Wohlensee

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In neue Bereiche der Leistungsförderung liess nun die Gen-Forschung vorstossen. So, dass die Athleten gemäss einem Bericht in der «Berner Zeitung» schneller laufen, weiter werfen oder mehr Gewichte stemmen können als ihre normalen Konkurrenten. Dass solche Superathleten existieren, befürchtete bereits 2016 die Welt-Doping-Agentur Wada. «Wir wissen, dass Forscher immer wieder von Athleten und Coaches wegen genetischer Methoden zur Leistungssteigerung angefragt werden, die jedoch seit 2002 verboten sind», liess sich damals Olivier Rabin, wissenschaftlicher Direktor bei der Wada zitieren.

Im Visier von Gendoping stehen laut dem «BZ»-Bericht sogenannte Sportgene, welche eine Rolle bei Ausdauer, Kraft oder Schnelligkeit spielen. Dazu zähle etwa das Gen für Erythropoetin, kurz EPO. Die körpereigene Substanz kurble die Bildung von roten Blutkörperchen an und verbessere so die Sauerstoffaufnahme. Würde man eine zusätzliche Kopie des EPO-Gens in den Körper einschleusen, würde dieser mehr EPO bilden. Das führe zum selben Resultat wie die Einnahme von EPO-Präparaten, welche häufig von Sportlern dazu missbraucht würden, um die Ausdauer zu steigern. Ein anderes Ziel von Gen-Doping, so die Journalistin Claudia Hoffmann im besagten «BZ»-Artikel, könnte Myostatin sein, das beim Muskelaufbau eine Rolle spielt. Es blockiere übermässiges Muskelwachstum. Würde man nun dieses Myostatin-Gen gezielt ausschalten, wäre die Blockade aufgehoben, und die Muskeln könnten uneingeschränkt wachsen.

«Kugelstösser, Hammer- und Diskuswerfer lassen grüssen. Von Bodybuildern ganz zu schweigen», stellte Regula Wälchli fest.

«Merkwürdig nur», entgegnete Ritter, «dass Snus, ein Nikotinkonzentrat, das Zähne und Zahnfleisch schädigt, abhängig macht, und in vielen Ländern verboten ist, nicht auf der Dopingliste steht, obwohl es nicht bloss von Eishockeycracks eingerieben wird, sondern bereits von Junioren, um die Aggressivität zu steigern. Die Wada hat Snus immerhin auf der Watchlist … Über Doping wurden schon ganze Bücher geschrieben, auch, dass sogar bei Brieftauben gedopt wird, damit sie bei Wettbewerben schneller nach Hause fliegen und zum Teil wie Steine vom Himmel fallen. So, und jetzt ab nach Magglingen!»

Interessant in Zusammenhang mit den Brieftauben sei übrigens auch der Umstand, fügte der Chef noch an, dass in letzter Zeit vermehrt Tiere nicht mehr nach Hause fänden, was vermutlich auf den Umstand zurückzuführen sei, dass ihr «Navigationssystem» von den Strahlen der heutigen Technik beeinflusst und ausser Betrieb gesetzt werde: «Telekommunikationsunternehmen nehmen das, wenn überhaupt, nur ungern zur Kenntnis.»

Vor ihrem Abgang zu neuen Befragungen konnte sich Regula Wälchli eine abschliessende Bemerkung à la Stephan Moser nicht verkneifen und brachte damit ihren Chef zum Schmunzeln: «Was regt sich die Menschheit denn derart über Doping im Spitzensport auf? Das alles gab es doch schon viel früher, denken wir nur an Asterix und Obelix, mit dem Zaubertrank des Druiden. Mit diesem uralten Red Bull räumten die beiden bereits an Olympischen Spielen der Antike ab, zum Missfallen der Römer …»

Regula Wälchli traf bereits um 13.00 Uhr in Magglingen ein, nachdem sie sich bei ihrer ehemaligen Schulkollegin Janine angemeldet hatte. Die Begrüssung der beiden Frauen, die sich seit einigen Jahren nicht mehr gesehen hatten, war entsprechend herzlich. Janine fiel der brandneue Ring auf, den Regula seit vier Tagen trug. Es folgte während ungefähr einer Viertelstunde der nicht nur bei Frauen beliebte Smalltalk über frühere Zeiten.

«Aber deswegen bist du ja nicht hier, Regula», sagte Janine nun. «Worum geht es genau?»

«Wir ermitteln in einem Mordfall und da könnte ein gewisser Karl-Heinz Becker eine Rolle spielen. Deutscher, möglicherweise ehemaliger Spitzensportler. Weil in der Agglomeration Bern wohnhaft, läge es auf der Hand, dass er hier trainiert hat. Sagt dir der Name etwas?»

«Karl-Heinz Becker, sagst du? Nimm doch dort drüben Platz, ich lasse schnell einmal den Computer für uns arbeiten, er checkt die unzähligen Listen schneller durch als wir beide.»

Die Eidgenössische Hochschule für Sport Magglingen EHSM ist Teil des Bundesamts für Sport Baspo, bietet Aus- und Weiterbildungen in den Bereichen Sport und Sportwissenschaften an, bis hin zu einer Vertiefung im Bereich Spitzensportmanagement, Masterstudiengang Spitzensport und Spitzensportförderung in der Armee inklusive.


Das «Ende der Welt», ein Trainingscampus der Eidgenössischen Hochschule für Sport in Magglingen.

«Sag einmal, Janine, im Buch über die ehemalige Spitzenturnerin Ariella Kaeslin kommt Magglingen, entschuldige den Ausdruck, arschflach raus. Wie stellt ihr euch dazu, das ist ja ein GAU.»

«Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.»

«Janine, auch wenn ich leicht blond bin, so ganz doof bin ich nicht.» «Niemand hat das behauptet!»

«Also gut, wie geht das Baspo denn mit Passagen um wie: ‹Es gab Momente, in denen sich Ariella wehrte. Aber sonst bedeutete Magglingen das Brechen eines Menschen. Jedes Training in Magglingen liess Erinnerungen an die Kindheit verblassen, bis nichts mehr übrig war, nur Ratlosigkeit und die Frage, wie es so weit hatte kommen können.› Oder: ‹Der Trainer sagte, wenn du tot umfallen würdest, könnte ich dennoch gut zu Abend essen gehen.› Oder: ‹Es gab Turnerinnen, die Magglingen verliessen, weil sie wollten oder mussten – und danach mit Essstörungen oder Magersucht kämpften. Aber der Verband sah vor allem, dass die Resultate besser waren als beim Amtsantritt des neuen Trainers.›»

«Nicht vergessen, Regula, alle erfolgreichen Sportlerinnen und Sportler haben harte Zeiten hinter sich, anders geht es nicht. Und verdienen zum Schluss eine ganze Menge Geld. Nebst Ruhm und Ehre.»

«Janine, das war nicht meine Frage.»

«Also, Regula: Ariella Kaeslin hat ausschliesslich im Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbandes STV trainiert, das sich in Magglingen befindet. Der Betrieb dieses Leistungszentrums liegt in der Verantwortung des STV. Das Baspo kann nicht beurteilen, ob und inwieweit die Vorwürfe Ariella Kaeslins gegen ihre Trainer zutreffen. Fakt ist, dass der Spitzensport auch im Kunstturnen sehr viel von jenen abverlangt, die an die Spitze wollen. Ob dieser Einsatz geleistet werden soll, müssen Sportlerinnen und Sportler – mit Unterstützung ihres persönlichen Umfelds – selber entscheiden.» (Anm. d. Verf.: Diese Aussage des Baspo liegt dem Autor schriftlich vor.)

Regula Wälchli hatte nicht vor, ihre Beziehung zu Janine wegen einer ihr nicht persönlich bekannten Kunstturnerin aufs Spiel zu setzen, weshalb man sich wieder auf Karl-Heinz Becker konzentrierte, der sich Sekunden später als «schwarzes Loch» herausstellte, weil er in keiner Liste zu finden war. Die Baspo-Frau nutzte danach die Gelegenheit, ihrer ehemaligen Schulkameradin das weitläufige Gelände der Hochschule in allen Einzelheiten zu zeigen. Die Art und Weise, wie sie während des Rundgangs Regula Wälchli Fragen zur Person von Karl-Heinz Becker stellte, verstärkte bei der Kriminalbeamtin das Gefühl, dass Janine vielleicht doch mehr wusste, als sie ausgesagt hatte. Zudem konnte die Ermittlerin, angeblich aus Gründen des Datenschutzes und ohne Beschluss der Staatsanwaltschaft, die Listen selber nicht einsehen. Schliesslich musste sich Wälchli jedoch eingestehen, dass wohl alles nur Zufall war oder ihrem persönlichen Vorstellungsbereich entsprang, sodass sie sich nach dem Rundgang von Janine verabschiedete. Dennoch: Die Lektüre des Buchs über Ariella Kaeslin kratzte arg an der Fassade von Magglingen.

Regula Wälchli dachte auch nicht daran, sich in eine Diskussion ganz anderer Dimension einzulassen. Ein ehemaliger Schweizer Kunstturner, 169 Zentimeter gross, hatte ihr nämlich Interessantes erzählt: Bei einer späteren Rückenmarkuntersuchung zu Beginn der Achtzigerjahre – in keinem Zusammenhang mit dem Sport – sei ihm von den Ärzten mündlich mitgeteilt worden, dass man bei ihm Spuren von Wachstumshemmern gefunden habe. Regula Wälchli, sich bewusst, dass es im Kunstturnen von Vorteil ist, eher klein gewachsen zu sein, fragte ihn, wie das möglich sei. «Ich weiss es nicht, man hat uns nie etwas gesagt, wir mussten als Jugendliche einzig regelmässig Vitamine schlucken, die man uns verabreicht hat.» (Anm. d. Verf.: Die Aussagen des Betroffenen wurden dem Autor gegenüber persönlich gemacht. Offizielle Stellungnahme von Thomas Greutmann, Ressortchef Kommunikation und Medienchef beim Schweizerischen Turnverband STV zuhanden des Autors: «In der Schweiz sind meines Wissens keine solchen Vorkommnisse bekannt.»)

Maximilian Graf von Neippenberg. Immer noch Montag, 29. Januar.

In Hinterkappelen kamen Stephan Moser und Elias Brunner unter dem Motto für Berner «Nume nid gschprängt, aber geng e chly hü…» voran, was aber überhaupt nichts mit den Akteuren als vielmehr mit den Vorschriften zu tun hatte. Daran hatten sich auch unsere beiden Gesetzeshüter zu halten, wenn auch widerwillig, was sie jedoch niemandem zu verstehen gaben.

Die Liegenschaftsverwaltung für den Kappelenring 7 hatte den Kantonspolizisten Frau Silvia Zimmermann als erste Kontaktperson angegeben, die für jenes Haus zuständige Hauswartin. Sekunden nach ihrem Läuten hörten die beiden Beamten diese durch die geschlossene Türe hindurch «Ig bi am choche!» sagen, besser gesagt rufen. Entsprechend begeistert kam sie mit einem Tuch daher, ihre Hände abputzend, damit die beiden Herren nach der Begrüssung nicht Spuren von Tomatensauce zu beseitigen hatten.

«Frau Zimmermann? Ich bin Stephan Moser von der Kantonspolizei Bern, das hier ist mein Kollege Elias Brunner.» Beide zeigten Silvia Zimmermann ihre Dienstausweise.

 

«Ich weiss.»

«Und wie das? Sind Sie bei der NSA?», schmunzelte Moser.

«Sie werden es kaum glauben, Herr Moser, aber bei der Liegenschaftsverwaltung haben sie ein Telefon. Ich auch. Sie möchten also zu Herrn Becker?»

«Genau, wir möchten uns bei ihm umsehen.»

«Und weshalb läuten Sie nicht ganz einfach bei ihm? Meines Wissens ist er nicht gehörlos.»

«Haben wir sehr wohl, Frau Zimmermann, nur hat niemand geöffnet», präzisierte Brunner.

«Warten Sie husch, ich nehme nur die Pfanne vom Herd und komme dann mit Ihnen rüber.» Sprach’s und drehte den Beamten ihren Rücken zu.

«1:0. Die isch o nid uf e Gring gheit», stellte Moser flüsternd zu Brunner fest.

Wenige Minuten später marschierten die drei in Richtung Kappelenring 7. Silvia Zimmermann kannte Stephan Moser vom Sehen her, wusste, wer er war, auch wenn er auf der anderen Seite des Kappelenrings wohnte, mit einer Südländerin, soweit sie sich erinnern konnte. Ihre Kenntnisse behielt sie allerdings für sich, die Polizei musste ja auch nicht immer über alles Wissen der Bürger im Bilde sein. Wenige Minuten später hatten sie den Wohnblock mit der Nummer 7 erreicht. Beckers Wohnung lag im Parterre, weshalb man auf die Benutzung des Lifts verzichten konnte. Auch nach dem dritten Läuten öffnete niemand.

«Frau Zimmermann, wir müssen in die Wohnung, den Beschluss erwarten wir per SMS in den nächsten Minuten, ich werde ihn Ihnen sofort zeigen.» «Ist Gefahr in Verzug?», fragte Silvia Zimmermann fachkundig, was die beiden Herren staunen liess. «Gefahr im Verzug» erlaubt es den Ermittlern, auch ohne richterlichen Beschluss gewisse Ermittlungen vorzunehmen, wenn die Zeit drängt und /oder Verdunkelungsgefahr besteht, zum Beispiel bei Hausdurchsuchungen.

«Nun, ich denke nicht, nein, Frau Zimmermann, keine Gefahr in Verzug.» «Also kein rambomässiges Eintreten der Türe. Auch recht. Ich organisiere Ihnen den Schlüsseldienst. Sie haben Glück: Hänni wohnt im Kappelenring, sein Auto habe ich vorhin vor dem Block stehen sehen. Bis er kommt, werden Sie bestimmt auch den Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft erhalten haben, womit dann alles seine Richtigkeit hätte, nicht wahr, Herr Moser?»

«Durchaus, durchaus, Frau Zimmermann… Das ist auch ganz in unserem Sinn.»

Während die Hauswartin mit ihrem Handy die Nummer des Schlüsseldienstes wählte und sich einige Schritte entfernte, schauten sich die beiden Kriminalisten belustigt an. Jeder dachte wohl das Gleiche: «Schade, haben wir es nicht immer mit solchen Leuten zu tun.» Silvia Zimmermann hatte sich übrigens nicht getäuscht: Sie kündigte den «Türöffner», wie sie den Mann nannte, «in fünf bis zehn Minuten» an.

«Frau Zimmermann, was können Sie uns über Karl-Heinz Becker sagen?» «Nicht viel, ich kenne ihn ja nicht. Wohnt seit ungefähr einem Jahr hier. Und eines weiss ich noch, Herr Moser: Er fährt zurzeit einen blauen Nissan Skyline GTR, Jahrgang 2002. Steht in der Einstellhalle, Platz 202, kann man sich gut merken.»

«Hoppla. Eine Legende von einem Auto. Sie kennen sich damit aus?» «Eher mein Mann Daniel, aber dann und wann bekomme ich etwas an Wissen ab… Übrigens, mir ist, Becker habe sich im Laufe der Zeit irgendwie verändert, vom Aussehen her, aber ich kann mich auch täuschen.»

«Ich bleibe hier stehen, zumindest so lange, bis der Durchsuchungsbeschluss kommt», fügte Zimmermann an, was Minuten später der Fall war, praktisch gleichzeitig mit Erscheinen des «Türöffners» Hänni, der sich als Profi erweis. Nach lediglich gefühlten 20 Sekunden war die Türe offen, kein Schlüssel steckte von innen. Was die vier Leute zu sehen bekamen, verschlug ihnen die Sprache und vor allem den Atem.

Ein eindeutiger Geruch von Verwesung schlug ihnen entgegen, der automatisch dazu führte, dass Hänni und Silvia Zimmermann zwei Schritte zurücktraten und ihre Hände vor Mund und Nase hielten, beide mit der entsetzten Frage, was denn hier los sei. Brunner und Moser hingegen wussten aus Erfahrung sofort, dass sie eine Leiche vorfinden würden. Sie baten Herrn Hänni und Frau Zimmermann, sich von der Türe zu entfernen.

Vorsichtig betraten die Ermittler die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, wo sie wenige Augenblicke später hinter einer Türe einen Toten sahen, der nicht erst seit heute am Boden lag, inmitten eines einzigen Durcheinanders. Moser ging direkt auf zwei Fenster im Wohnzimmer zu, um sie zu öffnen. Ohne miteinander zu sprechen, wussten sie, was zu tun war. Keine halbe Stunde später glich der Kappelenring 7 einer belagerten Festung. Vor dem Haus standen mehrere Autos der Blaulichtorganisationen, aber auch zivile Fahrzeuge. Der Zugang zum Gebäude war abgesperrt, hinter den rotweissen Kunststoffbändern drängten sich die Schaulustigen. Das Parterre mit drei weiteren Wohnungen wurde isoliert, zumal niemand auf das Läuten reagierte, was vermuten liess, dass alle Parteien bei der Arbeit oder in den Ferien waren. Der Zugang zum Lift blieb frei.

Da sich der Gestank bis zum Eintreffen der Spezialisten dank den jetzt offenen Fenstern im Wohnzimmer leicht verflüchtigt hatte, konnten alle ihre Arbeit aufnehmen. Veronika Schuler, nach nur wenigen Stunden Schlaf, kniete mit einer Assistentin neben der Leiche, um sie oberflächlich zu untersuchen, Eugen Binggeli und Georges Kellerhals waren auf Spurensuche, Stephan Moser versuchte, Mieter auf den übrigen Etagen zu möglichen Beobachtungen zu befragen, Elias Brunner wiederum sprach mit Herrn Hänni und Silvia Zimmermann, fragte sie, ob sie eine spezielle Betreuung benötigen würden, was diese verneinten. Beide verliessen kurz danach den Kappelenring 7 mit der Zusage, mit niemandem im Detail über das Gesehene zu sprechen. Minuten später traf auch Gabriela Künzi vom Mediendienst der Kantonspolizei Bern ein. Regula Wälchli erhielt von Joseph Ritter den Auftrag, von Magglingen aus direkt nach Hinterkappelen zu fahren, um ihre beiden Kollegen zu unterstützen.

Aufgrund der Umstände war rasch klar, dass die auf 14.00 Uhr angesetzte grosse Informationsrunde sich auf ein besseres Tête-à-tête reduzieren würde, ein eher kurzes, mit Joseph Ritter, Staatsanwalt Max Knüsel, Kapokommandant Christian Grossenbacher und Ursula Meister vom Mediendienst. Der Dezernatsleiter Leib und Leben wurde unmittelbar vor der Sitzung von seinen Leuten über den neuesten Stand der Dinge in Hinterkappelen informiert. Als Erster verliess der Staatsanwalt der Runde, mit seinem inzwischen bekannten «Ritter, halten Sie mich auf dem Laufenden», was dazu führte, dass sich Ritter und Meister belustigt zuzwinkerten.

«Christian, kannst du das grösste ungelöste Rätsel der Menschheit lösen?», wollte Joseph Ritter vom Polizeikommandanten wissen.

«Wenn du mir das zutraust, gerne.»

«Wer ist dieser Max Knüsel eigentlich, ich meine, privat?»

«Ihr seid doch die Ermittler… Aber ich helfe gerne auf die Sprünge. Er wohnt zusammen mit Laika in Stettlen.»

«Er ist verheiratet?»

«Nein, Laika ist seine Hündin, er nennt sie nach der ersten Hündin im Weltall. Meines Wissens ist er geschieden und hat keine Kinder. Ich selber weiss auch nicht viel über ihn. Fährt anscheinend einen Oldtimer, wenn er nicht gerade mit dem ÖV unterwegs ist. Aber wieso die Frage?»

«Einfach so. Denn obwohl wir schon jahrelang mit ihm zusammenarbeiten, wissen wir wenig über ihn. Aber stimmt, zur Verlobungsfeier von Regula und Elias ist er allein gekommen. Auch ohne Laika.»


Hinterkappelen am frühen Morgen im Februar.

«J. R., der Mann ist ein Workaholic, jede Wette, dass er einmal Generalprokurator wird. Mehr kann ich beim besten Willen nicht sagen.»

«Immerhin. Danke, Christian», sagte Ritter, worauf sich der Polizeichef ebenfalls verabschiedete.

Die folgenden Minuten benutzten Joseph Ritter und Ursula Meister, um die Kommunikation für den späteren Nachmittag zu besprechen. Ursprünglich war ja vorgesehen, eine Medieninformation durchzuführen. An dieser hielt Ursula Meister nach wie vor fest, auch angesichts der neuesten Entwicklung. Sie erklärte ihren Entscheid damit, dass die Informationen somit gezielt kanalisiert werden konnten. Denn: Zwar waren die beiden Gewaltverbrechen innerhalb nur weniger Tage praktisch am gleichen Ort ungewöhnlich, den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Elchin Guseinow, dem Kotzbrocken, und Karl-Heinz Becker kannte indes niemand, mit Ausnahme der Ermittler und Spezialisten. Für Ursula Meister, auf dem Sprung zu ihrer Kollegin Gabriela Künzi nach Hinterkappelen, schien klar, dass die Journalisten selber einen vermuteten Zusammenhang zwischen den beiden Fällen konstruieren würden.

«Gabriela und ich schaffen die Sache allein, J. R., du brauchst nicht zwingend dabei zu sein.»

«Ursula, zum einen hatte ich noch nie Grund, an eurer Kompetenz zu zweifeln, zum anderen danke ich dir, dass ich im Büro bleiben kann. Ich will via Fedpol, eventuell auch via Bundesanwaltschaft, herauszufinden versuchen, was es mit der Niederlassung von Becker auf sich hat. Eine komische Sache.»

«J. R., man muss keine Prophetin sein, um zu wissen, was bei uns ablaufen wird: Die Elektronischen und die Boulevardblätter werden in erster Linie selber zu recherchieren versuchen und mit Nachbarn sprechen, weil von uns nebst den bekannten Fakten zur Auffindung der beiden Leichen nur ein ‹Wir ermitteln in alle Richtungen› kommen wird. Die Vertreter der Tagespresse hingegen haben ein paar Stunden mehr Zeit, ich bin selber gespannt, was da alles zu hören, zu sehen und zu lesen sein wird.»

Eine Viertelstunde später musste sich Ursula Meister regelrecht eine Gasse durch eine Menschentraube vor dem Kappelenring 7 bahnen. Und per Zufall hörte sie im Vorbeigehen Wortfetzen einer Frau, die mit einem Journalisten von «20 Minuten» sprach, den sie kurz grüsste, ohne stehen zu bleiben und ihm somit die Illusion nahm, dass sie selber mit ihm reden würde. «Mein Mann beobachtet Vögel…, der Polizei heute Morgen gesagt….» Ganz klar: Frau Rindlisbacher hatte ein offensichtliches Mitteilungsbedürfnis. Ob ihr Mann Lukas davon wusste? Wie auch immer: Damit musste man rechnen. Immerhin war es von Vorteil zu wissen, welche Fragen an der Medieninformation gestellt werden konnten.

Minuten später standen die beiden Kommunikationsspezialistinnen vor der Wohnung «Becker», wo man im Innern die Leute bei ihrer Arbeit sah. Noch immer drang ein wenig appetitlicher Geruch aus der Wohnung, weshalb alle, inzwischen auch die Kollegen Brunner und Moser, die bekannten weissen Überzüge trugen, samt Gesichtsmasken, denn man wusste nie, was für Infektionsherde sich um oder in einer Leiche versteckten. In diesem Moment gesellte sich Elias Brunner zu den beiden Frauen.

«Mon Dieu! War das ein Gestank!»

«Elias… war?»

«Ja, denn wie es jetzt noch stinkt, das ist kein Vergleich zu vorher. Die Assistentin von Veronika musste sich sogar übergeben, eher ungewöhnlich in der Rechtsmedizin, aber die Gute ist ja noch nicht sehr lange dabei… Ich erspare euch Details.»

«Ist der Tote dieser Karl-Heinz Becker?»

«Eine heikle Frage. So, wie er da liegt, kann man der Hauswartin keine Identifizierung zumuten. Iutschiin und Schöre suchen in diesem Durcheinander gezielt nach einem Foto des Mannes, damit sie einen provisorischen Abgleich vornehmen können, um sicher zu sein, dass er unsere Leiche ist, dann erst bitten wir Frau Zimmermann um eine erste Einschätzung.»

«Und Veronika, was sagt sie zu den Todesumständen?»

«Liiiiiiiiiiiiiebe Ursula, was wird sie schon gross sagen wollen? Einmal nur darfst du raten.»

«Weitere Informationen nach der Autopsie.»

«Volltreffer. Immerhin schränkt sie die Tatzeit schon einmal ein, mit Einbezug der hohen Zimmertemperatur. Mindestens vier, höchstens sechs Tage. Was heisst, dass…»

«…was heisst, dass der KB für die Tat nicht in Frage kommen kann», schaltete sich Gabriela Künzi in Richtung Elias Brunner dazwischen.

«An deinem messerscharfen Verstand werden wir uns noch einmal alle schneiden, Gabriela. Genau das heisst es», liess sich Elias Brunner verlauten.

Die Ermittler gingen nämlich davon aus, dass die übereinstimmenden Beobachtungen von Lukas Rindlisbacher und Herrn Kim sowie die Aussagen von Veronika Schuler und des KTD den Schluss zuliessen, dass KB am späten Abend des 21. Januar zu Tode kam. In diesem Moment traten Stephan Moser und Eugen Binggeli vor die Türe, auch, um tief durchatmen zu können. Binggeli hielt dabei ein Foto in der Hand, das drei Personen zeigte: Eine Frau um die Dreissig, einen Mann, etwa 50 bis 55 Jahre alt, und den vermuteten Toten, Karl-Heinz Becker, oder wie auch immer. Die Aufnahme war auf der Rückseite mit «Im letzten Sommer» beschrieben und zeigte die drei Personen auf einem Schiff vor der St. Petersinsel im Bielersee, die bekanntlich nur noch eine Halbinsel ist. Das Foto fand Binggeli unter der Matratze versteckt.

 

«Was Veronika uns noch verraten hat», sagte Binggeli, «ist, dass der Mann offenbar verschiedene Gesichtsoperationen hatte, was durchaus zu den nebulösen Umständen seiner Niederlassung via Fedpol passen könnte. Zeugenschutzprogramm.»

«Das Chaos in der Wohnung, Stephan: Raubüberfall?»

«Gabriela, schwer zu sagen, denn im ganzen Durcheinander liegen schon Sachen herum, die sich zu klauen gelohnt hätte. Weg sind auf den ersten Blick alle elektronischen Geräte. Ich denke, dass ein Rückschluss erst möglich sein wird, wenn uns die genaue Todesursache vorliegt. Ich beneide Veronika nicht, mit ihrem 26-Stunden-Tagesprogramm. Übrigens: Das Fenster im Schlafzimmer wurde eingeschlagen, möglich, dass der Mörder vom Garten in die Wohnung gelangt ist. Abklärungen laufen noch.» «Gabriela, kannst du uns einen Gefallen tun, damit wir keinen Kleiderwechsel vornehmen müssen?», meldete sich Stephan Moser zu Wort. «Klar doch.»

«Auf Parkplatz 202 müsste ein Nissan Skyline stehen. Kannst du das husch checken?»

«Der Wagen von Becker?»

«Autsch! Jetzt habe ich mich geschnitten…»

«Jaja, scho guet, Elias … Komm, Ursula, suchen wir Parkplatz 202.»

Gerade, als die beiden Mediensprecherinnen sich in den Untergrund begaben, erschien Regula Wälchli kurz vor 15.00 Uhr auf der Bildfläche, bestens im Bild, was in den letzten drei Stunden in Hinterkappelen passiert war. Binggeli bat Wälchli, Silvia Zimmermann das Foto zu zeigen, verbunden mit der Frage, ob sie im einen der abgebildeten Herren Karl-Heinz Becker erkenne. Regula Wälchli schaute sich das Bild genauer an.

«Iutschiin, du meinst den Mann rechts?»

«Ja, genau, Veronika scheint sich fast sicher, dass das der Tote in der Wohnung ist.»

«Und wer der Typ links ist, das willst du nicht wissen?»

«Ich denke nicht, dass Frau Zimmermann das weiss, aber frag sie trotzdem mal.»

«Es geht einfacher: Frag mich.»

«Was? Frag mich?»

«Der Herr links, der seinen Arm schützend um die Frau in der Mitte legt, das ist Maximilian Baron von Neippenberg.»

Nach dieser Feststellung waren auch Stephan Moser und Elias Brunner ganz Ohr. Regula Wälchli zeigte sich erstaunt, dass keiner der vier Anwesenden – Moser, Brunner, Binggeli und Kellerhals – Maximilian Baron von Neippenberg kannten, zumindest von den Abbildungen in den Klatsch- und Hochglanzmagazinen her. Dem Schönheitschirurgen – korrekt: dem Facharzt für plastische Chirurgie – gehörten zwei Kliniken für die vornehmlich Reichen und Schönen, oder schön Erhaltenen, wobei der letzte Ausdruck individuelle Interpretationssache schien.

Stephan Moser kam in dieser Situation seinem Ruf als Bürokalb nach: «‹Wie alt sind Sie denn, gnädige Frau?›, will der Schönheitschirurg von seiner neuen Patientin wissen. ‹Ich gehe auf die 60 zu.› – ‹Und aus welcher Richtung?›»

«Sehr schön Stephan, sehr schön. Aber vielleicht verrät uns meine Verlobte noch ein paar pikante Details zu diesem Baron.»

Regula Wälchli konnte aus dem Vollen schöpfen, obwohl sie angeblich nie die entsprechende «Fachpresse» las. Maximilian Baron von Neippenberg – niemand wusste so genau, ob er wirklich so hiess oder sich den Namen beim Titelhändler Konsul Weyer erkauft hatte –, besass zwei Schönheitskliniken, beide mit dem Namen «Venus – Clinique de Beauté», eine in Berlingen in der Nähe von Steckborn am Bodensee, die andere oberhalb von Twann, nahe bei Prägelz – französisch: Prêles –, ganz in der Nähe der Twannbachschlucht, wo Friedrich Dürrenmatt einst den schrägen Kommissär Hans Bärlach aus Bern den mysteriösen Mord an seinem fähigsten Polizeibeamten Ulrich Schmid aufklären liess. Baron von Neippenberg – sein persönliches Logo, edel auf seinem weissen Kittel aufgestickt, las sich als BvN – zeigte sich gerne als Mann von Welt, am liebsten mit bekannten Grössen aus dem Showbiz und der Politik. Überlegung: «Deren Glanz färbt auch auf mich ab.» Die Klinik an der Route de Prêles befand sich in einem ehemaligen Herrschaftshaus mit grossem Park samt altem Baumbestand. Die Aussicht auf den Bielersee war atemberaubend. Besonders auffällig, so Regula Wälchli: BvN liess sich oft mit teuren Autos abbilden, auch mit Oldtimern. Viele ähnliche Modelle seiner Kundschaft verschiedener Hersteller standen jeweils vor der Klinik, ein Hinweis darauf, dass seine Behandlungen preislich vermutlich nicht ganz der M-Budget-Linie entsprachen.

«Ich zähle mal eins und eins zusammen», überlegte Moser laut, «wenn unser Toter Karl-Heinz Becker ist und verschiedene kosmetische Gesichtsoperationen hinter sich hatte, dann passt das doch bestens mit der beruflichen Tätigkeit des Barons zusammen.»

«Schade, habe ich das nicht vorher gewusst, sonst hätte ich von Magglingen aus direkt nach Prêles fahren können», konstatierte die Frau im Team, während sie auf ihre Uhr schaute und die Herren fragte, ob sie nochmals losfahren solle.

«Nein, Teuerste, dem Baron kannst du morgen einen Besuch abstatten, so er denn nicht in Mostindien ist. Heute müssen wir versuchen, hier mit so vielen Nachbarn wie möglich zu reden, damit wir morgen früh das weitere Vorgehen mit J. R. absprechen können.»

«Gut so, mein edler Ritter und Beschützer, aber nach meinem Kontakt mit dieser Frau Zimmermann rufe ich schnell in der Clinique in Prêles an, in der Hoffnung, Durchlaucht sei morgen dort.»

«Von mir aus kannst du ihn auch ‹Durchlocht› nennen, ihn einfach nicht als ‹Baron von Merkwürden› oder ‹Your Madness› ansprechen», bemerkte Stephan Moser abschliessend.

Gabriela Künzi und Ursula Meister waren inzwischen fündig geworden, zumindest was PP 202 betraf, der Skyline GTR jedoch war weit und breit nicht zu sehen, auch auf anderen Abstellplätzen der Einstellhalle nicht. Stephan Moser erkundigte sich deshalb bei den Kollegen vom KTD, ob sie im Chaos irgendwelche Schlüssel gefunden hätten, die möglicherweise zum Kultauto passten. «Nein, bis jetzt jedenfalls nicht», rief Schöre Kellerhals aus der Ferne des Wohnzimmers. Wo aber war der Skyline?

Nur einige Minuten später kehrte auch Regula Wälchli zum Tatort zurück mit der Mitteilung, dass Frau Zimmermann den Mann rechts auf dem Foto als Karl-Heinz Becker erkannt hatte, wobei er auf der Aufnahme «im Gesicht anders» aussehe als vor zwei Wochen, als sie ihn zum letzten Mal gesehen habe. Beim zweiten Mann und der Frau hingegen habe sie den Kopf geschüttelt. Derweil sich die beiden Medienreferentinnen in Richtung Innenstadt zur Pressekonferenz verabschiedeten, wurde der Tote von Spezialisten in einen Kunststoffsack gelegt und in einem Metallbehälter weggetragen. Veronika Schuler und ihre Assistentin, letztere noch immer bleich, folgten den beiden Männern, die wenig später zum IRM abfuhren, die beiden Rechtsmedizinerinnen hinterher.

Während die drei Ermittler sich auf die Suche nach möglichst auskunftsfreudigen Nachbarn machten, blieben Eugen Binggeli und Georges Kellerhals in der Wohnung zurück, die vom Geruch und der Temperatur her nur langsam wieder annehmbare Aufenthaltsbedingungen bot. Das Durcheinander war nach wie vor total.

Am frühen Abend erreichte Elias Brunner – der seinerseits seinen Chef auf dem Laufenden hielt – der Bescheid von Georges Kellerhals, dass man auf Anhieb noch keine tatrelevanten Spuren habe sicherstellen können und die Arbeit jetzt bewusst bis zum Zeitpunkt der Ergebnisse aus dem IRM unterbreche, um abhängig von den Todesumständen gezielt suchen zu können. Zweifel bestanden auch in Zusammenhang mit dem eingeschlagenen Fenster im Schlafzimmer, waren doch im Rasen keinerlei Fussabdrücke feststellbar. Wie aber waren der oder die Täter in die Wohnung gekommen?