Liebesbrief an Unbekannt

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Patricia hob nicht ab. Emma hatte mindestens zehn Mal die Kurzwahl auf ihrem Handy gedrückt, war aber immer sofort auf Patricias Mobilbox gekommen. Also war das Handy abgeschaltet. Patricia brauchte ihren Schlaf, weil sie sonst untertags nicht genug Konzentration für ihre Arbeit hatte. Kein Wunder, es war kurz nach Mitternacht.

Sie war die Einzige, mit der Emma jetzt sprechen wollte und konnte. Sie war vom Lucky Beach zurück zu New Steine gerannt und hatte den Brief die ganze Zeit mit beiden Händen gegen ihre Brust gepresst.

Unten am Strand hatte sie es nicht gewagt, den Brief zu öffnen.

Wer hatte ihn geschickt?

Eric? War es Eric gewesen? Aber wieso wusste er von ihrer Schreiberei an den Traummann der Zukunft? Sie hatte keine Silbe darüber gesprochen. Er konnte es nicht wissen.

Noch ein Versuch, Patricia ans Handy zu bekommen, und wieder hörte Emma nur die Ansage der Mobilbox, die sehr knapp gehalten war.

»Patricia hier, offen für schöne Neuigkeiten, allergisch gegen alles andere.«

Es war Patricias privates Handy. Für ihre Kunden hatte sie eine eigene Nummer. Als Emma das einfiel, lief sie an den Computer im Arbeitszimmer und googelte Patricia, die Wahrsagerin von Brighton. Sie tippte die Geschäftsnummer ein und hörte gleich darauf die Ansage: Der Teilnehmer spricht gerade. Haben sie einen Augenblick Geduld.

Also »arbeitete« Patricia noch. Sie war wach, und Emma musste mit ihr reden. Weil sie das berufliche Telefonat nicht stören wollte, legte sie auf und schickte eine SMS an diese Nummer.

Emma

Dringend! Brief

von Unbekannt

bekommen!

Emma lief im Wohnzimmer unruhig auf und ab. Der Raum war, wie alle anderen im Haus, mit alten Möbeln bestückt, die einen traurigen und lieblosen Eindruck machten. Zwei kleine Chesterfield-Sofas aus fleckigem Stoff, ein Lehnstuhl, ein Buchregal, ein offener Kamin mit Gasfeuer und Marmoreinfassung, auf der drei staubige Glasvasen mit trockenen Ästen standen.

Auf das Kaminsims hatte Emma den Umschlag gestellt. Wie ein Tiger wanderte sie davor hin und her, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Wieso meldete sich Patricia nicht? Kannte sie die Bedeutung von »dringend« nicht?

Emma nahm den Brief zum gefühlt hundertsten Mal mit spitzen Fingern und drehte ihn.

Für Alptraumfrau Emma

Absender:

Wer-immer-ich-bin

Je länger sie nicht zurückrief, desto mehr war Emma überzeugt, dass Patricia hinter der Sache steckte. Sie hatte den Brief geschickt, damit Emma Hoffnung schöpfte. Das war wirklich sehr besorgt und lieb von ihr, andererseits auch enttäuschend. Es bedeutete, sie glaubte selbst nicht an ihre eigenen Empfehlungen.

Beim nächsten Gedanken musste sich Emma setzen: Patricia konnte nicht die Briefschreiberin sein, da Emma ihr erst am vergangenen Abend erzählt hatte, dass sie mit dem Briefeschreiben an Unbekannt begonnen hatte. Der Brief an sie war aber am Nachmittag eingeworfen worden.

Lange hielt Emma die Spannung nicht mehr aus. Sie wollte den Brief aufreißen und lesen, was drinnen stand. Wieso brauchte sie dazu Patricias Einwilligung? Das konnte sie doch auch einfach so machen. Sie streckte die Hand aus, als ihr Handy zu vibrieren begann.

PATRICIA stand auf der Anzeige.

Emma hob ab und rief ins Handy: »Ich habe einen Brief von ihm bekommen!«

»Darling, ich habe jetzt gerade zwei Stunden einen Börsianer beruhigt, der fürchtet, dass morgen der große Crash kommt und er alles verliert. Ich will ins Bett.«

»Patricia, ich habe einen Brief in der Post gehabt. An mich, von meinem Mann der Zukunft.«

Kurze Pause am anderen Ende. »Das ist kein Scherz?«

»Nein.«

»Was steht drinnen?«

»Ich traue mich nicht, ihn aufzumachen.«

»Sitzt du davor und starrst ihn an?«

»Ja.«

»Was steht auf dem Umschlag?«

Emma las Patricia Adresse und Absender vor.

»Wieso Absender: Wer immer du bist?«

»Das habe ich in meinen Briefen so geschrieben: Lieber Wer-immer-du-bist.«

Eine Pause trat ein, diesmal länger. Emma konnte durch das Telefon fühlen, wie Patricia nachdachte.

»Wem hast du von den Briefen erzählt?«

»Niemandem. Keiner Menschenseele.«

»Sicher. Ich meine, du trinkst doch gerne mal was.«

»Nein, ich war nicht betrunken und habe nicht im Rausch alles ausgeplaudert.«

»Irgendein Liebesgeflüster oder so, bei dem du dich vielleicht verplappert hast?«

»Liebesgeflüster? Was soll das denn heißen? Ich habe dir doch heute erzählt, dass es da nur Eric gibt und mit dem ist alles weit von Liebesgeflüster entfernt. Wir hatten nur ein Bier. Nein, zwei. Oder drei.«

»Eben. Kann es dabei geschehen sein? Kann das ein getarnter Liebesbrief von ihm sein?«

»Nein, nein, nein und noch einmal nein!« Emma schrie fast ins Telefon.

»Mach ihn auf und lies mir vor, was drinnen steht.«

»Das kann ich nicht.«

»Wieso schon wieder nicht?«

»Weil ich enttäuscht sein könnte.«

»Emma, du kannst vielleicht auch zu jubeln beginnen.«

Daran glaubte Emma aber einfach nicht. Besser in Ungewissheit bleiben. »Ich lasse den Brief einfach hier am Kamin stehen.«

Patricia sagte nichts drauf.

»Ich schlafe und sehe ihn mir morgen an.«

»Wenn du das aushältst.«

Emma fand die Vorstellung aufregend. Die Spannung und Neugier waren ein wenig wie Weihnachten, wenn sie die verpackten Geschenke am Bettende fand und an der Form nicht erraten konnte, was sie enthielten. Etwas aber musste sie Patricia unbedingt fragen.

»Ist das schon einmal geschehen? Hat jemand einen Brief von Unbekannt bekommen?«

»Nein. Das habe ich noch nie gehört.«

»Hast du sonst irgendeine Erklärung?«

»Nein.«

»Sicher nicht?« Vielleicht »sah« Patricia etwas, das sie Emma nicht verraten wollte, ging Emma durch den Kopf.

»Wir treffen uns im Marmalade. Zum Frühstück«, schlug Patricia vor. Das Marmalade war ein trendiges Café am Ende von Kemptown, das die besten Sandwiches, Croissants und den größten Cappuccino servierte. Weil Emma nicht sofort reagierte, sagte Patricia schnell: »Meine Einladung natürlich. Wenn ich dir schon das Briefschreiben an Unbekannt empfehle, dann übernehme ich die volle Haftung.«

Emma war dankbar, dass Patricia in diesem Fall ihre Gedanken gelesen hatte. Sie war so knapp bei Kasse, dass selbst ein Besuch im Marmalade derzeit für sie Luxus war.

Sie verabschiedete sich von Patricia und legte auf. Noch einmal griff sie nach dem Brief. Sie roch am Papier und war ein wenig enttäuscht. Das Einzige, was sie riechen konnte, war Zigarettenrauch. Wer ihn angefasst hatte, war also Raucher.

Sie hasste Rauch und konnte sich niemals vorstellen, einen Raucher zu küssen. Die erste Enttäuschung war schon eingetreten, und bei ihrem Pech würden weitere bestimmt folgen.

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Die Cappuccino-Tasse war so groß wie eine Suppenschüssel. Das Croissant fühlte sich angenehm warm und fettig an. Es hatte am Morgen zu nieseln begonnen und an den Scheiben des Marmalade rannen die Tropfen herab.

Das Innere des Cafés hatte seinen sehr speziellen Chic mit hellen alten Tischen und Stühlen, die alle vom Flohmarkt stammten. Auch Teller und Besteck waren alt, abgeschlagen und verbogen. Plastik gab es hier nicht, die Sandwiches waren in Backpapier gewickelt und mit Bindfaden zugebunden. Im Gegensatz zur Einrichtung von Tante Nells B&B war der Shabby Chic des Marmalade gemütlich und freundlich.

Patricia hatte grünen Matcha-Tee gewählt. Er war von einem sehr ernsthaften Studenten mit dicken Brillen aufgeschlagen und gebracht worden.

»Zeig her«, verlangte Patricia. Sie nippte am heißen Tee und gönnte sich schnell einen Bissen von ihrem Vollkorncroissant.

Emma wischte sich die Hände ab. Sie hatte fettige Finger, denn ihr schmeckte nur ein Croissant, das »Speck an der Hüfte« heißen sollte, wie sie manchmal dachte. Vorsichtig holte sie den Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Patricia. Seit der Entdeckung des Rauchgeruchs war Emmas Neugier und Begeisterung etwas abgeflaut.

Patricia war ungeschminkt, was ihr Gesicht ungewohnt erscheinen ließ. Sie betrachtete den Umschlag prüfend von beiden Seiten und zog ein Messer aus dem Ständer auf dem kleinen Tisch.

»Soll ich, oder willst du?«

»Nein, ich.« Emma nahm ihr den Brief wieder ab und Patricias drängender Blick ließ gar nichts anderes zu, als die Klinge in die kleine Öffnung an der Seite der Flappe zu stecken und das Papier zu zerschneiden. Ihre Hand zitterte, als sie einen gefalteten Briefbogen herauszog. Es war leicht gelbliches Papier, nicht dick und teuer, aber auch nicht einfach Druckerpapier. Emma atmete ein und öffnete den Brief. Ihre Augen zuckten über die wenigen Zeilen. Danach schüttelte sie den Kopf leicht und ihre Augenbrauen wanderten hoch.

»Darf ich auch?« Es war keine Frage, sondern ein Befehl von Patricia.

Emma beugte sich zu ihr und las leise vor:

Liebe Emma,

es gibt einen Satz, der nicht von mir ist, sondern von einem Yogi am Himalaya. Dank dir ist er mir wieder eingefallen. Ich will ihn unbedingt mit dir teilen. Allein der Gedanke daran hat mir geholfen, wieder freudig nach vorne zu sehen. Vielleicht geht es dir auch so.

Die Weisheit des Yogi lautet:

In Wahrheit ist es einfach Liebe.

Es klingt so einfach und ist doch so schwierig.

Ich hoffe, ich habe mich jetzt nicht aufgeführt wie ein Elefant im Porzellanladen und du findest diesen Satz aufdringlich. Vor langer Zeit einmal habe ich ihn gelesen und er hat mich beruhigt und gestärkt. Vielleicht hat er auf dich die gleiche Wirkung.

 

Ein Mann, der gerne ein Traummann wäre, aber mehr ein Alptraummann ist

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Romantisch.« Patricia nahm einen weiteren Schluck ihres Matcha-Tees. Ein kleiner grüner Schaumbart blieb auf ihrer Oberlippe zurück.

»Das habe ich auch so geschrieben in meinem ersten Brief. Deine zukünftige Traumfrau, die allerdings derzeit eine Alptraumfrau ist.« Emma las den Brief immer wieder, weil sie den Wortlaut der Zeilen nicht glauben konnte. Wenn sie in der Nacht auch alle Funken von Verliebtheit in einen Unbekannten in sich erstickt hatte, so glommen sie nun wieder voll auf.

In Wahrheit ist es einfach Liebe.

Einfach Liebe.

»Ist es nicht sehr früh, wenn er jetzt schon von Liebe spricht?«, fragte Emma.

»Schätzchen, er schreibt nicht, dass er dich liebt. Er schreibt von der Kraft der Liebe, der Wahrheit und der Einfachheit.«

»Aber es klingt, als hätte er meine Briefe gelesen. Meine Briefe an Unbekannt. Wie?«

»Das kannst nur du wissen.«

Aber Emma wusste es nicht.

»Wer ist er?« Emma wackelte mit dem Umschlag vor Patricias Gesicht.

»Hast du wirklich niemandem von den Briefen erzählt?«

»Wie oft noch? Nie-man-dem. Außer mir weiß niemand, dass ich mich Alptraumfrau genannt habe und zukünftige Traumfrau. Genau wie er in seinem Brief.« Emma sah Patricia flehentlich an. »Wenn du etwas weißt, dann sag es. Bitte!«

»Hier geht es nicht um Wissen.«

»Sondern?«

»Um mehr.«

»Was soll das wieder heißen?«

»Ich habe von so einem Antwortbrief noch nie gehört. Das Universum, der Himmel, die Macht, die uns umgibt, sie senden uns Botschaften. Manche versteckt, manche offen. Aber schriftlich sind sie mir noch nie untergekommen.«

Es war Patricia anzuhören, dass sie es genau so meinte, wie sie es sagte.

»Was mache ich jetzt?«

»Nichts.«

»Wie bitte?«

»Du lebst.«

»Aber ich will wissen, wer den Brief geschickt hat. Welcher Mann schreibt so etwas? – In Wahrheit ist es einfach Liebe?«

»Wenn die Zeit reif ist, wirst du ihn treffen.«

»Und bis dahin?«

»Verwendest du viel Liebe für dich selbst. Du verdienst sie nämlich. Statt zu warten, dass dich jemand liebt, tu es einmal selbst. Es wird dir guttun.«

Emma spürte, wie die Wut in ihr aufwallte. Sie wollte wissen, wer der Briefschreiber war, und Patricia mit ihren seherischen Kräften wusste vielleicht schon mehr. Sie hätte Patricias Tasse packen und ihr das grüne Zeug ins Gesicht schütten können.

»Ich weiß, was du jetzt tun willst. Aber es bringt dir auch keine Klarheit«, sagte Patricia seelenruhig.

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Emma machte im Kopf eine kleine Liste:

Ruhige Minuten an diesem Tag: null

Ruhig gesessen an diesem Tag: nullmal

Pulsschlag: gefühlte zweihundertmal in der Minute

Schweißausbrüche trotz des kühlen Windes: mindestens zehn Mal

Zum Briefschlitz nachsehen gegangen, ob ein weiterer Brief eingeworfen worden war: geflunkerte 99-mal, in Wirklichkeit wahrscheinlich dreihundertmal

Gutes Gefühl, weil das viele Laufen durch das Haus auch eine Art Fitness-Training ist: durchaus

An Eric gedacht: dauernd

Mich gefragt, ob er den Brief geschrieben hat: dauernd

Mich schrecklich gefühlt, weil ich eine Alptraumfrau bin und bleibe: ständig

Mich als blöd beschimpft, weil ich so viele Lügen erzählt habe: gefühlte unendlich viele Male

Mich in den Spiegel geschaut und hässlich gefunden: viermal, danach habe ich den Spiegel abgehängt und zur Wand gedreht.

Um sich zu beschäftigen und abzulenken, zog Emma die vertrockneten Äste aus den Glasvasen, warf sie weg und brach auf, um etwas anderes zu finden, das sie hineinstecken konnte und das lebendiger wirkte.

Als sie New Steine nach oben Richtung St. James’s Street ging, blieb sie auf einmal stehen und glaubte zu wissen, wer ihr da geschrieben hatte. Sie hatte eine Erklärung, wieso jemand den Brief gelesen hatte und sie als Traumfrau und sich als Alptraummann bezeichnete. Die Lösung war so einfach.

Nach ihrer Schwärmerei für Eric war Emma aber etwas aus dem Häuschen über den neuen Mann, der sich da für sie interessierte und ihr einen so wunderbaren Satz geschickt hatte.

Patricia hob auf keiner der beiden Nummern ab. Da Emma wusste, wo sie zu finden war, machte sie sich sofort auf den Weg.

14

Das ovale Holzschild an der Tür sagte: »Bitte Geduld und Vorfreude«.

Patricias Arbeitsplatz am Pier, weit draußen auf dem Steg, war ein hölzerner Planwagen. Drei Stufen führten hinauf zur Tür. Daneben war ein Schild angebracht, das Patricias Auftritte im TV beschrieb sowie einige Wahrsagungen, die sich als richtig erwiesen hatten.

Die Wagen der Achterbahn donnerten in der Nähe über die Schienen, ein paar junge Leute kreischten, als sie in einem Kanu einen Wasserfall hinunterrasten und nass wurden. Emma lief vor dem Wagen auf und ab, verließ den Platz aber nicht, damit sich niemand vordrängte.

Sie wartete und wartete. Nach 45 Minuten warf sie die Arme in die Luft. Wer war da bei Patricia drinnen, und was sagte sie ihm? Normalerweise waren ihre Termine doch im 15- oder 30-Minuten-Takt. Allerdings war jetzt auch Vorsaison, und vielleicht nahm sie sich da mehr Zeit.

Eine Stunde war vorbei, aber aus dem Wohnwagen war noch immer kein Lebenszeichen gedrungen.

»Hey, Emma!« Patricia war hinter Emma aufgetaucht, eine große Tüte Fish&Chips in der Hand. »Willst du?«

»Nein.«

»Was tust du hier? Lust auf Achterbahn?«

»Ich suche dich. Wieso sagst du, dass du jemanden drinnen hast, wenn es nicht stimmt?«

Patricia betrachtete das Schild. »Bitte Geduld und Vorfreude. Stimmt doch. Es sagt nicht, dass ich eine Kundin oder einen Kunden habe. Auch eine Wahrsagerin braucht Pausen.«

Emma machte eine wegwerfende Handbewegung, um zu zeigen, dass das jetzt egal war. »Ich weiß, von wem der Brief ist«, platzte sie heraus.

Patricia wollte sich gerade ein Stück gebackenen Fisch in den Mund schieben, ließ ihn nun aber wieder zurück in die Tüte sinken. »Ich höre.«

»Am Montag hätte ich beinahe wieder die Müllabfuhr verpasst. Ich bin im Bademantel hinaus, habe ihnen meine Müllsäcke gegeben und den Papierkorb mit den Fehlversuchen mitgenommen.«

»Du meinst Briefe, die dir nicht gefallen haben?«

»Ja. Mindestens…«, Emma ruderte mit den Armen in der Luft, »mindestens fünfzig zerknüllte Blätter. Ein paar sind runtergefallen, und der Wind hat sie fortgeweht. Aber dann kam ein Mann, dem ich Bier über den Pullover geleert habe, und er hat mir beim Aufheben geholfen.«

»Du meinst, er hat einen Brief gelesen?«

»Möglich. Er hat einen Hund.«

»Du hast ihn also in Bier gebadet, und er hat einen Hund. Sonst noch was? Woher kennst du ihn?«

Emma erzählte von dem Unfall im Fitzherbert. Patricia schloss die Tür zu ihrem Wagen auf und musste den Kopf einziehen, als sie eintrat. Emma folgte ihr.

Der Wagen war innen mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen, es gab an der Hinterwand einen kleinen Tisch und einen Stuhl mit schmaler hoher Lehne für Patricia, für den Kunden einen bequemen Sessel davor.

»Ist es im Sommer hier nicht sehr heiß?«, wollte Emma wissen.

»Darling, ich habe eine Klimaanlage. Ich bin Wahrsagerin, aber nicht von vorgestern. Ich habe auch eine Heizung und…« Patricia lüftete den Stoff an der Wand, und dahinter kam eines dieser Zahlgeräte zum Vorschein, in das man Kreditkarten steckte, »ich bin gut ausgestattet.«

»Aha. Wahrsagung mit Kreditkarte bezahlen.« Emma fand es reichlich unromantisch, aber praktisch.

»Zurück zu deinem Traummann. Wie gefällt er dir?«

»Er sieht gut aus. Ich meine, er ist kein Model oder so, aber das muss ein Traummann auch nicht sein. Er war freundlich, als ich seinen Pullover durchnässt habe, und er riecht so gut. Aber er raucht.«

»Hast du ihn rauchen gesehen?«

»Nein, aber der Umschlag riecht nach den Fingern eines Rauchers.«

»Das ist ein dicker Minuspunkt.«

»Ist es. Sein Parfüm mag ich dafür sehr.«

Patricia hatte auf ihrem Stuhl Platz genommen und tippte die Fingerspitzen aneinander.

»Interessanter Weg, wie der Brief zu einem Mann führt, der für dich besonders sein kann.«

»Ist er mein Traummann?«

Wieder einmal schwieg Patricia auf diese Art, die Emma einfach wahnsinnig machte.

»Passt der Brief zu deinem Bier-Pullover-Anwalt?«, fragte sie schließlich.

Ratlos zuckte Emma mit der Schulter. Sie konnte es nicht abschätzen. »Da war eine Frau im Pub. Sie hat sich beschwert, dass er nicht in die Vorstellung gekommen ist.«

»Eine Schauspielerin?« Patricia nahm ihr Smartphone und googelte. »Im Theater Brighton läuft derzeit ein Krimi.« Sie überflog den Inhalt und studierte die Fotos der Schauspieler. »War sie das hier?« Sie zeigte Emma das Bild einer Frau mit schulterlangen dunklen Haaren.

»Ja, das war sie.«

»Nur eine Freundin. Da kann ich dich beruhigen.«

»Bist du sicher?«

Patricia nickte, gab aber keine weitere Erklärung ab, wieso sie das zu wissen glaubte.

»Soll ich… soll ich ihn suchen? Er muss in der Nähe wohnen. Ich kann auch am Abend ins Pub gehen und dort warten. Vielleicht kommt er. Oder was soll ich machen?«

Diesmal überlegte Patricia länger. »Schreib ihm.«

»Wie schreiben?«

»So wie du den ersten Brief geschrieben hast.«

»Es waren verschiedene.«

»Gut, gut. Schreib ihm weiter. Beschreibe deine Träume und Wünsche und erzähle etwas Schönes von dir.«

»Patricia, ich weiß nicht, wer er genau ist, ich habe keine Adresse, ich…«

Lächelnd hörte ihr Patricia zu, ohne darauf einzugehen, was sie sagte. »Emma, vertrau mir. Bisher ist es doch schon ganz interessant gelaufen.«

»So viel ist nicht geschehen«, relativierte Emma. »Der Typ kann eine taube Nuss sein, wie Philip. Der ist am Anfang auch erschienen wie ein junger Gott.«

»Hast du andere Ideen?«

Nein, die hatte Emma nicht. Aber sie hatte eine Frage. »Was mache ich mit dem Brief oder den Briefen dann? Wieder wegwerfen und hoffen, dass er sie findet?« »Nein. Schließ sie weg.«

»Wie soll er dann etwas davon erfahren?«

»Sei ein Leuchtturm der freudigen Gedanken. Das reicht.«

»Manchmal machst du mich wahnsinnig«, sagte Emma.

Es wurde an die Tür geklopft. Patricia räusperte sich und rief mit tiefer Stimme: »Ich bin sofort für sie bereit.« Zu Emma sagte sie: »Das Business ruft. Wir hören uns. Viel Glück.«

15

Das weiße Papier vor ihr auf dem Schreibtisch schien sie herausfordernd anzugrinsen. Emma senkte immer wieder die Spitze der Füllfeder, um etwas aufzuschreiben, hob sie dann aber wieder und steckte die Kappe auf.

Kein Wort schien ihr richtig. Sie hatte bisher nur die Anrede geschafft sowie einen ersten Halbsatz.

Lieber unbekannter Traummann,

es gibt so viel, das ich…

Das war es dann auch. Weiter kam Emma einfach nicht.

»Es gibt so vieles, das ich dir erzählen möchte. So vieles, das ich von dir wissen will«, murmelte sie. Sie sah wieder hinaus in die hereinbrechende Dunkelheit, die Straßenlampen gingen gerade wie auf ein geheimes Kommando nacheinander an.

»Es gibt so vieles, das du über mich wissen solltest. Aber ich habe auch so viele Fragen an dich, und wie soll ich sie dir stellen?«, sagte Emma halblaut.

Der Türgong tönte in der Diele. Emma sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun Uhr. Sie ging zur Tür und sah durch den Spion. Im Windfang stand ein schmächtiger Mann mit Hängebacken, der ungeduldig auf und nieder wippte. Sie öffnete.

Der Mann starrte sie überrascht an. Emma schätzte ihn auf Ende fünfzig.

»Guten Abend«, sagte sie höflich. Sein Koffer ließ vermuten, dass er ein Zimmer suchte.

»Nell erwartet mich.«

Emma lächelte entschuldigend. »Nell ist für ein Jahr verreist.«

»Wieso hat sie mir das nicht gesagt?«

»Das weiß ich nicht, aber ich vertrete sie und führe das B&B.«

»Wieso habe ich nichts erfahren, als ich mich angemeldet habe?«

 

»Angemeldet?«

»Ich habe geschrieben. Einen Brief. Wie immer.«

»Aha. Die Post ist manchmal etwas langsam hier.«

Der Mann hob einen kleinen Koffer hoch und drängte sich an Emma vorbei ins Haus. In der Diele blieb er kurz stehen und musterte sie von oben nach unten. »Sie vertreten Nell also?«

»Ja, ich habe von ihr alles übernommen.«

»Alles. Ja?«

»Alles hier!« Emma deutete in der Diele herum. »Wie war Ihr Name doch?«

»Henry Drummer. Drummers Ewiger Friede.«

Dieser Firmenname kam Emma bekannt vor. Ihr fiel ein, wo sie ihn schon gelesen hatte. Er war auf einem der Umschläge gestanden, die sie beschrieben hatte. Sie musste ihn noch in Nells Büro liegen haben.

»Wo ist Nell hin? Und wieso steht der Spiegel verkehrt?« Er deutete auf den Wandspiegel in der Diele, den Emma vom Haken genommen hatte, damit sie sich nicht mehr darin ansehen konnte.

»Sie trampt durch Afrika. Ohne Handy und Laptop.« Zu Emma hatte sie auch gesagt, dass sie eine »neue Ebene der Erkenntnis und Tiefe des Bewusstseins« erreichen wollte. Aber das hielt Emma nicht für erwähnenswert.

Henry Drummer musterte Emma noch immer kritisch. Deshalb fügte Emma hinzu: »Nell ist meine Tante und wie gesagt, sie hat mir alles hier übergeben.«

»So, so, alles übergeben«, hörte sie ihn leise sagen. »Dann ist es ja gut.« Seine Haare waren gefärbt und schimmerten unnatürlich schwarz im Licht der Deckenlampe. Der weiße Nachwuchs war an den Wurzeln zu sehen.

Emma fiel ein, dass keines der Zimmer hergerichtet war, in allen lagen Kissen und Decken ohne Überzüge herum. Staubsaugen und Fensterputzen hatte Emma für den Freitag eingeplant gehabt, da sie nur zwei Buchungen für das Wochenende hatte. Der unerwartete Gast kam ihr allerdings sehr gelegen, da sie das Geld brauchte.

»Ich… bereite schnell alles vor«, sagte sie und verstellte Mr. Drummer den Weg nach oben. Sie stand wie ein Wachhund am Fuße der Treppe und streckte die Arme zur Seite. »Machen Sie es sich doch im Wohnzimmer bequem.«

»Hat Nell gesagt, was mein Zimmerpreis ist und was alles inkludiert ist?«

Emma versuchte sich zu erinnern, ob ihre Tante etwas erwähnt hatte. Sie hatte Emma mit Informationen und Ermahnungen überschüttet, und ab einem gewissen Zeitpunkt hatte Emma einfach nicht mehr zugehört.

»Sie hat mir alles aufgeschrieben. Bevor ich nachsehe, eine Frage: Haben Sie ein Lieblingszimmer hier?«

»Nummer vier. Wie immer.«

Nummer vier war ein Doppelzimmer in den Hof mit einem kleinen Bad. Das Bett war riesig, mit einem mächtigen Haupt aus dunkelbraunem Holz, die Matratze durchgelegen, und Emma hatte, als sie sich einmal spaßhalber darauf geworfen hatte, das Gefühl, vom Bett verschlungen zu werden.

Sie deutete auf die offene Tür zum Wohnzimmer. »Wenn Sie es sich kurz bequem machen?«

»Bequem?« Drummer hustete verächtlich. »Ich muss arbeiten. Morgen besuche ich sechs Kundinnen.«

Zu Emmas Erleichterung ging er mit seinem Köfferchen dann doch in das Wohnzimmer, und sie schloss die Tür hinter ihm. Als Erstes lief sie in das Büro und suchte den kleinen Sekretär ab, der an der Wand stand, konnte aber dort die Post nicht finden.

Sie riss ihre Kapuzenjacke von dem Stuhl in der Ecke, und darunter lagen die Umschläge, auf die sie ihren Brief beim Lucky Beach geschrieben hatte. Emma blätterte sie durch und zog das längliche Kuvert heraus, das einen schwarzen Firmenaufdruck mit dem Wortlaut: Drummers Ewiger Friede trug.

Nell besaß einen Brieföffner mit Marmorgriff. Schnell schlitzte Emma den Brief auf und zog das gefaltete Blatt heraus. Es war mit der Hand geschrieben.

Ich werde am 11. Mai etwas später als sonst eintreffen und zwei Nächte bleiben. Alles wie üblich, wenn ich bitten darf.

Was meinte er mit »wie üblich«? Wollte er mehr Kissen in seinem Bett oder spezielles Brot für das Frühstück?

Emma lief in den ersten Stock, stürmte in Zimmer vier und schob als Erstes das Fenster nach oben. Die Luft im Raum war muffig und feucht, Lüften dringend nötig. Im Schrank fand sie Überzüge für die gigantische Decke und die dicken Kissen. Sie kämpfte mit dem Laken und stopfte Kissen und Decke einfach so gut es ging in die klammen Überzüge. Noch ein kleines und ein großes Handtuch ins Bad an den Haken, dann war das Zimmer fertig.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte Henry Drummer dort das getan, was er wohl unter »wohlfühlen« verstand. Sämtliche Sitzmöbel und der niedere Couchtisch waren mit Mappen übersät. Jede Mappe trug einen Namen, geschrieben in geschwungener Handschrift.

»Das Zimmer ist bereit. Ich helfe Ihnen rauftragen«, bot Emma an.

»Meine Unterlagen bleiben hier, wie immer.« Drummer nahm den kleinen Koffer und sah sie streng an. »Nichts anfassen, es ist alles genau geordnet.«

Er schritt an Emma vorbei zur Treppe. Auf der dritten Stufe blieb er stehen und drehte sich zu ihr. »Wie üblich, nicht wahr?«

In Emmas Kopf klingelte eine alte Registrierkassa. Zufriedener Gast, gutes Geld, vielleicht sogar ein Trinkgeld. Also lächelte sie künstlich und versicherte ihm, dass ihr Service dem von Nell natürlich um nichts nachstand. Henry Drummer nickte zufrieden und setzte den Weg nach oben fort.

Emma verschwand im Arbeitszimmer und öffnete Nells Laptop. Sie suchte in den wenigen Ordnern nach Aufzeichnungen über die Gäste, konnte aber nichts finden. Normalerweise buchten Gäste über die Homepage, aber auch dort gab es im Archiv keine Notiz über Mr. Drummer. Die letzte Hoffnung waren die E-Mails, doch keines stammte von Drummer. Er schien immer Briefe zu schicken.

Hektisch durchsuchte Emma alle Laden des Schreibtisches und den schmalen Wandschrank mit den Ordnern. Frühere Post von Henry Drummer war nicht zu finden.

Was konnte Nell diesem Gast geboten haben? Emma klappte ihren Laptop auf und googelte Drummer Ewiger Friede. Es gab keine Homepage, aber in einer lokalen Zeitung einen kleinen Bericht über ihn. Er hatte es zum Geschäftsmodell gemacht, alte, alleinstehende Damen zu betreuen und ihnen zu Lebzeiten bereits das perfekte Begräbnis zu verkaufen. Außerdem garantierte er, wenn gewünscht und nötig, ihr Erbe abzuwickeln, für ihr Haustier einen neuen Platz zu finden und trauernde Freunde zu trösten. Er tat das auf betont altmodische Art und Weise, ohne E-Mails, nur mit handschriftlichen Briefen, und wollte auf diese Weise Vertrauen erzeugen.

Was für ein ungewöhnlicher, schrulliger, aber auch stilvoller Mann, dachte Emma. Wahrscheinlich brauchte er spezielle Mahlzeiten, oder Nell hatte ihm die weißen Hemden gebügelt. Emma beschloss, an seiner Zimmertür zu klopfen und ihn vorsichtig zu fragen.

Sie hatte den Fuß auf die erste Stufe der Treppe gesetzt, als wieder der Türgong ertönte. Emma warf einen Blick durch den Spion und zuckte zusammen.

Draußen leuchteten Erics rote Haare im Schein der Lampe über dem Eingang. Er hielt etwas in der Hand, das wie eine Weinflasche aussah.

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