Liebesbrief an Unbekannt

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Tut mir leid, aber dieses Briefeschreiben kommt mir einfach nur verrückt vor.« Emma seufzte. Es war Abend, und sie hatte eine Einladung zum Abendessen bei ihrer Freundin Patricia angenommen.

»Emma.« Patricia setzte sich ihr gegenüber an den Esstisch. Sie war noch immer von ihrer Arbeit geschminkt: dunkel umrahmte Augen, violetter Lippenstift, silberfarbener Lidschatten, der ein wenig glitzerte. Mit einem geschickten Griff öffnete sie ihre Haare, die hinten auf dem Kopf zusammengesteckt waren. Die dicken Locken der Kraushaarmähne wippten auseinander wie Sprungfedern. Patricias Gesicht erinnerte Emma immer an einen kleinen Mond, der aus der Nacht der dunklen Mähne schien.

»Ich weiß, du hast es mir erklärt, und ich…«

Patricia legte ihre Hand auf die von Emma. Die Fingernägel waren mitternachtsblau lackiert und mit kleinen Goldsternchen beklebt. »Das Business braucht diese Verkleidung. Ich könnte meine Vorhersagen auch im Bikini machen, aber das nehmen die Leute nicht so ernst«, hatte Patricia einmal ihren Aufzug erläutert.

»Emma, du hörst mir jetzt noch einmal genau zu, solange wir nüchtern sind. Danach werden wir zur Feier des Tages, weil du es endlich verstanden hast, eine Flasche Sauvignon Blanc köpfen und leeren. Und wenn uns danach ist, auch noch eine zweite. Damit überschreiten wir das erlaubte Tageslimit an Alkohol, erweisen uns als völlig unvernünftige und alkoholgefährdete Frauen, aber das ist mir egal. Ich hoffe, dir auch.«

Gehorsam nickte Emma, denn etwas anderes hätte Patricia nicht geduldet.

»Ich sage es dir noch einmal.« Patricia redete in ihrer ruhigen, etwas rauchigen Stimme, in der sie manchen Leuten Vorhersagen für ihr Leben machte, die in Wirklichkeit eine Art Hypnose waren, wie sie ebenfalls einmal verraten hatte. »Außerdem kannst du es auf meiner Homepage nachlesen.« Sie griff nach ihrem Laptop, klappte ihn auf, tippte und drehte Emma den Bildschirm hin.

Emma las mit, während Patricia ihr vorlas.

Liebesbrief an Unbekannt

Die Kraft der Anziehung nutzen, um einen Partner mit Herz und Hirn ins Leben zu ziehen. Wer Energie ausstrahlt, zieht Energie an. Es muss aber die richtige Energie sein, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Stell deine Energie vom »Wunsch nach einem Partner« auf »Ich habe einen Partner und bin glücklich« um, dann wirst du ihn in dein Leben ziehen.


Briefe an einen Partner zu schreiben, der nur in der Zukunft existiert, ist ein Zeichen an den Kosmos, diesen Menschen in deine Richtung zu bewegen, damit ihr einander treffen könnt.


Da diese Technik eher von Frauen angewendet wird als von Männern, richtet sich diese Anweisung auch an Frauen. Alle Herren sind aber herzlich eingeladen, es genauso zu machen.


Grundsätzlich: Du bist eine Frau, die einen großartigen, warmherzigen, ehrlichen, gut aussehenden Mann verdient. Einen Mann, der dich liebt und den du aus ganzem Herzen liebst. Einen Mann, der dich ehrlich will und nicht braucht und umgekehrt genauso. Einen Mann, der dein bester Freund ist, und du bist seine beste Freundin. Gerne fügen wir hinzu, dass er eine Kanone im Bett und treu ist.


Wir legen uns weder auf Haarfarbe noch Beruf oder Herkunft fest, denn diese Wahl überlassen wir dem Universum, dem Kosmos, der großen Macht, die uns umgibt.


Dieser Mann ist bereits geboren. Er hat genau das richtige Alter für dich und er ist gerne bereit, in dein Leben zu kommen, weil er dich genauso gerne treffen möchte wie du ihn. Er sucht eine Frau wie dich, weiß es vielleicht aber noch gar nicht, und dich kennt er schon gar nicht.


Dieser Mann mag irgendwo auf der Welt sein, aber das spielt keine Rolle, wenn du gewillt bist, ihn in dein Leben zu ziehen.


Du wartest nicht auf deinen Märchenprinzen, denn es gibt keine Märchenprinzen. Du bist auch keine Prinzessin, sondern eine Prachtfrau mit jeder Menge Macken, die dazugehören. Bei ihm ist es nicht anders.


Schick Energie an den Unbekannten aus, damit er dich finden kann. Er wird zu dir gezogen, oder aber du entdeckst den Weg zu ihm. Dafür musst du leuchten. Deine Energie muss das Universum durchdringen und in tausenden kleinen Strahlen ausgesandt werden. Einer davon wird den Mann deines Herzens und dich zusammenführen.


Liebesbriefe an Unbekannt zu schreiben ist eine Art, die richtige Frequenz einzustellen, damit du deinen Traummann anfunkst. Du musst die Wellenlänge vorgeben, auf der du funkst. Ist sein Empfänger auf diese Wellenlänge eingestellt, so wird durch Zeit und Raum ein unsichtbarer Kontakt hergestellt. Die kosmischen Kräfte werden alles in Bewegung setzen, damit Funkturm – also du – und Empfangsgerät – also er – zueinander finden.

7

Emma ließ die Worte einsickern. »Wie lange kann das dauern?«

»Von fünf Sekunden bis zu fünf Jahren.«

»Die fünf Sekunden hören sich gut an, die fünf Jahre weniger. Bis dahin bin ich alt und grau.«

»Wie alt bist du jetzt?«

»29.«

»Aha, und mit 34 bist du alt und grau.«

»Du weißt, wie ich das meine.«

»Die fünf Sekunden sind schon allein deshalb zu kurz für dich, weil du einen Mann brauchst. Weil du ihn dir so wünschst.« Patricia schlug auf die Tischplatte. Die vielen kleinen Glücksbringer aus aller Welt hüpften in die Höhe. »Das ist die beste Art, den wirklich richtigen Mann von dir fernzuhalten. Du würdest ihn nämlich erdrücken, wie eine Boa constrictor ihre Beute.«

»Patricia, es ist überhaupt nicht so…«

Emma traf ein langer, ruhiger Blick aus den geschminkten Augen. Patricia legte den Kopf leicht zur Seite und schwieg einfach nur. Nach ein paar Atemzügen stammelte Emma herum, schluckte und wurde verlegen. Weil sie den Blick nicht aushielt, sah sie im Raum herum: Es war ein geräumiges Wohnzimmer, in dem auf allen geraden Flächen hohe Stapel von Büchern lagen.

Ganz oben auf den beiden höchsten Stapeln thronten die Katzen Isis und Osiris. Sie war eine schwarz-weiß-rote Glückskatze, er ein pechschwarzer Kater mit weißen Pfoten und einem weißen Schwanz. Mit seinen smaragdgrünen Augen sah er auf Emma herab. Als sich ihre Blicke trafen, glaubte sie eine Stimme in ihrem Kopf zu hören.

»Kannst du das alles endlich kapieren, du dumme Nuss?«

Natürlich war es nicht der Kater, der das gesagt hatte. Oder doch?

Sanft tippte Patricia mit den Fingerspitzen auf Emmas Handrücken. »Du tust einfach genau, was ich dir sage, und wenn der Zweifel sich meldet, dann sagst du ihm einfach…«, Patricia schrie die nächsten Worte so laut, dass die beide Katzen herabsprangen und sich unter dem Sofa verkrochen: »Halt die Klappe!!!«

Mittlerweile wusste Emma, dass Patricias zweiter Vorname Sturheit war. Es war sinnlos, ihr zu widersprechen. Vielleicht kam das von ihrem Beruf, in dem sie Leuten ihre Zukunft vorhersagte. Sie musste es auf eine Weise tun, die die Leute überzeugte, und deshalb hatte sie sich angewöhnt, so eindringlich zu reden.

»Ich mache es.«

»Gutes Mädchen«, lobte Patricia und lächelte.

»Aber was tue ich mit den Briefen?«

»Was immer du gerne willst. Manche lesen sie laut dem Universum vor. Andere Leute versperren sie in einer Lade. Andere schreiben sie in ihr Tagebuch. Andere tippen sie auf dem iPad. Andere verbrennen sie. Hauptsache, du hast beim Schreiben deine Frequenz gefunkt.«

Emma wusste, dass sie sich albern fühlen würde, wenn sie die Briefe später las. Vor allem, wenn kein Traummann aufgetaucht war und die ganze Aktion umsonst.

»Stopp!«, rief Patricia. Emma fuhr zusammen. »Du zweifelst schon wieder.«

»Wieso weißt du das?«

»Liebste, mein Beruf ist Hellsehen und ein wenig Gedankenlesen. Außerdem steht dir alles mehr oder minder auf die Stirn geschrieben. Mit Leuchtbuchstaben.«

Verlegen grinsend atmete Emma tief durch.

»Hast du diesen Rat schon anderen gegeben? Das mit den Liebesbriefen an Unbekannt?«

»Vielen.«

»Und?«

Patricia überlegte und zählte mit den Fingern. »Trefferquote hängt immer davon ab, wie ernsthaft Leute die Briefe schreiben und wie sehr sie daran glauben, den richtigen Partner oder die Partnerin dadurch ins Leben zu ziehen. Bisher habe ich damit mehr als dreißig Beziehungen gestiftet. Neun davon sind verheiratet, fünf sind verpartnert, und nur eine Beziehung ist wieder in die Brüche gegangen. Kein schlechter Schnitt, finde ich.«

 

»Bei mir ist auch ein Mann aufgetaucht. Sonntagabend.«

»Erzähl!« Patricia deutete Emma, kurz zu warten, und holte schnell den Weißwein und zwei Gläser. Sie schenkte ihnen ein und sie prosteten sich zu.

Emma berichtete vom Spaziergang zum Strand und der Begegnung mit Eric.

»Ist er der Richtige? Was meinst du? Habe ich ihn angezogen?«

Wieder sah sie Patricia nur schweigend an.

»Sag etwas, bitte. Ich halte deinen Blick nicht aus«, flehte Emma.

»Cheers.« Patricia hielt das Glas in ihre Richtung, um erneut anzustoßen. Mehr war aus ihr an diesem Abend zum Thema Eric nicht herauszubekommen. Dafür wurde Quiche mit Tomaten und Karotten, dazu Fenchelsalat mit Orangenfilets serviert.

8

Es tat einfach gut, mit Patricia Zeit zu verbringen. Emma fühlte sich leichter, fast ein wenig beschwingt, als sie durch die Nacht nach Hause marschierte.

Ein angenehmer, frühlingswarmer Wind wehte ihr ins Gesicht. Die unerwartete Wärme um diese Zeit war wie ein Geschenk. Die Arme schwingend stapfte Emma durch die dunklen Straßen Richtung Meer, und die Umhängetasche, in der sie ihre wichtigsten Habseligkeiten immer bei sich trug, schlug bei jedem Schritt an ihr Hinterteil.

Beim Verabschieden, als sie sich Küsse auf die Wangen gehaucht hatten, hatte ihr Patricia noch ins Ohr geflüstert: »Träume, schreibe und glaube daran.«

Vielleicht würde Emma wirklich noch einen weiteren Brief an ihren zukünftigen Traummann schreiben. Nach zwei ziemlich großen und ziemlich vollen Gläsern Wein erschien ihr das Briefeschreiben wieder reizvoller.

Emma ging am Aquarium von Brighton und dem großen Bogentor vorbei, hinter dem sich der Pier ins Meer hinaus erstreckte. Sie steuerte die Kaimauer an und lief die Treppe hinunter zum Strand.

Dort, an die Mauer geschmiegt, gab es einige Bars und Cafés. Lucky Beach war eines der letzten Cafés, und auf Grund des milden Abends hatte es vielleicht noch geöffnet. Die Chancen standen um diese Jahreszeit nicht sehr gut, aber Emma wollte es trotzdem versuchen.

Sie hoffte, Eric zu treffen. Insgeheim vermutete sie, dass Lust und Mut mehr mit dem vielen Wein zu tun hatten als mit neuem Selbstvertrauen. Emma musste sich zwingen, nicht an das hässliche Unglücksentlein zu denken, als das sie sich seit längerem empfand.

Die ersten beiden Bars hatten die Rollbalken heruntergelassen. Außer Emma schien niemand mehr hier unterwegs zu sein.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, gab Emma an sich selbst als Parole aus.

Auf der Holzterrasse des Restaurants, das als nächstes kam, waren Tische und Stühle gestapelt und mit Stahlseilen verbunden, damit sie niemand stehlen konnte. Der Kiosk, wo man im Sommer Souvenirs, Strandspielzeug und Sonnencreme kaufen konnte, lag noch im Winterschlaf. Die Fenster waren sogar vernagelt.

Mit jedem Schritt sank Emmas Stimmung. Es wäre wirklich schön gewesen, Eric diesmal zu ihr nach Hause einzuladen und einen Drink mit ihm zu nehmen. Sie kannte vom Besuch im Fitzherbert die Marke seines Lieblingsbieres und hatte vorsorglich zwei Dosen davon gekauft und in den Kühlschrank gestellt.

Emma lief schneller, um Klarheit zu bekommen. Sie spürte eine Enttäuschung nahen und wollte den traurigen Moment so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Das Lucky Beach bot denselben verlassenen Anblick wie die anderen Lokale. Kam es ihr nur so vor, oder wurde die Nacht schlagartig dunkler? Auch das Rauschen der Wellen hatte seine sanfte, beruhigende Wirkung verloren. Emma hörte nur noch die Kiesel aneinanderschlagen, die das Wasser bewegte. Es war ein Knirschen, wie von Zähnen.

Einen Versuch war es wert gewesen, versuchte Emma sich zu trösten. Als sie allein vor dem verriegelten Café stand, überkam sie wieder diese schmerzhafte Einsamkeit. Sie neigte den Kopf nach hinten und blickte zum Himmel hoch, zu den Sternen, von denen hier, mit kleinem Abstand zur Beleuchtung der Küstenstraße, mehr zu sehen waren.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie energisch mit dem Handrücken wegwischte.

»Blöde Kuh«, schimpfte sie sich selbst. Es war ein Gefühl, als würde ihr jemand den Hals abschnüren, und selbst mehrfaches Schlucken half nichts. Die Traurigkeit, die sich in ihr aufgestaut hatte, zog sie hinunter und erfüllte ihren Körper wie schwarzes Blut.

Emma musste sich setzen. Sie holte einen Stuhl unter einem Tisch hervor. Das Stahlseil zur Sicherung war lang genug, um ihm Bewegungsspielraum zu geben. Die Kälte des Metalls drang durch den Stoff ihrer Hose. Sie hätte am liebsten losgeheult, aber sie konnte einfach nicht mehr. Die Verzweiflung steckte in ihr und bereitete ihr diese unendliche Qual.

Wie sollte ihr Leben weitergehen? Wie sollte ein Mensch, der einfach nur versagt hatte, jemals wieder Freude finden?

Die Luft hatte die salzige Frische, die früher in Brighton von Kranken zur Heilung gesucht worden war.

Für jemanden wie mich gibt es keine »Heilung« mehr, hing Emma den düsteren Gedanken nach. Sie wucherten in ihrem Kopf wie ein Geschwür. Emma spürte ihre Tasche am Rücken, zog sie vor und öffnete sie. Sie kramte in der Unordnung von Schlüsseln, Pass, Geldtasche, Taschentüchern, Kaugummi und einem Lippenstift ohne Kappe. Sie holte einen alten Plastikkugelschreiber und ein paar Papierumschläge heraus, die an diesem Tag durch den Briefschlitz geworfen worden waren. Emma hatte sie vom Boden aufgehoben und beim Verlassen des Hauses eingesteckt. Sie war zu faul gewesen, zurückzugehen und die Post in der Diele abzulegen.

Das Papier der Kuverts diente ihr nun zum Schreiben.

Lieber Wer-immer-du-bist,

eigentlich kann ich dich nur warnen. Komm nicht. Bleib mir fern, denn ich bringe nur Unglück.

Mir selbst

Dir

Allem, was ich anfasse.

Weißt du, was meine Mutter gesagt hat, einen Tag nach der Katastrophe? Ich habe bei ihr gesessen und war so zerstört, dass ich nicht einmal mehr weinen konnte.

»Ich will mich umbringen«, habe ich gesagt.

Darauf meine Mutter: »Lass das bleiben, denn es geht sicher daneben.«

Sie war nur mit dem verschwundenen Geld beschäftigt. Ein Wunder, dass sie nicht so weitergeredet hat: »Wenn du dich erschießt, kann ich wahrscheinlich dein Hirn von der Wand waschen. Wahrscheinlich triffst du auch nur den Sehnerv, lebst weiter und bist blind. Wenn du dich erhängst, dann machst du sicher dabei etwas kaputt. Wahrscheinlich reißt der Haken aus der Wand und hinterlässt ein Loch. Wenn du eine Überdosis Schlaftabletten nimmst, kotzt du sicherlich alles voll, und wer muss wieder putzen? Ich!«

Als Nächstes hätte meine Mutter sicher gesagt: »Wenn du dich vor einen Zug oder die U-Bahn wirfst, verursachst du bestimmt nur einen Unfall, bei dem viele Unschuldige ins Krankenhaus müssen, aber der Zug rollt über dich hinweg und du bleibst unverletzt.«

Mich lässt das jetzt nicht los, was sie sonst noch hätte sagen können.

• Wenn ich von einer Klippe springe, ist zwei Meter tiefer ein Felsvorsprung, auf dem ich lande. Von dort muss mich dann die Feuerwehr retten.

• Wenn ich vom Dach eines Hochhauses springe, dann bestimmt auf einen Balkon.

• Wenn ich Harakiri begehen will, bricht das Messer ab, weil ich zu viel trainiert habe und meine Bauchmuskeln zu fest sind (nein, meine Mutter würde sicher sagen, das Messer bleibt in meinem Speckbauch stecken).

Ich frage mich, wann ich in den Augen meiner Eltern eine solche Versagerin geworden bin? Als ich die Schule mehr als gut abgeschlossen habe? Als ich mein Studium, das ich nur ihretwegen gewählt habe, ebenfalls mit Erfolg geschafft habe? Als ich ihnen Philip vorgestellt habe, der damals einfach alles war, was man sich von einem zukünftigen Schwiegersohn erwarten konnte: höflich, gut aussehend, charmant, offenbar professionell in seinem Beruf, wohlhabend. Die Bitterkeit und der Zynismus meiner Mutter waren wie Ohrfeigen für mich, und was sie sagte, klang so, als hätte sie es sich schon lange gedacht.

Wieso bin ich für sie die große Enttäuschung, und meine kleine Schwester Amelie, die jetzt demnächst zehn Jahre studiert und bis heute nichts von Bedeutung im Leben geschafft hat, ist in ihren Augen der Star?

Sie haben sie immer mehr gemocht als mich. Immer, immer, immer. Ich habe tun können, was ich wollte (siehe meine Leistungen weiter oben), aber es war nie genug und nie das Richtige.

Ich bin überhaupt jemand, der es einfach nicht Recht machen kann. Scheinbar niemandem. Ich bin immer zu wenig und zu wenig gut.

Philip hat einmal mit einem alten Kumpel von der Schule telefoniert und dachte, ich wäre nicht daheim. Aber ich war da und habe jedes Wort gehört. Philip: »Mir ist es wenigstens gelungen, sie von einem schlappen Hering in eine saftige Makrele zu verwandeln.«

Was er damit meinte, habe ich zuerst nicht verstanden. Natürlich war klar, dass es eine Gemeinheit war, aber damals habe ich mich noch immer an dem Gedanken festgehalten, dass alles doch wieder in Ordnung kommen kann mit ihm und das, was er da sagt, nicht böse gemeint war. Irrtum.

Philip: »Sie war von Anfang an willig, ich habe nur schnippen müssen, und sie ist ins Bett gehüpft. Oder hat sich in die nächste Toilette ziehen lassen. Wir haben es sogar einmal im Wald getrieben, wo wir Spaziergänger reden gehört haben, so nahe waren sie. Aber sie ist einfach nie richtig abgegangen. Heute ist sie wenigstens ein wenig mehr Schlampe und nicht mehr dieses saubere Mäuschen. Aber sehr viel schärfer ist sie nicht geworden. Dafür weiter willig, und das nützt auch.«

Ich habe alles gehört und Philip nie zur Rede gestellt. Ich habe mich in der Abstellkammer versteckt und dort eine Stunde gewartet, bis er fort war, damit er nicht herausfand, dass ich gelauscht hatte.

Seit damals muss ich immer an fettige Makrelen denken, wenn so etwas wie Sex in der Luft liegt. Bisher ist der Sex immer in der Luft geblieben, und er wusste wohl, warum. Um mich macht er einen Bogen.

In der langen Liste meiner Schwächen ist das Thema Sex im guten Mittelfeld.

So, jetzt habe ich es dir gesagt, denn ich habe sicher einen Komplex, wenn es doch einmal zur Sache gehen sollte.

Alles klar, Eric, wenn du dir eine Sexgöttin erwartest, dann bist du bei mir falsch. Vielleicht hast du heute auch nur das einzig Richtige getan, was ich dir schon zu Beginn dieses Briefes geraten habe: Du hast die Flucht ergriffen.

9

Kein Selbstmitleid, kein Selbstmitleid«, sagte sich Emma leise vor. Sie hob den Blick und sah Richtung Meer. Dort, wo Wellen und Horizont einander trafen, zogen zwei Lastkähne dahin. Die Lichter der Schiffe verschwammen vor Emmas Augen. Sie bemühte sich nicht einmal, die Tränen zurückzuhalten, weil es nicht mehr möglich war.

Emma spürte ihr Kinn zittern, spürte die Falten des Weinens, die sich um den Mund bildeten, hörte sich schluchzen und fühlte die Tränen über ihre Wangen rinnen. Ihre Traurigkeit und Verzweiflung, die sie in den vergangenen Tagen ganz gut unter Kontrolle gehabt hatte, brachen aus ihr heraus.

Wieso schrieb sie diese idiotischen Briefe, die doch nichts halfen und sie nur traurig machten? Sie wollte die Umschläge zerreißen, hielt dann aber inne, weil sie vielleicht zuerst nachsehen sollte, was sie enthielten.

Sehr unfein zog sie laut durch die Nase auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Sie schnäuzte sich, indem sie immer ein Nasenloch zuhielt und hemmungslos auf den Boden rotzte.

Es war ohnehin alles egal. Wem sollte sie gefallen? Wie hieß es so schön: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s nachher ungeniert. Sie atmete tief durch und hob die Umschläge ins Licht der Lampen auf der Kaimauer. Sie besah einen Absender nach dem anderen, aber es schien sich nur um Rechnungen zu handeln sowie zwei Sendungen des Stadtamts. Der letzte Umschlag war länglich, und auf der Rückseite stand…

Emma schloss die Augen, schüttelte kurz den Kopf und öffnete sie wieder.

Ihr erster Gedanke war: Ich drehe völlig durch.

Ihr nächster Gedanke war: ein Scherz.

Ihr dritter Gedanke: Ich bin in ein Wachkoma gefallen und halluziniere.

Sie drehte den Umschlag langsam um, weil sie sehen wollte, an wen er adressiert war.

Für Alptraumfrau Emma

Mit einer hektischen Handbewegung drehte ihn Emma wieder zurück und las noch einmal den Absender:

Absender:

 

Wer-immer-ich-bin