Kein Himmel über Berlin?

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Wie mir Romano Guardini begegnete

Dass so etwas „bei uns“ überhaupt möglich war – noch dazu mitten im Herzen der DDR –, erschien mir ganz außergewöhnlich. Denn die Sozialistische Schule, die mich zu einem Leben ohne Gott erziehen sollte, hatte mir bereits einige Lektionen erteilt. Darum nahm ich jene Ansammlung frommer Gegenstände, die sich in einem öffentlich zugänglichen Geschäft in der Nähe des S-Bahnhofs Marx-Engels-Platz darbot, nicht mehr mit kindlicher Selbstverständlichkeit hin: Kerzen, Kreuze, Rosenkränze und vor allen Dingen christliche Bücher waren in dem Laden direkt am Hackeschen Markt zu haben. War so etwas überhaupt erlaubt? Durfte man das hier außerhalb von Kirchen wirklich verkaufen?

Meine Sorgen sind beim Blättern in einem Erstkommunionbuch zur Ruhe gekommen, aber selbst heute erscheinen sie mir nicht völlig unbegründet. Einen vergleichbaren öffentlichen Laden, der sich als katholische Buchhandlung entpuppte, hatte ich noch nie gesehen. An jenem Tag habe ich in der Schule des Lebens etwas Wichtiges dazugelernt: Die Welt war doch nicht so eindeutig in Schwarz und Weiß geteilt: in Religiös und Atheistisch, in einen privaten Bereich, in dem der Glaube einfach dazugehörte, und in einen schulischen, in dem ein sonntäglicher Kirchgang vom Lehrer mit Lachen und Spott bedacht wurde: „Religion ist was für alte und ungebildete Menschen, die es nicht schaffen, sich auf unsere neue Gesellschaft einzustellen.“

Dagegen wusste ich plötzlich: Mitten in Berlin existiert ein kleines Reich, in dem ein anderer Geist regiert. Hier bildeten die Welt der Bücher und die Welt des Glaubens eine harmonische Einheit. Auf dem Heimweg in der S-Bahn, der mir sehr lang vorkam, habe ich mir über dieses erstaunliche Lese-Land Gedanken gemacht. Ich hatte genug Muße, mir den Namen des Buchladens einzuprägen. Ich fand, er passte gut: „Sonnenhaus Ziegler“.

Dieser Besuch blieb nicht ohne Folgen. Wenn sich unsere Familie in größeren Abständen entschloss, aus dem Umland ins Berliner Zentrum zu fahren, um dort knappe, begehrte Güter und Gerätschaften zu kaufen, bat und bettelte ich, bis ein kurzer Abstecher zum „Sonnenhaus“ genehmigt wurde. Bei solchen Streifzügen wechselten dann nicht nur elektronische Geräte und seltene Südfrüchte den Besitzer, sondern auch Kerzen und christliche Bücher. Wenn ich heute mit dem Finger über meine Bücherregale fahre, finde ich noch einige Bände, die von solchen Tagestouren stammen. Dabei entdecke ich auch Titel aus dem St.-Benno-Verlag, die mir später meine ältere Schwester geschenkt hat und die dem damals Zwölf- oder Dreizehnjährigem ziemlich komisch vorkamen: Glaube – Gnosis – Griechischer Geist oder Theologisches Jahrbuch 1975, in dem mir, wie einige Anmerkungen mit Bleistift zeigen, ein Artikel über Die Unbrauchbarkeit Gottes in einer säkularisierten Welt zumindest kurzfristig Kopfzerbrechen bereitet hat.

Bücher in totalitären Systemen – eine brisante Sache! Darum wurde die Verteilung dieser gefährlichen Güter vom staatlich organisierten Buchhandel genau reglementiert. Guter Lesestoff war knapp. Er gelangte zuerst in die Buchläden der NVA, der „Nationalen Volksarmee“, in die Regale sogenannter gesellschaftlicher Einrichtungen und Betriebe und schließlich in den Volksbuchhandel. Das katholische „Sonnenhaus“ musste sich ganz am Schluss der Leseschlange anstellen und darauf warten, was übrig blieb. Bestellungen beim „VD“, dem zentralisierten Vorankündigungsdienst, wurden oft ignoriert. Einen Vorteil aber hatte der Laden: Er durfte auch die Produktion kirchlicher Verlagshäuser, des Benno-Verlags in Leipzig und der Evangelischen Verlagsanstalt in Berlin, im Sortiment führen.

Weil die „Sonnenhäusler“ aber ständig im gesamten Ostteil des Bistums – von der Insel Rügen bis hinauf nach Brandenburg – mit ihren Büchertischen unterwegs waren, wurden sie nicht wie eine private, sondern fast wie eine kirchliche Institution betrachtet. Sie konnten sich auf ihre treue Stammkundschaft in den Gemeinden verlassen. Natürlich fühlten sich auch Touristen vom unkonventionellen Charme des Ladens angezogen. So mischte sich in den engen Gängen zwischen Bücherstapeln meist ein buntes Publikum.

Genau weiß ich nicht mehr, ob ich Zeuge dieses Dialogs war oder ob mir davon erzählt wurde. Jedenfalls ist er für das besondere Klima im „Sonnenhaus“ geradezu typisch: Ein Kunde fragt, wo ein soeben erschienener Band von Böll oder Frisch zu haben sei. Darauf Rudolf Ziegler: „Da müssen sie bloß zwei Stationen mit der S-Bahn fahren.“ „Also von hier aus bis zur Jannowitzbrücke?“ „Nee, andere Richtung.“ Jeder wusste natürlich, dass die nächste Station Friedrichstraße hieß und dass dort die Grenze zum Westen verlief. Es gab nicht gerade viele, die die Chuzpe aufbrachten, so zu reden. Überhaupt muss Rudolf Ziegler, der die Unabhängigkeit seines Bücherreichs lebenslang verteidigte, ein ungewöhnlicher Mann gewesen sein. Kaum 24 Jahr alt, eröffnete er 1925 mit großer Begeisterung für den Quickborn den katholischen „Buch- und Werkladen Sonnenhaus“.

Ich würde einiges darum geben, um zu erfahren, was sich der Bücher-Patriarch dabei dachte, als er meiner fürsorglichen Schwester den Tipp gab, mir, dem fußballspielenden Tagedieb, einen Band mit Aufsätzen von Romano Guardini28 zu schenken. Später erfuhr ich, es soll öfter vorgekommen sein, dass der „Herr der Bücher“ seine Kundinnen und Kunden so beriet, dass sie den Laden mit Ausgaben von Autoren verließen, deren Namen sie vorher kaum kannten.

Das schwesterliche Geschenk verschwand auf Jahre in einem Bücherregal. Lange blieb es dort ungelesen liegen. Es dauerte seine Zeit, ehe ich diese geheime Einladung endlich annahm: Schließlich begegnete mir Romano Guardini beim Lesen, versehen mit einem Gruß vom „Sonnenhaus Ziegler“. Ich entdeckte den Religionsphilosophen zu Beginn der Achtzigerjahre, als ich bereits selbst begonnen hatte, Theologie zu studieren. Das hat mein Leben verändert. Es wurde für mich zum Anruf, im Herbst 1989 mit katholischen jungen Leuten an die Humboldt-Universität zu ziehen und dort eine Forderung zu erheben, die zur Friedlichen Revolution passte: Wir wollen, dass es für Romano Guardini hier einen Neuanfang gibt.

Himmel über der Halbstadt

Eines Tages in den 1970er-Jahren – kurz nach der Entdeckung des katholischen Sonnenhauses – fand auch ich mich plötzlich in luftiger Höhe wieder: Dabei spürte ich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Immerhin hatten wir innerhalb weniger Sekunden fast 207 Meter überbrückt. Das erinnerte uns, Mädchen und Jungen aus meiner Schulklasse in einem überfüllten Fahrstuhl, an so etwas wie einen „Raketenstart“. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Aber es mussten noch bange Momente vergehen, ehe die Stahltür aufsprang und wir laut lärmend losrennen konnten. Die halbe Klasse – und ich mittendrin – stürmte auf die kreisrunde Aussichtsplattform. Wir waren überwältigt. Mit einem Mal wurde es still. Die ungewohnte Höhe, der wunderbare Ausblick, dazu ein sanftes, sachtes Schwanken und Schwingen des ganzen Baus. Diese Herrlichkeit machte uns geradezu andächtig.

In einem Kinderlied über den Fernsehturm heißt es: „Wollt ihr hinauf zum Turmcafé, / Turmcafé, Turmcafé, / fahrt mit dem Aufzug in die Höh', / Steigt alle ein Raketenstart! / Gleich kommt der Aufzug groß in Fahrt. / Turmcafé, in die Höh, Aufzug groß in Fahrt.“ Der Besuch des monumentalen Bauwerks, den wir damals absolvierten, war zu meiner Zeit obligatorisch. Die himmelstürmende Architektur des Turms mit der markanten Kugel sollte uns, formbare Mädchen und Jungen, von der Überlegenheit des Systems überzeugen. Beim rasanten Hochfahren hatte ich tatsächlich an so etwas wie „Raketenstart“ mit gezündeten Triebwerken gedacht. Allerdings musste ich mir ernüchtert eingestehen, dass sich mein Magen dabei nicht sonderlich weltraumtauglich verhalten hatte. Jedenfalls war der äußere Rahmen unserer Exkursion zur „Stadtkrone“ ganz darauf ausgerichtet, sich tief ins Gedächtnis einzugraben. Und so habe ich diesen Augenblick in Erinnerung behalten – anders allerdings, als sich das die Ideologen ausgedacht hatten.

Ausgerechnet Walter Ulbricht war es, der mir, dem vorlauten Schüler, hoch über den Dächern der Halbstadt eine Lektion erteilte. Dass ich unter dem geteilten Berliner Himmel damals was fürs Leben lernte, halte ich heute für eine List der Geschichte. Der formidable Vorsitzende, für den Architektur gebaute Weltanschauung war und der darum Kirchen als Relikte der Vergangenheit hasste – die Leipziger Universitätskirche, die Potsdamer Garnisonkirche und die Christuskirche in Rostock ließ er bedenkenlos zerstören –, hatte sein Prestigeprojekt zum Ruhm des jungen Staates, aber mehr noch für die eigene Unsterblichkeit erbauen lassen. Zugleich konnte der Mauer-Erbauer aber nicht verhindern, dass der von der Peripherie (Müggelberge) ins Zentrum transferierte Fernsehturm zwar sein Ansehen steigerte, aber auch verdrängte Probleme der beiden Berliner Halbstädte offenkundig machte.

Der Historiker und Korrespondent Peter Bender hat das, was ich als Kind diffus wahrnahm, in begrifflicher Klarheit beschrieben: „Oft vergessen wird schließlich das Dauerproblem, das die Enklave [West-Berlin] ihrem Umland bereitet. Vom Tage der Staatsgründung bis heute [1987] hat die DDR nur eine halbe Hauptstadt – halb im geografischen Sinn, der größte Teil Berlins gehört nicht dazu; halb auch im rechtlichen Sinn, Ost-Berlin ist nach westlicher Auffassung nach wie vor der sowjetische Besatzungssektor der Viermächtestadt. Das gab es noch nie: eine Hauptstadt, die nicht einmal ihren Namen ganz für sich hat, sondern erst durch einen Zusatz, ,Ost‘ oder ,DDR‘, identifizierbar wird. Eine Hauptstadt, die bis in die jüngste Zeit im Schatten einer attraktiveren Schwester stand […]. Eine Hauptstadt, die von den Diplomaten, Korrespondenten und Handelsleuten einfach verlassen wird, wenn die Damen und Herren einkaufen, sich amüsieren oder ungestört bleiben wollen. Eine Hauptstadt, die eine Mauer braucht, um sich von der Konkurrenz abzugrenzen. Eine Hauptstadt auch, in der fremde Soldaten Kontrolle fahren und die eigene Armee nicht paradieren kann, ohne dass nebenan eine Weltmacht protestiert.“29

 

Am 3. Oktober 1969 kam der große Augenblick. Im Vorfeld des 20. Jahrstages der DDR-Gründung, also auf dem Höhepunkt ihrer Existenz, „konnte Walter Ulbricht sein persönliches Großprojekt einweihen. Dass Ulbricht dabei von den wichtigsten Funktionären der Partei- und Staatsführung der DDR begleitet wurde, unterstreicht die Bedeutung, die man diesem Bauwerk beimaß. Euphorisch titelte das Neue Deutschland: ,Der Turm – ein Meisterwerk der Republik‘.“30 Beim Aussteigen im 207 Meter hoch gelegenen Telecafé konnte sich der Parteichef mit Recht dem Gefühl überlassen, im Berliner Stadtbild eine unverrückbare Konstante geschaffen zu haben.

Was ich damals beim Turmbesuch fühlte, ging mir unter die Haut: Zum ersten Mal erblickte ich den „Westen“ und sah eine Welt, die gar nicht wirklich existierte. Diese Entdeckung konnte ich kaum für mich behalten. Darum habe ich sie an eine vertraute Mitschülerin verraten. Aber vor unseren Kinderaugen wurde bald etwas sehr Trostloses sichtbar: Mitten durch Berlin zog sich die Mauer. Mit ihrem frisch geeggten Spurensicherungsstreifen sah das aus wie eine Wunde im Gesicht der doppelten Halbstadt. Uns wurde klar, dass es da unten schlimme Dinge gab, auch wenn wir damals noch keine Begriffe dafür parat hatten: Kontaktzaun mit Akustik- und Lichtsignalen, Minenfelder, Patrouillenwege, Hundelaufzonen, Stacheldraht und Spanische Reiter. Jahre später erkannte ich bei einem weiteren Besuch, dass die tödliche Grenze am Abend von Peitschenlampen angestrahlt wurde. Die urbane Welt unten zeigte sich von oben deutlich zweigeteilt in hell und dunkel. Hinter dem Brandenburger Tor begann die Halbstadt zu leuchten.

Im Westen gab es also etwas zu sehen, was eigentlich gar nicht existierte: quirliges Leben. Aus Stadtplänen und Schulbüchern war uns der unzugängliche Teil der Halbstadt nämlich nur als weißlich-beiger Farbton vertraut. Jenseits der Spree – suggerierten die Landkarten – befanden sich allenfalls Seen und Wälder, die in Umrissen angedeutet waren. Diese fremde Welt schien eine Art Reservat für wilde Tiere zu sein. Aber als Kind erblickte ich damals eine einzige Berliner Silhouette.

II. Christ und Stadt

„In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang / Versehen mit jedem Sterbesakrament: / Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.“ Nicht bloß Bertolt Brecht, der im Gedicht „Vom armen B. B.“ die Welt der Zwanzigerjahre besingt, hat Anteil daran, dass die Großstadt unter Gläubigen nicht gerade den besten Ruf genießt. Auf der anderen Seite der politischen Skala stehen für Oswald Spengler „Kino, Expressionismus und Boxkämpfe“ am Ende einer abschüssigen Entwicklung, die mit der großstädtisch-westlichen Massenkultur definitiv dem Untergang geweiht ist.

Babel und Bibel

Wer die Bibel liest, dem bleibt kaum eine Chance, sich an den großen Städten vorbeizudrücken: Jerusalem und Babylon, Ninive und Nazaret, Athen und Rom – sie alle stehen für mehr als geografische Orte. Im Buch der Bücher geht es aber nicht bloß um Geografie. Daher ist es notwendig, all die klangvollen Ortsnamen zu entziffern. Sie sind Realsymbole für geschöpfliche Wirklichkeit vor Gott: Menschsein in Freude und Angst, verstrickt in Sünde und Schuld, hoffnungsvoll und sehnsüchtig. Dennoch: Glaube und dörfliche Gemeinschaft, Großstadt und Gottlosigkeit – für viele reimt sich das noch heute. Aber die Welt-Gesellschaft ändert sich rasant. Das ist besonders an den urbanen Ballungsräumen abzulesen: Begriffe dafür sind demografischer Wandel, Migration, Integration, Bildung, Krankenversorgung, Gentrifizierung sowie beschleunigter Wandel der Arbeitswelt.

Die Stadt ist Ursprung der Zivilisation, Schmelztiegel von Kulturen und Religionen – ein Ort der Nachbarschaft. Seit Anfang des Jahres 2007, so die definitive Feststellung des Berichts der Vereinten Nationen State of the World's Cities 2006/07 lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in städtischen „Agglomerationen“, nicht zuletzt auf dem verstädtertsten Kontinent: dem „katholischen“ Lateinamerika. Gab es im Jahr 1950 erst 96 Metropolen mit einer Bevölkerung von über einer Million Einwohner, geht man heute etwa von 400 solcher Großstädte aus. Als „Megastadt“ wird eine Agglomeration von mehr als 10 Millionen bezeichnet; eine „Megacity“ wie Tokio, Mumbai, Delhi oder Mexiko-Stadt zählt danach 20 Millionen Einwohner. Bis zum Jahr 2030, so die Prognose, werden fast 60 % von geschätzten acht Milliarden Menschen in großen Städten zu Hause sein.31

„Los Angeles, die Stadt der Engel“, erklären Michael Sievernich und Knut Wenzel am urbanen Beispiel, „gilt als paradigmatischer Umschlag einer antik-abendländischen Stadtgeschichte in die gegenwärtige Epoche der Megalopolen. Diese werden uns vor Augen geführt vor allem als ungeheure Gebilde: das schiere Quantum ihrer Ausdehnung, ihrer Einwohnerzahl […], ihre komplex ineinander geschichteten Strukturen, ihre Reproduktionsfrequenz – all dies zur ikonisch verdichteten Darstellung gebracht im Bild der endlos identisch in die Fläche reproduzierten Einfamilienhäuser einer Stadt wie Phoenix, Arizona oder der räumlich hochverdichteten Wohnhochhausquartiere chinesischer Städte oder der unüberschaubar fraktalen Topografien lateinamerikanischer Favelas oder der alle politischen, sprachlichen, kulturellen Grenzen unabsehbar überschreitenden Stadtrhizome europäischer Agglomerationen.“32

Glaube, Geschichte und Großstadtleben

Religion und Großstadtleben sind aufs Engste miteinander verknüpft: schon im Alten Orient, später im antiken Athen und schließlich im imperialen Rom. Das illustriert der lateinische Begriff paganus. Er bezeichnet zugleich den Nichtgläubigen sowie den Landmann. Das ist ein sprechender Hinweis: Nicht der ländliche Raum, sondern die große Stadt gilt seit alter Zeit als genuine Stätte der Gottesverehrung. „Von den frühesten Gründungen an bestimmten der Tempel und das Haus des Herrschers sowie die kultisch bedeutsamen Tore das Gepräge der Stadt. Sie hat ihren Stadt- oder Schutzgott, der ursprünglich Herr oder Herrin der Stadt hieß, dessen Eigentum sie ist.“33 Wer sich daher am Leben einer Metropole beteiligte, nahm vor allem am Tempelkult teil. Das gilt auch für Athen.

„Ungeheures ist viel, und nichts / Ungeheurer als der Mensch. / Der nämlich über das graue Meer / Im stürmischen Süd fährt er dahin … / Und so, begabt mit Kunst und Wissen / Über Verhoffen, geht er bald zum / Bösen, bald zum Edlen hin, / Ehrt Gesetze des Landes und Recht / Der Götter vom Eide besiegelt, / Hochstädtisch; unstädtisch.“34 In der Tragödie Antigone, die 422 vor Christus in Athen uraufgeführt wurde, kommt Sophokles der Zerrissenheit des städtebauenden Menschen in besonderer Weise auf die Spur. Dabei geht es um die zeitlos aktuelle Frage: Ist es überhaupt möglich, in der Polis friedlich und gerecht zusammenzuleben? Antigone verkörpert bei dem antiken Autor gegenüber Kreon, dem König und Gesetzgeber von Theben, eine Existenzweise, die sich an göttlichen Geboten stärker orientiert als an staatlichen Gesetzen. Antigone, die Schwester des Polyneikes, übertritt das Gesetz, indem sie heimlich Erde auf den Leichnam ihres Bruders streut und damit den Brauch der Bestattung vollzieht – an einem Stadtverräter und Usurpatoren. Damit nimmt die Tragödie, die Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes eindringlich analysiert, ihren Lauf. Über den Anlass der Auseinandersetzung, die Bestattungszeremonie, hinaus sieht der Altphilologe Michael Grant als eigentliches Thema der Tragödie den Konflikt zwischen den Geboten der Polis „und den höheren Rechten einer ewigen Weltordnung. In der Terminologie der zeitgenössischen Sophisten, deren Denken Sophokles wohlvertraut war, müsste man sagen, dass es um den Gegensatz zwischen dem begrenzten Geltungsanspruch menschlicher Gesetze und Gebräuche (nomos) und den transzendenten Anforderungen ewig gültiger Naturgesetze (physis) geht.“35

Rom bildete über Jahrhunderte den Mittelpunkt des Imperium Romanum. Durch die Pax Romana ordnete das kaiserliche Rom den Erdkreis, den orbis terrarum. Auf dem Forum Romanum befand sich der Nabel der Welt, der umbilicus mundi, von dem alle Straßen des ganzen Reiches ausgingen – und von dem alle Wege vermessen wurden. „Dass die Stadt in Rom wirklich religiös gesehen wurde, zeigt die römische Stadtgründungszeremonie, in der das etruskische Vorbild weiterlebt. Das ,Pomerium‘, die Grenze zwischen urbs und ager (zwischen Stadt und offenem Land), hatte sakralen Charakter und sollte die feindlichen Gewalten abhalten. Sie wurde unter dem Beistand der Priester nach einem religiösen Ritual gezogen. Innerhalb dieses Bezirks legte man die Straßen systematisch in vier Hauptrichtungen an; auf der Kreuzung wurde eine Grube ausgehoben, ,mundus‘ [Welt] genannt, wodurch sich die Stadt als Welt im Kleinen darstellte.“36

Das Christentum verwurzelte sich zuerst in den Großstädten der Antike, keineswegs in ländlichen Regionen. Der Theologe Peter Pilhofer greift eine Terminologie auf, die der Althistoriker Eduard Meyer geprägt hat. Der Neutestamentler unterscheidet danach den „Ursprung“ (Jesus) vom „Anfang“ (Paulus) des Christentums; er macht damit deutlich, dass diese Religion weder exklusiv an ländliche noch an urbane Strukturen gebunden ist. Pilhofer beschreibt mit Blick auf die Synoptiker eine sukzessive Aufwertung kleiner Ortschaften zu regelrechten Städten – sozusagen ad maiorem Dei gloriam. Der Marktflecken Nazaret wird deshalb beim Evangelisten Lukas zur „Polis“. „Jesus wirkt nicht, wie es historisch gesichert ist und bei Markus entsprechend geschildert wird, in einer ländlichen Region, sondern er ist in Städten tätig, wie man das als Christ am Ende des ersten Jahrhunderts sich gar nicht anders vorstellen kann.“37

Wie die Umbrüche der 1989er-Freiheitsrevolution in europäischen Großstädten ihren Ausgangspunkt nahmen – Budapest, Warschau, Prag, Leipzig, Berlin und Bukarest –, so kamen politische und religiöse Reformimpulse auch in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten nicht vom Land, sondern bahnten sich, wie der Neutestamentler Martin Ebner in seiner Studie Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen38 zeigt, in den Metropolen ihren Weg: Das Christentum ist in der Stadt groß geworden. Es waren die Großstädte des Römischen Reichs, in denen christliche Gemeinden aus dem Boden schossen – so auch im syrischen Antiochien, mit einer halben Million Einwohner damals die drittgrößte Stadt des Imperium Romanum. Hier entstand erstmals eine Gemeinde, die Juden und Heiden unter einem Dach vereinte. Dieser religiösen Gruppe wurde damals ein Name und damit eine neue Identität beigelegt, die den Unterschied zu einer rein jüdischen Gruppierung markierte: Die Antiochener nannten sie christianoi – die Christusanhänger (Apostelgeschichte 11,26).

Es ist kein Zufall, dass ein identitätsstiftendes Dokument der neuen Glaubensrichtung, der Brief an die Römer, an Christen in der damaligen Welthauptstadt adressiert wurde. „Mit diesem für antike Maßstäbe recht ausführlich geratenen Brief stellte sich Paulus der christlichen Gemeinde in der Reichshauptstadt als von Gott berufener Apostel vor und erläuterte die Grundzüge seiner Missionsbotschaft. Obwohl der im kleinasiatischen Tarsus geborene und nach Jahren der Ausbildung in Jerusalem seit den frühen 30er-Jahren des ersten Jahrhunderts als christlicher Wanderprediger in Syrien, Kleinasien, Makedonien und Griechenland wirkende Jude Paulus die römische Gemeinde persönlich nicht kannte, kündigte er gleich zu Beginn des Briefes an, er werde seine Missionspredigt vor Ort auch noch einmal mündlich wiederholen (Römerbrief 1,15).“39 Auf der Liste des Paulus standen vor allem Großstädte: Damaskus, Antiochia, Ephesus und Rom. Durch die Missionierung der Metropolen machte der Apostel das Christentum zu einer regelrechten Stadtreligion.

„Im Mittelalter wirkt das Symbol der himmlischen Stadt vielfach auf die Gestaltung der städtischen Gemeinwesen ein. In Anspielung auf die heilige Stadt Jerusalem nennt sich die Metropole Köln ,heilig‘ (hille Kölle) und Mainz ,golden‘ (goldenes Mainz). Auf dem Trierer Hauptmarkt wird 985 das Säulenkreuz errichtet, das die apokalyptischen Symbole des Lammes und des Lebensbaums in die Mitte der Stadt stellt. In nicht wenigen Städten (z. B. Köln) wird der Mauerring mit 12 Toren ausgestattet, um durch den Bezug zum himmlischen Jerusalem ein neues städtisches Gemeinschaftsbewusstsein zu verankern.“40 Dass Glaube, Gott und Großstadtleben, das Säkulare und das Sakrale, historisch auf engste Weise miteinander verknüpft sind, lässt sich an großen mittelalterlichen Städten mit hohen Einwohnerzahlen also regelrecht ablesen. Die räumliche Mitte des Gemeinwesens ist daher durch ein architektonisches Zentrum ausgewiesen. Die Grundrisse von Paris, Köln, Magdeburg, Straßburg oder Erfurt stimmen darin überein, dass Hauptkirche, Dom bzw. Kathedrale ihren spirituellen Konzentrationspunkt bilden. Die Affinität von Christsein und Stadt ist deutlich sichtbar.

 
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