Wohlensee

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Einen Durchbruch bei den Ermittlungen gab es nach den Befragungen der Nachbarn nicht wirklich. Niemand kannte Karl-Heinz Becker näher, zumal er erst seit knapp einem Jahr im Kappelenring gewohnt hatte. Becker sei ein «Einzelgänger» gewesen, meinte einer, «wenig gesehen worden». Eine Frau wiederum, deren Gatte in einer Garage arbeitete, wunderte sich zusammen mit ihrem Mann, dass sich «so einer» den Nissan Skyline und andere Autos habe leisten können, mit denen er öfter «in der unmittelbaren Nachbarschaft Beifall heischend» herumgefahren sei, sogar zur nahegelegenen Migros, so einer sei doch «krank».

Es liess sich auch nicht herausfinden, womit der «Tüütsche» sein Geld verdient hatte. Das sei bestimmt «ein Zuhälter», bei seinem Aussehen und den «Schlitten», die er gefahren habe, mutmassten die Nachbarn. Alles in allem: Fehlanzeige. Brunner hoffte daher auf neue Erkenntnisse durch Joseph Ritter bei der Fedpol.

Regula Wälchli ihrerseits hatte die Assistentin von BvN erreicht und ein Rendezvous für den nächsten Tag um 8.00 Uhr vereinbaren können, allerdings nur für eine halbe Stunde, nachher sei «Herr Baron von Neippenberg» unabkömmlich, ein Termin folge dem anderen. Laut Aussagen der Assistentin sei es ungewöhnlich, dass der Baron so kurzfristig einen Rendezvous-Termin bestätige, für die Polizei jedoch «mache er gerne eine Ausnahme», was Regula Wälchli ihrer Gesprächspartnerin gegenüber beinahe überschwänglich zu würdigen wusste, total widerwillig zwar, aber ohne, dass man es aus ihrer Stimmlage hätte heraushören können. Insgeheim fragte sie sich nämlich, ob BvN nicht stinknormal auf den Namen Jakob Rüdisühli getauft worden war, bei diesem Gschiiss um seine Person. Aber diese Frage stand nun wirklich nicht zuoberst auf ihrer To-do-Liste. Weil sie nicht allein nach Prêles fahren wollte, bat sie Stephan Moser, sie zu begleiten. Mit anderen Worten: Joseph Ritter musste sich zumindest bis schätzungsweise 9.30 Uhr mit Elias Brunner begnügen.

Nachdem er alle Informationen von seinen «Aussenstationen» beisammen hatte und das IRM versprochen hatte, nach einer weiteren Nachtübung bis 10.00 Uhr erste Resultate zu liefern, war für Joseph Ritter der Ablauf des Dienstags, 30. Januar klar:

8.0 00 Uhr Sichtung Medien.

9.30 Uhr Teamtreff, Vorbereitungen auf die grosse Inforunde.

15.0 00 Uhr weiteres Vorgehen und Aufgabenzuteilungen.

Mit einer SMS teilte er dies seinen Leuten mit und dankte ihnen für die auch an diesem Tag geleistete Arbeit.

Kurz zuvor besuchten an die 20 Medienschaffende die Pressekonferenz der Kantonspolizei Bern. Ursula Meister und Gabriela Künzi waren darauf optimal vorbereitet, sah man von der Tatsache ab, dass die offizielle Medienmitteilung erst zum Schluss abgegeben und verschickt werden konnte, «aus Zeitgründen, weil wir erst vor wenigen Minuten aus Hinterkappelen zurückgekehrt sind und unsere Kollegen dementsprechend erst vor wenigen Minuten briefen konnten», wie Gabriela Künzi sagte. Nach dieser kurzen Einführung kamen die beiden Mediensprecherinnen sofort zur Sache und gaben Details vor allem in Zusammenhang mit dem neuerlichen Tötungsdelikt in Hinterkappelen bekannt. Nach Abschluss dieser Ausführungen folgten die obligaten Fragen der Anwesenden, wobei es eine kurze Runde war, denn erstens gab es relativ wenig zu sagen und zweitens wollte praktisch kein Medienschaffender, dass andere coram publico die eigenen Gedankengänge mitbekam. Solche Fragen wurden unter vier Augen und Ohren nach Abschluss einer Inforunde gestellt.

«Peter Brechbühl von ‹Express Online›: Es besteht ja ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den beiden Tötungsdelikten. Was wissen Sie? Ich tippe Ihre Antwort gleich online in unsere onlinenews.ch, damit unsere Leserinnen und Leser sofort Bescheid wissen.» Mit diesen Aussagen sorgte Brechbühl bei den übrigen Teilnehmenden für Kopfschütteln, obwohl man ihn nicht wirklich ernst nehmen konnte, denn zu oft hatten sich seine angeblichen «exklusiven Informationen» als grandiose elektronische Zeitungsenten herausgestellt.

«Herr Brechbühl», übernahm Gabriela Künzi den Lead, «wenn Sie sich bereits derart sicher sind: Lassen Sie uns nach der Konferenz an Ihren Erkenntnissen teilhaben? Wir sind offenbar noch nicht auf Ihrem Wissensstand.» Darob schmunzelten verschiedene Journalisten, und eine Anwesende liess sich sogar zu einem «Bravo!» hinreissen, worauf wiederum Brechbühl sichtlich schmollte.

«Herold vom ‹Blick›: Können Sie den Tatabend vom 21. Januar in Bezug auf diesen Elchin Guseinow bestätigen?»

«Bestätigen nicht, aber es gibt übereinstimmende Aussagen, die uns das vermuten lassen. Zwei Personen haben unabhängig voneinander Beobachtungen gemacht.»

«Was für Beobachtungen?»

«Herr Brechbühl, wir informieren Sie sofort, wenn wir Fakten zusammengetragen haben, keine noch ungesicherten Angaben.»

«Jürg Spori, ‹Berner Zeitung›: Lässt sich der Zeitpunkt des zweiten Verbrechens in Hinterkappelen bereits eingrenzen?»

«Nein, dazu erwarten wir aber morgen oder übermorgen Erkenntnisse aus dem IRM.»

«Gleich eine Anschlussfrage: Hat sich die Botschaft Uralistans in Bern in die Sache eingeschaltet?» Künzi und Meister schauten sich kurz an. Die Antwort kam wiederum von Gabriela Künzi.

«Unsere Ermittlungen gehen im Moment in alle Richtungen, Herr Spori, mehr möchten wir dazu nicht sagen», sagte sie und liess damit alles offen, namentlich die Frage, ob bereits ein Kontakt mit der Botschaft stattgefunden hatte.

Es folgten noch einige Alibifragen, die darauf hindeuteten, dass nicht alle Medienschaffenden gleichermassen aufmerksam die Ausführungen während der Information verfolgt hatten. Praktisch gleichzeitig mit dem Ende der Veranstaltung wurde auch das offizielle Communiqué verteilt respektive an abwesende Redaktionen gemailt und online gestellt.

Von Brieftauben, einem Schwinger und einem Sportarzt. Dienstag, 30. Januar.

Als neugierige Ermittlerin und ohnehin als interessierte Frau musste Regula noch am Montagabend unbedingt kurz im Internet nachschauen, was denn in den beiden «Venus – Clinique de Beauté»-Instituten am Bieler- und am Bodensee so alles geboten wurde, von einer ganzen Armada von Fachärzten aus der ganzen Welt durchgeführt. Im Angebot standen Brustoperationen, Gesichtsstraffung, Fettabsaugen, ästhetische Nasenkorrekturen, Schlafkuren, ästhetisch-plastische Chirurgie, Transfusionsmedizin, Botoxbehandlungen und, und, und – das volle Programm.

Bereits um 7.50 Uhr wurde Joseph Ritter am Dienstagmorgen, 30. Januar in seinem Büro vom Mediendienst über die Berichterstattungen informiert. Und es kam, wie Ursula Meister und Gabriela Künzi vorausgesagt hatten: Mit wenigen Ausnahmen hatten die Journalisten eine mögliche Brücke zwischen den beiden Gewaltverbrechen in Hinterkappelen geschlagen, einige hatten zur Person von Elchin Guseinow recherchiert, da dessen Identität zweifelsfrei feststand und dies die Polizei bereits gestern kommuniziert hatte. Bei Karl-Heinz Becker war das aus den bekannten Gründen etwas komplizierter, weshalb man den Medienvertretern erklärte, dass die Begleitumstände rund um den zweiten Toten Gegenstand von Abklärungen seien. Nicht bloss «20 Minuten» berichtete über die Beobachtungen von Frau Rindlisbacher, die Frau hatte sich auch bei anderen Medien gemeldet. Immerhin fügte sie den Aussagen ihres Mannes nichts hinzu. Für den Leiter des Dezernats Leib und Leben schien klar: Es war nur eine Frage der Zeit, bis direkte Verbindungen zwischen den Herren Guseinow und Becker hergestellt würden.

Regula Wälchli und Stephan Moser trafen zehn Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt bei der «Venus – Clinique de Beauté» oberhalb von Twann ein. Sämtliche Klischees einer solchen Beautyfarm wurden vollumfänglich erfüllt. Weil sie sich vorangemeldet hatten, wurden sie bereits erwartet. Die Dame an der Reception – ein kleines Namensschild wies sie als Lena Podolska aus – bat sie, Platz zu nehmen. Hinter Frau Podolska waren an der Wand jede Menge Diplome und Auszeichnungen zu sehen, alle auf und für Maximilian Baron von Neippenberg ausgestellt, inmitten von Fotos, die den Chef mit Prominenten zeigten. Noblesse oblige.

«Schöne Frau am Empfang…»

«Finde ich auch, Regula, und irgendwie kommt sie mir bekannt vor…», gab sich Moser vordergründig rätselhaft, «eine wunderbare Ausgangslage für unser Gespräch mit Herrn Baron von Neippenberg.»

«Oh ja, ich liebe solche Situationen, Stephan, gerade das macht unseren Beruf so spannend», antwortete Regula Wälchli, und zwar so, als ob sie ganz genau wüsste, wohin die Empfangsdame zuzuordnen wäre.

Genauso, wie das Anwesen allen Klischees standhielt, präsentierte sich auch Maximilian Baron von Neippenberg persönlich: gross gewachsen, ungefähr 55 Jahre alt, schlank, graumelierte Haare, blaue Augen und ein gebräunter Teint, der im weissen Kittel mit dem aufgestickten Logo BvN so richtig zur Geltung kam. Er war, so ergaben Recherchen im Vorfeld, nie verheiratet, schien auch keine Verwandte zu haben.

«Von Neippenberg. Wie kann ich der Polizei helfen? Und bitte entschuldigen Sie», sagte er, während er auffällig auf seine teure Richard Mille am rechten Handgelenk blickte, «ich habe nicht sehr viel Zeit für Sie, muss anschliessend in die Ostschweiz. Aber setzen Sie sich doch.» Der Schönheitschirurg zeigte dabei auf jene Designersitzecke aus schwarzem Leder, aus der die beiden Ermittler zur Begrüssung vor einigen Sekunden aufgestanden waren, um sich vorzustellen, comme il faut. Der Arzt allerdings zeigte keine grosse Lust, Hände zu schütteln.

«Herr Baron, wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen, wir wollen Sie auch nicht unnötig aufhalten. Können wir deshalb gleich zu unseren Fragen kommen?», antwortete Regula Wälchli.

«Dafür wäre ich Ihnen sogar sehr dankbar.»

 

«Baron von Neippenberg, woher kennen Sie Karl-Heinz Becker?»

Die Frage hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, obwohl sich der Arzt äusserlich nichts anmerken liess. Doch Regula Wälchli hatte ein Gespür für solche Situationen.

«Frau Wälchli, Karl-Heinz Becker, sagen Sie? Wer soll das sein? Sollte ich ihn kennen?»

«Wir denken schon. Wohnt in Hinterkappelen. Besser gesagt: wohnte in Hinterkappelen.»

«Frau Wälchli, Sie benutzen die Vergangenheitsform, dazu ist die Kriminalpolizei hier, also muss es um ein Verbrechen handeln. Eines sage ich Ihnen: Mit Kriminellen habe ich definitiv nichts zu tun.»

«Das ist Karl-Heinz Becker», sagte Stephan Moser und übergab von Neippenberg einen Fotoausschnitt, auf dem nur das Gesicht von Karl-Heinz Becker zu sehen war.

«Es tut mir leid, ich kann mich an diesen Mann nicht erinnern, obwohl ich an sehr vielen Gesichtern arbeite. Ich fürchte, Sie haben den Weg zu uns vergeblich gemacht.»

«Nicht ganz, Herr Baron, schauen Sie sich dieses zweite Foto an. Da sind Sie zu sehen, zusammen mit Karl-Heinz Becker und einer jungen Frau, die sehr viel Ähnlichkeit mit jener Mitarbeiterin am Empfang hat», sagte Moser und blickte in Richtung von Lena Podolska, die bemerkt hatte, dass offenbar von ihr die Rede war.

Es war seltsam, diesen selbstsicheren Mediziner plötzlich mit einer leicht zittrigen Hand zu sehen, in der er das Foto hielt. Operieren wäre in einer derartigen Verfassung jedenfalls undenkbar gewesen.

«Herr Baron, haben Sie uns dazu nichts zu sagen? War Karl-Heinz Becker ein Patient von Ihnen?», wollte Moser wissen.

«Ich möchte im Moment von meinem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen und sage nichts, bevor ich mit meinem Anwalt gesprochen habe. Wie Sie wissen, unterstehe ich dem Arztgeheimnis, kann Ihnen nicht nach eigener Lust und Laune Auskunft geben», antwortete von Neippenberg nach kurzem Überlegen völlig emotionslos, das Foto zurückgebend, was Regula Wälchli und Stephan Moser erahnen liess, dass ihr Gegenüber kein Blauäugiger war und ganz offensichtlich Erfahrung mit Situationen hatte, bei denen jedes Wort später gegen ihn hätte verwendet werden können, womöglich vor Gericht.

«Ich erachte unser Gespräch somit als beendet. Weitere Auskünfte erteile ich Ihnen erst nach Vorliegen einer richterlichen Verfügung, in Absprache mit meinem Anwalt», erklärte der Halbgott in Weiss und wies mit seiner Hand in Richtung seiner Empfangsdame, gleichbedeutend mit der Verabschiedung.

«Lena, würden Sie den beiden Herren bitte die Koordinaten von Erich von Wattenwyl geben?»

Mit diesem Wunsch verabschiedete sich der Baron, den die beiden Ermittler gar nicht erst aufzuhalten gedachten.

Lena Podolska notierte die Adresse, die Telefonnummer und die Mailadresse des Anwalts, der im Spiegelquartier unterhalb des Gurtens wohnte, und übergab den Zettel Stephan Moser.

«Frau Podolska, Herr Baron von Neippenberg wusste auswendig nicht mehr sicher, wie der Mann rechts auf dem Bild mit Vornamen hiess», versuchte sich Stephan Moser mit einem Glückstreffer und zeigte der Receptionistin das Foto der Ménage à trois, auf der sie selber zu sehen war. «Udo, heisst er, Udo Kraft.»

«Vielen Dank, jetzt kommt Herr Kraft doch noch zu seinem Vornamen. Wichtig ist das zwar nicht, aber zu jedem Familiennamen gehört ja auch ein Vorname, nicht wahr?»

Frau Podolska stimmte zu.

«Podolska, ein typischer Familienname aus Polen. Warschau?»

«Nein, Wroclaw.»

«Breslau, wunderschön, war 2016 Kulturhauptstadt Europas. So, nun wollen wir Sie aber nicht weiter aufhalten, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen», sagte Moser und folgte seiner Kollegin zum Ausgang der Klinik.

«Was war denn das jetzt, Stephan?», erkundigte sich Regula Wälchli auf dem Weg zum einzigen Mittelklassewagen auf dem Parkplatz.

«Weltklasse war das, Teuerste, schlicht und ergreifend. W. E. L. T. - K. L. A. S. S. E. Jetzt hat der Karl-Heinz Becker also noch einen zweiten Namen. Wie habe ich das denn gemacht, Frau Kollega Wälchli?»

«Stephan, bist du dir bewusst, dass das schlicht illegal war? Eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Wenn das der Baron erfährt, ist die Frau wohl ihren Job los.»

«Muss ja niemand erfahren.»

«Ich kann für die Frau bloss hoffen, dass sie ihren Boss nicht darauf anspricht, sonst habt ihr beide ein Problem…»

«Ganz ruhig, Frau Wälchli, noch ist ja nichts passiert», beschwichtigte Moser und versuchte, mit «Hast du den Autoschlüssel?» das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, obwohl er selber den Schlüssel in der Hand hielt. Seine Kollegin liess sich nicht anmerken, dass sie das Ablenkungsmanöver sehr wohl durchschaut hatte.

Während den ersten Minuten auf der Rückfahrt nach Bern wurde nicht gesprochen, lediglich SRF 1 -Moderator Adi Küpfer war zu hören.

«Okay, Stephan, okay, das war zwar nicht legal, aber angesichts des Abblockens von Baron von und zu Neippenberg nachvollziehbar. Gut gemacht. Jetzt haben wir also den richtigen Namen von Karl-Heinz Becker. Ich bin ja gespannt, was J. R. zu unserem Erfolg sagen wird.» Die beiden trafen um 9.30 Uhr am Nordring ein, wo Ritter und Brunner bereits auf sie warteten, beide mit einem unverkennbaren Lächeln und mit Kaffee und Gipfeli. Was das wohl zu bedeuten hatte? Die Infowand, auf welche die Neuankömmlinge sofort blickten, gab das Geheimnis jedenfalls nicht preis. Wälchli und Moser sprachen die beiden bewusst nicht auf ihre gute Laune an, wollten ihnen den Spass nicht verderben, denn schliesslich hatten sie selber nach ihrem Besuch beim Baron echte News zu bieten.

«So… Ich hoffe, das frühe Aufstehen und die Fahrt an den Bielersee haben sich für euch gelohnt», stellte Ritter fest, noch immer mit einem leicht süffisanten Gesichtsausdruck, der verriet, dass er selber Neues erfahren hatte. «Bevor wir dazu kommen, schlage ich vor, dass wir die bekannten Ergebnisse zusammenfassen und erst dann Neuland betreten.» Er stand während des Redens auf, begab sich zur Plexiglaswand und schrieb stichwortartig neue Fakten des Vortags auf, samt Fotos vom Fundort der Leiche in Hinterkappelen.

Beobachtungen von Lukas Rindlisbacher, die mit jenen von Herrn Kim übereinstimmten. Resultate aus dem IRM. Im Kappelenring 7 wurde im Parterre eine männliche Leiche vorgefunden, deren Verwesung aufgrund der hohen Zimmertemperatur bereits weit fortgeschritten war. Bis zum Resultat der Autopsie aus dem IRM musste offengelassen werden, ob es sich um eine natürliche oder gewaltsame Todesart handelte. Chaos in der Wohnung, keine elektronischen Geräte. Eingeschlagene Fensterscheibe im Schlafzimmer. Aufgefundenes Foto zeigt den Toten – Karl-Heinz Becker – mit BvN und einer jungen Frau. Nissan Skyline nicht auf dem gewohnten Parkplatz. Keine konkreten Aussagen von Nachbarn.

«Nun also zu euch, liebe Regula und Stephan. Was habt ihr in Prêles erfahren?» Stephan Moser lehnte sich bei der Frage von Joseph Ritter genüsslich zurück, nahm vor seiner Antwort noch einen Schluck Kaffee, zelebrierte richtiggehend seine nun folgende Aussage.

«Nun, mein lieber J. R., mein lieber Elias, Sherlock Moser hat herausgefunden, dass Karl-Heinz Becker in Tat und Wahrheit… Udo Kraft heisst. Ich…», er blickte lausbubenhaft zur Regula Wälchli, «… ich habe meinen ganzen kriminalistischen Spürsinn, meine jahrelange Erfahrung, meine zweifellos vorhandene Genialität dafür gebündelt und eingesetzt.» Wälchli schmunzelte, ebenso schauten sich Ritter und Brunner belustigt an.

«Und nun, Stephan? Sollen wir dafür ein Blasorchester für einen Tusch organisieren? Oder doch eher die Fasnachts-Guggenmusik Tonschiisser aus Schliern?»

«J. R., ich fürchte, ich kann nicht folgen…»

«Also, Karl-Heinz Becker heisst nicht Karl-Heinz Becker.»

«Sage ich doch. Er heisst Udo Kraft.»

«Nein, heisst er auch nicht.»

«Und weshalb nicht?»

«Weil er laut IRM auf den Namen Igor Axundow getauft wurde. Udo Kraft hiess er nur zwischenzeitlich…»

«Hä? Und warum das?»

«Weil er ursprünglich aus Uralistan stammt.»

«Moment, Moment… Uralistan, das habe ich doch schon gehört.»

«Gut aufgepasst, in Zusammenhang mit Elchin Guseinow, dem ehemaligen Sportminister, dem KB. Aber ich will Regula und dich nicht noch länger auf die Folter spannen…»

Es war eine durch und durch abenteuerliche Geschichte, die der Leiter Leib und Leben nun zu erzählen hatte und die Elias Brunner bereits kannte. Sie stammte samt und sonders von der Bundespolizei, von Fedpol.

Auslöser des Dopingskandals in Uralistan – nicht zu verwechseln mit jenem in Russland 2016, den der deutsche TV -Journalist Hans Keppler dank dem Whistleblowing von Jelena Strelkowa und ihrem Mann Valentin Strelkow (Namen auf Wunsch der Betroffenen geändert, Anm. d. Verf.) aufgedeckt hatte – war Igor Axundow, Experte im nationalen Dopinglabor von Uralistan in der Hauptstadt Tomlija, der Uralistan Antidoping Agency Urada. Von seinem Gewissen geplagt und im Wissen um die Aussagen des Ehepaars Strelkowa/Strelkow, hatte er sich an einen weiteren deutschen Journalisten gewandt, der parallel zu Hans Keppler zu Staatsdoping recherchierte. Sowohl in Russland – wo Ex-Sportminister und Ex-Fussball-WM-OK-Präsident Witali Mutko als Vizeministerpräsident nach wie vor in Amt und Würden ist – wie auch in Uralistan unter Sportminister Elchin Guseinow wurde flächendeckend gedopt, systematisch. Die Behörden in Uralistan schritten nach der Veröffentlichung aller Fakten zu Taten, nicht bloss zu Dementis wie in Russland. Das bedeutete auch, dass der damalige Sportminister Elchin Guseinow – mit dem ermordeten KB identisch – in Ungnade fiel und nur für kurze Zeit hinter Schloss und Riegel musste. Sämtliche Kaderleute der Urada wurden von ihren Posten enthoben, zum Teil vor Gericht abgeurteilt und zu Freiheitsstrafen verurteilt, wie im Fall von Elchin Guseinow.

Igor Axundow, Whistleblower in Uralistan, der von der Kronzeugenregelung profitiert hatte und straffrei ausging, wurde daraufhin massiv bedroht, weshalb er nach Deutschland flüchtete und dort Asyl erhielt. Mehr noch: Durch seine Aussagen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Deutschlands wurde er ins Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamts BKA aufgenommen, mit neuer Identität als Udo Kraft.

«Also war meine Information doch nicht ganz falsch, Chef», ereiferte sich Moser.

«Nein, da hast du recht. Wie bist du eigentlich an sie herangekommen?», fragte Ritter, worauf Moser den Blickkontakt mit Regula Wälchli suchte, diese den Augen ihres Kollegen jedoch geschickt auswich.

«Darf ich meine Frage wiederholen, Stephan? Wir alle könnten von deiner Genialität nur profitieren.»

«J. R., sagen wir es so: Es war auch Zufall mit im Spiel, ich gebe das gerne zu.»

«Regula, kannst du Elias und mich mit der Recherchemethode von Sherlock Moser bekanntmachen?»

«Leider nein, J. R., ich war nicht dabei», sagte sie ohne mit der Wimper zu zucken, womit das Thema erledigt war, Ritter wollte nicht darauf bestehen, er würde es ohnehin einmal erfahren, auf welche Weise auch immer.

Udo Kraft liess sich im Bundesland Rheinland-Pfalz nieder, in der Nähe von Pirmasens, bekannt für seine Schuhindustrie. Weil er ursprünglich neben Chemie auch Germanistik im Nebenfach studiert hatte, sprach Axundow fliessend Deutsch, ohne slawischen Akzent. Während gut drei Jahren arbeitete er in der Forschung einer bekannten Schuhfabrik, vor allem im Bereich des Kunstleders. Im Laufe seines Aufenthalts in Pirmasens hatte er das unbestimmte, aber ungute Gefühl, beobachtet zu werden, weshalb er die Behörden informierte. Das BKA fand schnell heraus, dass es Uralistaner waren, die sich für Udo Kraft interessierten.

Die drei Uralistaner wurden von einem Tag auf den anderen plötzlich nicht mehr gesehen. Das BKA indes empfahl Udo Kraft nochmals eine neue Identität, dieses Mal als Karl-Heinz Becker, sicherheitshalber mit Wohnsitz in der Schweiz. Das BKA hatte daraufhin mit Fedpol Kontakt aufgenommen, worauf Karl-Heinz Becker nach Hinterkappelen übersiedelte. Fedpol erledigte die Formalitäten zur Niederlassung, samt neuer Ausweispapiere, konnte oder wollte jedoch nicht sagen, ob und in welcher Branche oder Funktion Becker arbeitete. Das war auch nicht mehr Aufgabe von Fedpol.

«Das also die ganze Geschichte. Im Zeitraffer», schloss Ritter.

«Ist ja ein Ding… ganz spontan gefragt: J. R., alle elektronischen Gegenstände sind aus seiner Wohnung verschwunden, auch sein Handy. Ich nehme an, dass Becker eines besass, womöglich noch aus seiner Deutschland-Zeit. Das BKA kann uns diesbezüglich doch bestimmt weiterhelfen.» «Stephan, guter Gedankengang, aber ich könnte mir vorstellen, dass das BKA beim Zeugenschutzprogramm auch amtlich sehr, sehr verschwiegen ist. Gut möglich, dass wir da auf Granit beissen.»

 

Grundsätzlich, erklärte Ritter, war es möglich, dass sich zwei Länder im Rahmen der internationalen Polizeikooperation beim Zeugenschutz gegenseitig unterstützten, und dass ein Land den Zeugen eines anderen Landes übernahm. Was das Zeugenschutzprogramm in der Schweiz betreffe, gebe auch Fedpol aus Sicherheitsgründen keine Detailinformationen bekannt. «Diskretion ist das A und O jedes Zeugenschutzprogramms. Der Spielraum für die Kommunikation ist daher sehr klein», sagte Ritter. Jeder Hinweis auf die Vorgehensweise und Ressourcen, jeder Hinweis auf einen konkreten Fall könne die Zeugen sowie die Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle an Leib und Leben gefährden. Deshalb kommunizierten BKA und Fedpol sehr zurückhaltend.

«J. R., schon etwas vom KTD oder dem IRM gehört?»

«Noch nicht Regula, wobei Iutschiin und Schöre ihre Ermittlungen sowieso auf Eis gelegt haben, auch sie warten auf erste Resultate aus dem IRM. So wie ich Veronika kenne, wird das nicht mehr lange dauern. Die Frage ist bloss, ob sie sich selber im Ringhof oder telefonisch meldet.»

Man liess es sich nicht nehmen, diese Frage mit einer Wette zu verbinden. Sie endete mit einem diskussionslosen 4:0 für die Version Telefon, weil damit keine Zeit verloren ging. Regula Wälchli marschierte zur Infowand, gliederte die bisherigen Fakten optisch neu, um Platz für News zu schaffen, vor allem die Geschichte Axundow-Kraft-Becker gehörte dokumentiert. Inzwischen zeigte die Uhr 11.15 an, was Brunner zur Bemerkung veranlasste, sich für eine «fliegende Verpflegung» über Mittag zu wappnen, angesichts der Vorbereitungen zur grossen Infositzung um 14.00 Uhr. Der Zufall wollte es, dass Claudia Lüthi just in diesem Moment mit einer Velokurier-Lieferung ins Büro trat. Ritter hatte am Vorabend noch Unterlagen bei Fedpol angefordert, die jedoch zuerst kopiert werden mussten. Aus Gründen der Vertraulichkeit war eine elektronische Übermittlung ausgeschlossen.

«Claudia, wie kommst du zum Briefumschlag, bist du neuerdings im Postdienst?»

«Nein, J. R., ich lief vor einigen Augenblicken bei der Eingangsloge vorbei. Der Kollege, der das Couvert soeben vom Kurierdienst erhalten hatte, fragte, ob ich in den ersten Stock unterwegs sei, ich bejahte, deshalb…»

«Vielen Dank. Dürfen wir dich gleich einspannen, für einen Botengang vis-à-vis zum Take-away? Wir erwarten jeden Moment Infos vom IRM, weshalb wir das Büro nicht verlassen sollten.»

«Kein Problem, ich hatte eh vor, mir dort selber etwas zu kaufen. Also denn, was darf es denn sein, meine Dame, meine Herren?»

Wälchli entschied sich für einen gemischten Salat mit italienischer Sauce und einem Eistee light, ihr Verlobter für ein Salami- oder Schinkensandwich und eine kleine Flasche Apfelsaft, Moser hatte Lust auf einen Hotdog «oder so was in der Art» samt einer Cola Zero, der Chef wiederum wollte «irgendetwas Warmes» im Mehrweggeschirr. Und einen 5-dl-Milchdrink.

«Claudia, willst du dir das alles nicht aufschreiben?»

«Nicht nötig, J. R., ich bin eine Frau, wir können uns das merken», sagte Claudia. « So isch es!», bekräftigte Regula Wälchli quer durch den Raum.

Kaum hatte Claudia Lüthi die Türe hinter sich geschlossen, meldete sich AC/DC. «IRM», zeigte das Display von Joseph Ritter.

«Guete Tag, Veronika, hast du wieder die ganze Nacht durcharbeiten müssen?»

«Nicht ganz, aber fast. Unsere Arbeit ist aber noch nicht abgeschlossen, immerhin habe ich euch einige Informationen, damit ihr vorwärtskommt.» «Super. Ich schalte auf Lautsprecher, damit das Team mithören kann.» «Ja, mach du das. Also, den Todeszeitpunkt von Becker kann ich ziemlich genau eingrenzen. Mittwoch, 24. Januar, plus/minus sechs Stunden zum Dienstag respektive Donnerstag.»

«Veronika, Todesursache?»

«Unnatürlich. Gift.»

«Und wie das?»

«Ich habe die Einstichstelle am Hals zuerst übersehen, was beim Zustand der Leiche kein Wunder ist. Die Halsschlagader wurde durch die Nadel der Spritze direkt getroffen, der Mann war innert weniger Sekunden bewusstlos. Der Tod dürfte unmittelbar danach eingetreten sein. Herzlähmung.»

«Ähnlich wie 2017 dieser Halbbruder vom nordkoreanischen Führer auf dem Flughafen in Kuala Lumpur?»

«Nein J. R., der wurde mit O-Ethyl-S-2-Diisopropylaminoethylmethylphosphonothiolat vergiftet.»

«Hä? Womit?»

«Mit Nervengift, mit VX, das ist ein militärischer Kampfstoff, damit wurde Becker jedoch nicht umgebracht.»

«Sondern?»

«Wir analysieren die chemische Zusammensetzung weiter, sind uns noch nicht abschliessend sicher.»

«Was sonst?»

«Wie ich gestern bereits sagte: Becker hatte mehrere Gesichtsoperationen, als wolle er sein Aussehen verändern.»

«Damit liegst du richtig. Becker wurde in einem Zeugenschutzprogramm des BKA untergebracht, er war Uralistaner.»

«Wie dieser KB?»

«Genau, und beide hatten ihre Dopinggeschichte in Tomlija. KB als Täter, Becker als Whistleblower. Näheres dann, wenn du einmal Zeit hast. Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen sollten?»

«Er war HIV-positiv. Weitere Details mit meinem schriftlichen Befund, kann aber noch zwei, drei Tage dauern. Das Wichtigste ist hiermit aber gesagt. Bitte entschuldigt mich heute Nachmittag bei der Sitzung.» Es folgte ein vierfaches «Merci, Veronika!», worauf die Verbindung getrennt wurde. Wenig später brachte Claudia Lüthi das Essen, wie bestellt.

«J. R., da wir uns höchstwahrscheinlich mit Doping beschäftigen werden, kannst du uns beim Essen noch das eine oder andere dazu sagen?» «Stephan, da muss ich husch mal checken, was ich bereits gesagt habe. Mal sehen…»

Er erinnerte sich: Es ging bisher vor allem um den Radsport. Auch die Leichtathletik hatte er angedeutet, mit Irina und Tamara Press – den «Press-Brothers» –, mit Jarmila Kratochvilova aus der ehemaligen CSSR. Hier nahm er den Faden wieder auf, nach einer kurzen Rückblende, weil er einiges bisher nur Regula Wälchli gegenüber erwähnt hatte.

«Sagen euch die Namen Birgit Dressel, Ricky Bruch, Ralf Reichenbach, Uwe Beyer, Florence Griffith-Joyner oder Rod Milburn etwas?»

«Möglicherweise Florence Griffith», sagte Elias Brunner, «hatte die nicht immer extrem lange Fingernägel, zu einem Kunstwerk verziert?»

«Genau. Sie war dreifache Olympia-Goldmedaillengewinnerin, hält noch heute mit 10,49 s den Weltrekord über 100 Meter und mit 21,34 s den 200-Meter-Weltrekord, 1988 aufgestellt, also vor 30 Jahren. Merkt ihr was?»

«Was ist eigentlich aus ihr geworden?», interessierte sich Regula Wälchli. «Sie ist, wie die anderen Genannten auch, den Sekundentod gestorben, Hirnschlag mit 36 Jahren. Man vermutet einen direkten Zusammenhang mit Anabolikamissbrauch.»

Einem Sportler Dopingmissbrauch nachzuweisen, ist auch heute noch schwierig. Sogar Matthias Kamber, ehemaliger Chef von Antidoping Schweiz, hatte in einem Interview mit dem Newsportal «Watson» auf die Frage «Eine hypothetische Annahme: Wenn Sie selbst Athleten dopen müssten, würden Sie es hinkriegen, ohne dass die Athleten entdeckt werden?» wie folgt geantwortet: «Ja, ich wüsste wie. Ich bin auch schon lange genug im Geschäft, um es anstellen zu können.»

Ritter interessierte sich für Spitzensport und Doping. Aus diesem Grund wollte er selber von Matthias Kamber wissen, ob es zutreffe, dass Antidoping Schweiz Athleten von 23.00 bis 5.00 Uhr in Ruhe lasse, ihrer Schlafgewohnheiten wegen. Eine Zeitspanne von sechs Stunden, in der man theoretisch allenfalls dumme Gedanken hätte umsetzen und anschliessend mit der literweisen Einnahme von Wasser sozusagen wieder wegschwemmen können, wie gesagt, natürlich nur rein theoretisch. Und ob es stimme, dass Antidoping Schweiz selber keine Resultate veröffentliche, sondern nur das Schweizerische Olympische Komitee, respektive die betroffenen Verbände. Kamber hatte schriftlich geantwortet, wie folgt: «Antidoping Schweiz darf jederzeit kontrollieren, also auch in der Nacht. Aus offensichtlichen Gründen praktizieren wir dies aber sehr restriktiv. Und: Antidoping Schweiz veröffentlicht keine Resultate. In der Schweiz ist dies die Disziplinarkammer für Dopingfälle von Swiss Olympic, welche die Resultate ihrer Urteile veröffentlicht. Selbstverständlich kann der Athlet von sich aus jederzeit an die Öffentlichkeit gelangen.» (Anm. d. Verf.: Die Antwort von Matthias Kamber liegt dem Autor schriftlich vor.)

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