in Italien. Von einem liberalen Staat hielt Etter, der 25 Jahre Bundesrat und deshalb spöttisch als «Etternel», der Ewige, bezeichnet wurde, wenig. So schrieb er in Die Vaterländische Erneuerung und wir, dass die Regierung nicht nur verwalten und vollziehen solle, sondern wieder regieren: «Mit einem Wort: Es sollen wieder stärkere Autoritätskörper in die Demokratie eingebaut werden. Und alles, was die Autorität hemmt und lähmt, soll verschwinden.»20

Etter war Antidemokrat, Antimodernist und Antisemit. Der machtbewusste, auch widersprüchliche Politiker sah in einem christlich-berufsständischen Ständestaat von vor 1848 sein Ideal. Die elitären und autoritären Vorstellungen des begnadeten Redners waren mit dem Schweizer Staatsverständnis schwer in Einklang zu bringen. Als die Frontenbewegung nach der Machtübertragung an Adolf Hitler im Aufwind war, warb Etter – ein Jahr vor seiner Wahl zum Bundesrat – offen um die Gunst der frontistischen Wähler: «Die neue Bewegung (des Frontismus) richtet sich in ihren gesunden Äusserungen gegen eine Geistesart, die unmöglich unserer Verteidigung anvertraut sein kann. Im Gegenteil! Ich vertrete die Auffassung, dass vieles (freilich nicht alles!) in der neuen Bewegung durchaus gut ist und dem Inhalt unseres konservativen Staats- und Gesellschaftsprogramms entspricht.»21 Auch forderte er in derselben Schrift von 1933, dass im Namen der «geistigen Gesundheit» die Freiheit von Presse, Literatur und Kunst einzuschränken sei. Als «starke Trägerin der staatlichen Autorität» sollte die Armee eine wichtige Rolle erhalten. Sie sei «die Schützerin der geistigen und kulturellen Werte gegen die Kräfte der Zersetzung und des Umsturzes».22 Mit diesen Kräften meinte er weniger den Faschismus als den Kommunismus. Während des Zweiten Weltkriegs verfolgte Etter einen vorsichtigen Anpassungskurs an Nazi-Deutschland, und er war es auch, der die berüchtigte Rede von Bundesrat Marcel Pilet-Golaz von 1940, die als Kniefall vor Nazi-Deutschland interpretiert werden konnte, redigierte und auf Deutsch hielt.23

«Antitotalitärer Kompromiss» und «helvetischer Totalitarismus»

Das kulturelle Programm der Geistigen Landesverteidigung war darauf ausgerichtet, Althergebrachtes und Traditionelles zu schätzen und zu würdigen, ohne dass aber ausländische Tendenzen, die oft unter dem Begriff «Kulturbolschewismus» angeschwärzt wurden, verurteilt worden wären. Die Botschaft einer schollenverbundenen, rückwärtsgewandten, alpinen und wehrhaften Bauernnation, die in gefährliche Nähe zur Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis geriet, wurde gewissermassen in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben, die ihre gewünschte Wirkung in der Kultur- und Bildungspolitik entfaltete. Hier bildete sich ein von rechtskonservativem Nationalismus durchdrungenes Gedankengut aus, das sich vorwiegend in der deutschen Schweiz breitmachte. Positiv lässt sich vermerken, dass sie die drei Landessprachen – später vier – fördern wollte.

Angesichts der Bedrohung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs begrüssten Kulturschaffende von rechts bis links emphatisch die Grundlagen der Geistigen Landesverteidigung, die rasch grosse Verbreitung fanden. Weil das Konzept der Geistigen Landesverteidigung unverbindlich und nach allen Seiten offen war, die «Eigenarten der Schweiz» nicht konkretisiert wurden, bildeten sich je nach politischem Standpunkt unterschiedliche Spielarten heraus.

Die konservative bis rechte Definition der Geistigen Landesverteidigung strebte eine Umgestaltung der Schweiz in einem autoritären, antidemokratischen und ständestaatlichen Sinn an und sympathisierte teilweise mit der nazifreundlichen Frontenbewegung. Sie setzte sich für Föderalismus, die Rechte der Familie und die Freiheit der Kirchen ein. Sympathisanten dieser Richtung fanden sich auf höchster politischer Ebene, etwa die Bundesräte Giuseppe Motta, Philipp Etter, Marcel Pilet-Golaz und ihr ehemaliger Kollege Jean-Marie Musy. Diese Richtung beherrschte den Diskurs.24 Die bürgerlich-liberale Definition verteidigte den freiheitlich-demokratischen Bundesstaat von 1848, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte sowie die Schweiz als Willensnation.25

Die linksliberal-sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Spielart, die sich um die «Richtlinienbewegung» gruppierte, zeichnete sich durch Antifaschismus, Bekenntnis zur demokratischen Verfassung und Einstehen für sozialpolitische Reformen und soziale Gerechtigkeit aus. Die Bejahung von demokratischen Aushandlungsprozessen statt einer revolutionären Umgestaltung wurde auch gefördert durch die Erfahrung der Niederlage im Landesstreik 1918, den reaktionären Rückschlag in den 1920er-Jahren, aber auch durch parlamentarische Erfolge der Arbeiterschaft auf Kantons- und Gemeindeebene. Gemeinsam war allen Strömungen die Betonung der geistig-kulturellen Eigenständigkeit der Schweiz, der Rückgriff aufs Historische, die Wiederbelebung der demokratischen Staatsform sowie eine Abwehrhaltung gegen aussen und die Rückbesinnung auf gemeinsame Werte.26

Die drei Lesarten der Geistigen Landesverteidigung waren weitgehend inkompatibel, wurden aber gleichwohl ins Gefäss einer nationalen Ideologie gegossen. Möglich wurde das, weil sich die politischen Differenzen angesichts der Bedrohung durch Nazi-Deutschland verwischt hatten. Mit der Betonung des Eidgenössisch-Nationalen, der Abgrenzung gegen aussen und der impliziten Verordnung eines kulturellen Mainstreams übernahm die Geistige Landesverteidigung Elemente einer Ideologie, die sie eigentlich bekämpfen wollte. Der «antitotalitäre Basiskompromiss» eines breiten politischen Bündnisses gemäss Kurt Imhof lässt sich deshalb auch nach Georg Kreis als «helvetischer Totalitarismus» lesen. Die heutige Deutung der Geistigen Landesverteidigung geht eher Richtung kultureller Offenheit. Das zeigt sich etwa darin, dass auch linke Künstler und Intellektuelle sich an der «Landi» 39, diesem symbolischen Höhepunkt der Geistigen Landesverteidigung, beteiligten. So gestaltete Hans Erni das monumentale Wandgemälde in realistischem Stil, womit er bekannt und von der Linken geschätzt wurde. Konzeptionell arbeitete an diesem Gemälde sein Freund Konrad Farner mit. Und am Bulletin zur Landesausstellung wirkte Theo Pinkus mit, später das Feindbild des Bürgertums schlechthin. Dass sich auch Linke mit der Geistigen Landesverteidigung identifizieren konnten, zeigt, wie vage, wie deutungsoffen und ambivalent sie war.

Viele Schweizer Schriftsteller stellten sich mit aufbauenden, positiven und lebensbejahenden Geschichten in den Dienst der Geistigen Landesverteidigung und merkten dabei nicht, «wie ähnlich ihre Produkte den in den Nachbarländern noch geduldeten waren».27 Sie stellten ihr Schaffen «in den Dienst einer schweizerischen Integrationsideologie, die Fremdes als unschweizerisch diffamierte».28 Das ging bis hin zu Antisemitismus, als Ferdinand Rieser, dem 1938 in die USA emigrierten jüdischen Direktor des Zürcher Schauspielhauses, vorgeworfen wurde, er vernachlässige die Schweizer Dramatik. Für die einheimischen Kulturschaffenden hatte die Geistige Landesverteidigung den angenehmen Nebeneffekt, dass in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit die ausländische Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet wurde, nicht selten mithilfe der Fremdenpolizei.

Was genau die Geistige Landesverteidigung war, konnte wohl kaum jemand definieren; es gab weder Leitplanken noch Handlungsanweisungen, doch alle wussten, was gemeint war. Zensur und die Schere im Kopf, eine durch Sozialisation geprägte Vorstellung von «schweizerischen» Verhaltensnormen verhinderten, dass man sich gegen diese nebulöse Doktrin aufgelehnt hätte. Der Widerstand wäre nicht als ein Auflehnen gegen einen Diktator oder eine autoritäre Staatsmacht verstanden worden, sondern als Rebellion gegen die Gemeinschaft der Wohlmeinenden und Redlichen, gegen das «Schweizerische» an sich. Einer, der schon Jahre zuvor den Konformitätsdruck verspürt hatte, war der Schriftsteller Ludwig Hohl, der in seinen 1934–1936 entstandenen Notizen schrieb: «Schweiz. Die Starrheit ergreift nach und nach, ohne dass sie es merken, auch die Besten, und sie werden wie mit einer Glasur überzogen. Du siehst es mit Entsetzen und fürchtest, dass sie nach und nach ganz und gar zementiert werden.»29 Ein Kritiker war auch der Theologe Karl Barth, der die von etlichen Theologen verwendete Bezeichnung eines «Schweizerchristentums», die Vermischung von Religion und Glaube einerseits, Nationalismus, Rasse, Helden- und Ahnenverehrung andererseits, verurteilte. In einer Rede 1938 sagte er: «Man braucht kein Hellseher zu sein, wenn man in aller Ruhe konstatiert: der Nationalsozialismus hat schon nach uns gegriffen; er ist schon da, auch bei uns in der Schweiz. Ich denke dabei am allerwenigsten an die sogenannten Fronten. Ich denke an die zahlreichen Einbruchstellen in allen Kreisen, auch in den christlichen Kreisen unseres Volkes […] Ich denke an das unter dem Titel der ‹geistigen Landesverteidigung› ersonnene Spottgebilde eines neuen helvetischen Nationalismus mit dazugehörendem ‹bodenständigem Antisemitismus› – o ihr Kindsköpfe!»30

Bundesrat Etter forderte in seiner Botschaft eine Stiftung zur Förderung der geistigen Werte im Inland und zur Kulturwerbung im Ausland, die 1939 als «Pro Helvetia» gegründet wurde. Aus ihr ging aufgrund eines Truppenbefehls von General Henri Guisan die Sektion Heer und Haus hervor, deren Aufgabe vorerst war, die Truppen zu unterhalten und zu belehren. Zwei Jahre später erteilte Guisan den Befehl, diesen Dienst zu reorganisieren zum Zweck der «Aufklärung der Zivilbevölkerung». Mit Vorträgen, Aufführungen, Sportanlässen, Radio- und Filmvorführungen sollte der Widerstandswille der Bevölkerung gestärkt werden. In rund 3000 zweitägigen «Aufklärungskursen» mit 200 Referenten wurde die Funktion der zensurierten Presse ergänzt beziehungsweise die Sichtweise der Geistigen Landesverteidigung unters Volk gebracht. Ein Netz von 7000 «Korrespondenten» rapportierte der Armeeführung die Stimmungslage in der Bevölkerung. Heer und Haus wurde damit während des Kriegs zum wichtigsten – offiziellen – Instrument der Geistigen Landesverteidigung, obwohl Etter sie «primär dem Bürger, dem Menschen, der freien Entfaltung des Geistes» überlassen wollte.31 Ein weiteres Projekt der Geistigen Landesverteidigung war die Gründung des Landessenders Beromünster oder des noch heute existierenden Schweizer Feuilletondienstes, der Schweizer Schriftstellern eine Publikationsmöglichkeit bot. Schliesslich ist auch die 1940 gegründete Schweizer Filmwochenschau ein Kind der Geistigen Landesverteidigung. Unter Androhung von Bussen wurde 1940 jedem Kinobetreiber auferlegt, vor einem Spielfilm die Wochenschau zu zeigen. Zwar sollte sie eine offiziös-schweizerische Sicht auf das Zeitgeschehen vermitteln, doch es irritierte, dass Filmsprache und Diktion der Sprecher der Filmwochenschau fatal ähnlich waren wie das hervorragend und verführerisch gestaltete, stark von Leni Riefenstahl geprägte, deutsche Pendant.

Den emotionalen Höhepunkt fand die Geistige Landesverteidigung in der Landesausstellung 1939 in Zürich – an diesem Hochamt des Patriotismus entzündete sich der Landigeist, der noch während einer ganzen Generation hell lodern sollte. Die von Bundesrat Etter verantwortete Landi, die mit zehn Millionen Besuchen einen nie erwarteten Erfolg – trotz Querelen und Unstimmigkeiten im Vorfeld – feierte, war eine dreidimensionale Demonstration der Geistigen Landesverteidigung. Sie inszenierte etwa mit dem Schifflibach oder dem Dörfli eine Kultur eines friedliebenden, genügsamen, den Traditionen verhafteten Volkes, das sich von einer internationalistischen Zivilisation abgrenzte, einer Zivilisation der Verstädterung, Industrialisierung, Kommerzialisierung, Leere, Sinnlosigkeit und Gleichmacherei.32 Doch es war auch die Demonstration einer modernen Schweiz als freundliches Ferienland und internationale Verkehrsdrehscheibe mit einer leistungsfähigen Industrie. Auch architektonisch beschritt der Landistil, der eine gemässigte Moderne repräsentierte, neue Wege. Daneben zeigte die Ausstellung mit der Monumentalstatue «Wehrbereitschaft» von Hans Brandenberger, die einen Soldaten/Arbeiter darstellte, die im Titel dieser Skulptur ausgedrückte Integration. Die Bildsprache war indes kaum zu unterscheiden von den heroisierenden skulpturalen Darstellungen in Deutschland oder Italien.

 

Haften blieb im kollektiven Gedächtnis vor allem das folkloristische Gemeinschaftserlebnis. Kaum einer hätte dieses Gefühl der Einigkeit und der Erhabenheit besser ausgedrückt als der Schriftsteller Alfred Graber, der in der Schweizer Illustrierten schrieb: «Der Gang über den Höhenweg beweist es. Hier spricht die Schweiz selbst, entkleidet von jeglichem Privatinteresse. Dein Land! Du lernst es neu und tiefer begreifen, du lernst – wenn du je gezweifelt hast – wieder glauben. An die Schweiz, an ihre hohe Sendung. Du lernst das Land lieben in seiner Vielfalt und sehen als eine Einheit.»33

Wo kippt Stolz in Selbstgerechtigkeit um? Die Schriftstellerin Victoria Wolff, eine deutsche Emigrantin, die aufgrund einer Denunziation des Schweizerischen Schriftstellerverbands aus der Schweiz ausgewiesen wurde, der Gestapo in die Hände fiel, aber dennoch in die USA fliehen konnte, besuchte noch die Landi, als sie bereits ihren Ausweisungsbefehl hatte. Sie schrieb: «Der Schweizer, der bisher genug gehabt hat an biederen Tugenden, hat plötzlich das grosse Gefühl bekommen, und er wagt es endlich, jawohl, endlich wagt er es, das auch zu zeigen: es besteht aus Freude und Bewunderung und Stolz. Es ist da, weil er nicht nur weiss, was er selbst kann, sondern weil er vor sich sieht, was seine Landsleute können. Er kritisiert nicht mehr, er bewundert. Und das tut gut. Der Fremde, der auch bewundert, sieht es an jedem Gesicht.»34

Die Geistige Landesverteidigung war nicht nur der schützende Rock von Mutter Helvetia. «Dass dieser Rückzug ins ausschliesslich Nationale, das ins Nationalistische abzugleiten drohte, nicht nur heroisch, sondern auch tragisch war, haben manche von uns bereits damals empfunden. […] Geistige Landesverteidigung kam in Gefahr, in geistige Selbstgenügsamkeit, ins Glück im Winkel, in Fremdenhass umzuschlagen»,35 schrieb rückblickend der Historiker Jean Rudolf von Salis, der ein feines Gespür für das Subkutane in einer Gesellschaft hatte.

Als Bollwerk gegen faschistische Ideologien wurde die Geistige Landesverteidigung errichtet. Doch gegen Ende des Kriegs wurde sie um 180 Grad gewendet, und nach Kriegsende als Offensivwaffe gegen den Kommunismus eingesetzt. Etter hatte allerdings schon früh das Terrain vorbereitet. In seinen Reden von 1937 und 1939 kamen die Begriffe «Faschismus» und «Nationalsozialismus» nie vor, während er den Kommunismus als grösste mögliche Bedrohung hinstellte. «Wenn wir uns z. B. gegen die geistige und politische Infiltration durch den Kommunismus zur Wehr setzen, so verteidigen wir damit nicht nur die demokratische, wir verteidigen damit zugleich die geistige Schweiz. Der Kampf gegen den Kommunismus bedeutet in meinen Augen nicht nur eine politische Notwendigkeit. Er entspricht vielmehr auch einer wesentlichen Forderung der geistigen Verteidigung des Landes gegen den gefährlichsten Feind menschlicher Freiheit und Persönlichkeit.»36

Erst mit der Uminterpretation nach dem Krieg entfaltete die Geistige Landesverteidigung während eines Vierteljahrhunderts ihre nachhaltige Wirkung, die noch mehr als vorher Konformismus und Duckmäusertum, Anpassung und Denunziation förderte und einen antikommunistischen Furor entfachte, der von kaum einem anderen westlichen Land übertroffen wurde. Diese Ära in der Schweiz lässt sich mit Fug und Recht als Zeitalter des Antikommunismus bezeichnen. Die Geistige Landesverteidigung erwies sich als das wirkungsmächtigste geistig-kulturelle Konstrukt des 20. Jahrhunderts, das die mentale Verfassung grosser Teile der Bevölkerung geprägt, einen retardierenden Einfluss auf die Aussenpolitik und einen beschleunigenden auf die Sicherheitspolitik hatte, das Reduit-Denken beförderte und eine Öffnung der Schweiz behinderte.