Wohlensee

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Um 12.00 Uhr zeigte das Areal Auflösungserscheinungen, hatten die meisten Spezialisten doch ihre Arbeiten abgeschlossen, zumindest was den Fundort anbetraf. Das traf auch auf Christian Lüthi zu, der die angesagte Generalversammlung ausnahmsweise im Restaurant Bistro des Alterswohnheims Domicil Hausmatte in Hinterkappelen abhalten musste, sehr zum Erstaunen seiner Kollegen. Ursula Meister ihrerseits konnte die meisten Fragen der Medienschaffenden aus verständlichen Gründen noch nicht schlüssig beantworten, verwies deshalb auf eine voraussichtlich «morgen Montag um 16.00 Uhr stattfindende Medieninformation». Der Satz «Wir ermitteln in alle Richtungen, stehen erst am Anfang unserer Recherchen» fiel dabei einige Male. Einzig Eugen Binggeli und Georges Kellerhals blieben auf dem weiterhin abgesteckten Terrain zurück, noch immer auf der Suche nach möglichen Spuren. Zwei Kantonspolizisten stellen nach wie vor sicher, dass das Gelände nicht durch Unbefugte betreten wurde und mögliche Spuren vernichtet wurden.

Joseph Ritter hatte sich kurz zuvor in Richtung seines Büros zur Vorbereitung der Sitzung am Montag verabschiedet. Regula Wälchli, Elias Brunner und Stephan Moser begannen damit, mögliche Zeugen zu befragen, vor allem Mitglieder des Rowing Club Bern – der vor einigen Jahren vorgefertigte Teile des ehemaligen Restaurants Mistral der Migros während der Expo.02 übernehmen und damit sein Clubhaus am Wohlensee realisieren konnte – sowie Gäste im TCS Camping Bern-Eymatt. Das Besondere an diesem Campingplatz: Während der Wintermonate ist er seit der Saison 2016 /17 offiziell geschlossen, lediglich neun Holzchalets wurden vermietet, meistens an ausländische Touristen, die länger in der Schweiz blieben und Bern aus Ausgangspunkt für ihre Reisen wählten, oder aber an Aussteller bei der Bernexpo. Die Bernexpo ist das Messe- und Ausstellungsgelände von Bern. Die Bernexpo Groupe ist ein Live-Marketing-Unternehmen, das jährlich rund 30 Eigen- und Gastmessen sowie über 200 Kongresse und Gastveranstaltungen durchführt.

Wie nicht anders zu erwarten, waren die Auskünfte jener Aufenthalter, die an diesem Sonntagnachmittag im Camping anzutreffen waren, für Elias Brunner und Stephan Moser nicht sehr ergiebig. Das lag zum einen am Umstand, dass nicht alle Holzhütten belegt waren, aber auch daran, dass drei Mieter erst gestern eingecheckt hatten. Immerhin: Ein Koreaner, Herr Kim – mit seiner Frau in Europa unterwegs –, behauptete, am 21. Januar um 21.45 Uhr in der Nähe des Waldes ein Auto und laute Männerstimmen gehört zu haben, die aber kurz darauf verstummten. Das Auto fuhr nach seinen Angaben nach ungefähr zehn Minuten wieder weg, sicher aber noch vor 22.00 Uhr.

«Herr Kim, weshalb können Sie sich an Datum und Zeit so gut erinnern?», wollte Stephan Moser von Herrn Kim wissen, der fliessend Englisch sprach und alle Fragen mit asiatischer Zuvorkommenheit beantwortete. «Am Sonntagabend schaue ich immer die Frühnachrichten beim koreanischen KBS und die beginnen um 6.00 Uhr.»

«Und das wäre mit der Zeitverschiebung von acht Stunden 22.00 Uhr Schweizer Zeit am Vorabend. Könnte es aber nicht auch Montag oder Dienstag gewesen sein?»

«Nein, ich schaue die News nur am Montagmorgen, wenn wir im Ausland sind, auch wegen der Sportresultate vom Wochenende, vor allem beim Taekwondo. Das habe ich auch am letzten Sonntagabend gemacht. Eine Viertelstunde vorher bin ich vors Haus, um eine Zigarette zu rauchen, da habe ich das Motorengeräusch und die Stimmen gehört.»

«Und einen Schuss?»

«Nein, keinen Schuss.»

«Herr Kim, können Sie morgen Vormittag zu uns kommen, damit wir Ihre Aussagen protokollieren können? Das wäre sehr wichtig.» Mit dieser höflich formulierten Aufforderung überreichte Stephan Moser dem Koreaner seine Visitenkarte.

«Das mache ich. Kann ich bereits um halb acht kommen, damit Frau Kim und ich unseren Ausflug nach Montreux wie vorgesehen machen können?»


Das Campingareal des TCS in Bern-Eymatt.

Mit «Ja, gerne. Danke, Herr Kim, Sie haben uns sehr geholfen» verabschiedeten sich Brunner und Moser praktisch synchron, um sich auf den Weg zum Clubhaus des Rowing Clubs zu begeben.

«Stephan, kein Schuss. Was schliessen wir daraus, falls der Koreaner Ohrenzeuge war, was ich durchaus glaube?»

«Genau das ging mir auch durch den Kopf. Für mich ist unwahrscheinlich, dass man diesen Fettwanst zum Bootshaus getragen hat. Also ging man mit ihm dorthin, aus welchen Gründen auch immer. Und dort: Schalldämpfer, Sturz in den See. Würde sich auch mit der Version von Herrn Lüthi decken.»

«Ich teile deine Ansicht. Mal sehen, was das IRM rausfindet. Übrigens, unter uns beiden: Wie geht es dir denn?»

«Elias, es geht so. Mal besser, mal weniger gut. Weisst du, Dolores hat mich ja nicht Knall auf Fall verlassen, wir haben oft über dieses Stellenangebot beim Aussenministerium in Madrid gesprochen. So wie es aussieht, kann sie demnächst als Handelsattachée an eine spanische Botschaft nach Übersee wechseln.»

«Habt Ihr noch Kontakt?»

«Ja sicher, fast jeden Tag, wir haben uns ja in aller Freundschaft getrennt. Sie hat sich den Entscheid nicht leicht gemacht. Aber eine Fernbeziehung macht keinen Sinn, wir haben es versucht. Así es la vida, so ist das Leben. Sicher ist, dass ich demnächst aus der Wohnung im Kappelenring ausziehen werde, zu viel erinnert mich an sie.»

«Schon etwas in Aussicht?»

«Elias, du bist ja neugieriger als Regula … Ja, ich habe mir letzte Woche eine Wohnung beim Le-Corbusier-Platz angesehen, ich werde sie wohl nehmen. Dreieinhalb Zimmer, unmittelbar neben dem Freizeit- und Einkaufszentrum Westside gelegen.»

«Und gleich neben dem Alterswohnheim Senevita für die langfristige Lebensplanung.»

«Elias, du bist ein Lööli… Dolores lässt euch übrigens herzlich grüssen. Aber Schluss mit der Diskussion, da kommt Regula daher.»


Hier, beim Le-Corbusier-Platz im Westen von Bern, wird Stephan Moser wohl in eine Wohnung einziehen.

Regula Wälchli hatte nach ihren Erkundigungen beim Ruderclub nichts Greifbares zu vermelden. Sie erzählte davon, per Zufall auch noch mit Caroline Burri gesprochen habe, die praktisch vis-à-vis des Fundorts eine Praxis als Podologin betrieb, nach eigenen Angaben dort noch schnell etwas holen musste und die Gelegenheit für einen Spaziergang nutzte. Aber auch Burri konnte keine aussergewöhnlichen Beobachtungen vermelden.

Elchin Guseinow und Karl-Heinz Becker. Montag, 29. Januar.

Die Medien hatten an diesem Montag, 29. Januar in ihrer bekannten Art vom Leichenfund berichtet, die einen auf der Titelseite, andere wiederum im Lokalteil. Immerhin: Grosse Spekulationen rund um die Tatumstände gab es keine.

«Gibt es Erkenntnisse für unsere Infowand?», wollte Joseph Ritter wissen. Es war 7.05 Uhr, zehn Minuten zuvor hatte sich das Team im Ringhof eingefunden. Regula und Elias hatten es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, Gipfeli von Beck Glatz an der Mittelstrasse mitzubringen, der Chef seinerseits betreute die Nespressomaschine und war für genügend Kapseln besorgt. Für die morgendliche Verpflegung gab es eine Kaffeekasse, aus der auch die Gipfeli bezahlt wurden, als Finanzminister amtete Stephan Moser.

«Ja, ein koreanischer Tourist hat vermutlich die Tat mitgehört. Er kommt in einer …»

«Moment mal, was heisst… mitgehört, Stephan?», fragte Ritter nach, Moser erklärte den Sachverhalt. Ritter schrieb Stichworte dazu auf die Infowand.

«Danke. Was wolltest du noch sagen?»

«Herr Kim kommt in ungefähr einer halben Stunde vorbei, damit wir seine Aussagen protokollieren können. Der Polizeiposten in Hinterkappelen ist ja nicht immer besetzt, nur Montag und Donnerstag von 16 bis 18 Uhr. Oder nach Vereinbarung.»

Ritter wollte gerade mit Fragen zu weiteren neuen Erkenntnissen – die es bekanntlich noch nicht gab – weiterfahren, als sich sein Galaxy S9 mit dem AC/DC-Song meldete. Sehr rasch war klar, dass es um ein wichtiges Gespräch ging, setze sich Ritter doch an sein Pult, schrieb mit, wiederholte nur Stichworte. Sein Team unterhielt sich in dieser Zeit im Flüsterton. Nach knapp fünf Minuten bedankte sich Ritter bei einem «Herr Rindlisbacher» für seinen Anruf und bat ihn, «noch heute Nachmittag zwischen 16 und 18 Uhr beim Polizeiposten Hinterkappelen vorbeizugehen und seine Angaben protokollieren zu lassen. Ich werde die Kollegen informieren.»

«Strix aluco sei Dank», erklärte er den drei Anwesenden.

«Hä?» Moser sprach aus, was Wälchli und Brunner ebenfalls auf den Lippen lag.

«Das ist der lateinische Ausdruck für den Waldkauz. Ein Ornithologe ist Fan des Waldkauzes.»

«Sehr schön für ihn. Und was hat das mit uns zu tun?»

«Stephan, dieser Lukas Rindlisbacher wohnt im obersten Stockwerk des Hochhauses Kappelenring 13. Und von dort aus beobachtet er unter anderem das Verhalten eines Waldkauzes.»

Noch immer verstand das Team nur Bahnhof, sodass der Chef Klartext sprach. Lukas Rindlisbacher hatte heute Morgen in der «Berner Zeitung» den Aufruf der Polizei nach möglichen Zeugen gelesen. Ihm kam dabei eine Beobachtung des vergangenen Sonntags, 21. Januar in den Sinn. Rindlisbacher fiel nämlich seit längerem das veränderte Verhalten eines Waldkauzes auf, der seine Nahrung immer öfter im nachts beleuchteten Kappelenring suchte, um anschliessend in den Wald zurückzufliegen. Rindlisbacher verfolgte diese Gewohnheit auch am letzten Sonntagabend, unmittelbar nach Ende des «Tatort» aus Münster mit Rechtsmediziner Professor Boerne, seiner Assistentin Alberich und Hauptkommissar Thiel. Dies war auch der Grund, weshalb er den Zeitrahmen seiner Beobachtung genau eingrenzen konnte, nämlich zwischen 21.40 und 22.00 Uhr, als Rindlisbacher die News auf TeleBärn verfolgte. Rindlisbacher sagte aus, dass er mit seinem Infrarotfernrohr in der Gegend des Bootshauses Personen gesehen habe, drei Gestalten, vermutlich Männer.

 

«Und? Haben sie jemanden zum Ufer getragen?», wollte Elias Brunner wissen.

«Mehr hat er nicht beobachtet.»

«Weil der Vogel seinen Vogel verfolgt hat, seinen Strix-weiss-nicht was?» «Nein, weil seine Frau ihn vom Balkon geholt hat, er würde sich sonst erkälten.»

«Super, liebe Frau Rindlisbacher, grossartig! Sie haben uns damit sehr geholfen!», rief Moser ironisch.

Eine Erkenntnis indes gab es: Der Fundort der Leiche eine Woche später spielte am Abend des Sonntags, 21. Januar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine zentrale Rolle beim Verbrechen. Just im Moment dieser Erkenntnis klopfte es an der Türe. Es war Claudia Lüthi, Mitarbeiterin im Ringhof, Herrn Kim samt Gattin im Schlepptau.

Ritter bedankte sich bei Claudia Lüthi und begrüsste Herrn und Frau Kim, stellte der guten Ordnung halber alle Mitglieder des Teams vor, obwohl Herr Kim die Kollegen Moser und Brunner bereits kannte. Der Leiter des Dezernats Leib und Leben führte das Gespräch gleich selber, bat Herrn Kim «zuhanden des Protokolls» seine gestrigen Aussagen zu wiederholen, dabei sei jedes Detail wichtig.

Mitten im Gespräch klopfte es an der Türe, wiederum war es Claudia Lüthi, die sich mit entschuldigenden Worten an den Koreaner richtete. «Herr Kim, Sie haben Ihren Wagen ungünstig parkiert, eine unserer Patrouillen kann nicht ausfahren.» Herr Kim machte sich sofort auf den Weg, um das Auto umzuparkieren. Unterwegs fragte er die durchaus Englisch sprechende Claudia Lüthi, weshalb sie wisse, dass es sein Fahrzeug sei.

«Herr Kim, wir sind hier bei der Polizei…», lachte Lüthi. Sie verschwieg dabei den Umstand, dass der Seat ein SH-Kennzeichen hatte, ein untrügliches Zeichen für Mietwagen, ähnlich wie bei AI.

Fünf Minuten später kam Herr Kim zurück. Er entschuldigte sich für sein Versehen. In der Zwischenzeit hatte Joseph Ritter Frau Kim einige Tipps für Sehenswürdigkeiten auf dem Weg nach Montreux gegeben: La Maison du Gruyère und das Musée HR Giger in Gruyères, La Maison Cailler in Broc. Frau Kim gab sich entzückt, zumal Ritter erwähnte, dass er selber drei Jahre in Korea verbracht hatte, als Sicherheitsberater bei den US-Streitkräften, genauer gesagt bei der Luftwaffe der United States Airforce USAF. Noch bevor Ritter Herr Kim weiter befragen konnte, wurde Herr Kim von dieser Neuigkeit durch Frau Kim ins Bild gesetzt; zur grossen Freude beider, zumal Ritter noch einige Sätze Koreanisch sprach.

Herr Kim wiederholte im Ringhof genau jene Aussagen, die er gestern schon gemacht hatte. Diese deckten sich durchaus mit den Beobachtungen von Vogelbeobachter Erich Rindlisbacher. Herr Kim unterschrieb das Protokoll, worauf Ritter ihn und Frau Kim gegen 7.50 Uhr zum Ausgang begleitete. Regula Wälchli vervollständigte währenddessen die Angaben auf der Plexi-Infowand, auch als Vorbereitung auf die Infositzung von 8.00 Uhr mit Kommunikationskollegin Ursula Meister und den beiden Herren des KTD. Getreu der Redewendung «Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt» klopfte völlig unerwartet Veronika Schuler an die Türe. Ungewohnt deshalb, weil die Rechtsmedizinerin ihre Erkenntnisse normalerweise per Telefon mitteilte. Einige Augenblicke später kehrte Ritter ins Büro zurück, sich demonstrativ die Augen reibend, als er Veronika Schuler erblickte.

«Wow! Ich hoffe, das ist kein schlechtes Zeichen, dich hier zu sehen. Darf ich ehrlich zu dir sein: Veronika, du siehst übermüdet aus.»

«Ich bin auch ehrlich mir dir, J. R., ich komme direkt aus dem Institut, habe durchgearbeitet und lege mich nachher aufs Ohr. Aber ich habe Neuigkeiten. Den KTD habe ich vor einer Stunde informiert. Gut möglich, dass Iutschiin und Schöre später weitere News haben.»

«Danke, Veronika. Ich schlage vor, dass wir uns ins Sitzungszimmer verziehen, der KTD und die Kommunikation kommen jeden Moment. Geht ihr alle schon mal vor, ich komme mit dem Flipchart nach.»

Etwas hatte sich im Laufe der Zeit(en) nicht verändert: Alle zur Sitzung aufgebotenen Verantwortlichen erschienen auch heute pünktlich. Bei diesem Treffen ging es nicht nur um neue Erkenntnisse im Fall Wohlensee, sondern um die Vorbereitung zur grossen Inforunde um 14.00 Uhr, mit dem Staatser, mit Polizeikommandant Christian Grossenbacher und mit der zweiten Kommunikationsfachfrau, Gabriela Künzi. Es war unschwer zu erraten, wer sofort das Wort erhielt. Joseph Ritter wollte nämlich bewusst die Aussagen von Herrn Kim und Lukas Rindlisbacher zurückhalten und sie erst nach den Ausführungen der Rechtsmedizin bekannt geben. Er war gespannt, ob sich die bisher beobachteten Ereignisse am Abend des Sonntags, 21. Januar mit den Aussagen von Veronika Schuler deckten.

«Ich falle sogleich mit der Türe ins Haus», begann Schuler nun, «unser Toter heisst Elchin Guseinow. Er stammt ursprünglich aus Tomlija, der Hauptstadt von Uralistan. Seine DNA ist in der internationalen Datenbank gespeichert. Ich denke, dass der KTD euch weitere Informationen zu diesem Guseinow geben kann, weshalb ich mich auf meine Erkenntnisse bei der Virtopsy und der zusätzlich durchgeführten Autopsie beschränke.» Als Virtopsy, fuhr Schuler fort, werde ein forensisch-medizinisches Verfahren bezeichnet, das einen Grossteil der herkömmlichen Obduktionen (Autopsien, Leichenöffnungen) durch ein minimalinvasives Vorgehen ersetzen solle. Initiiert worden sei das Forschungsprojekt mit dem Namen Virtopsy Ende des vergangenen Jahrhunderts unter der Leitung von Richard Dirnhofer am Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern.

«Ehrlich gesagt, ich habe gestaunt, dass man Guseinow überhaupt erschiessen musste», sagte Veronika Schuler zur Verwunderung der Anwesenden. «Er war bis zum Rand hin voll mit Kokain und einem eigentlichen Medikamentencocktail, vor allem Anapolon, das primär in Bodybuilderkreisen verwendet wird. Ich behaupte, ein Ross hätte das alles nicht überlebt.» Veronika Schuler erklärte daraufhin die Wirkung von Anapolon.

«Anapolon ist eines der stärksten und effektivsten Steroide. Es kann zu extremen Kraft- und Massezunahmen in kürzester Zeit kommen. Eine Zunahme des Körpergewichts von fünf bis sieben Kilogramm in sehr kurzer Zeit ist keine Seltenheit. Dabei kommt es zu einer erheblichen Wassereinlagerung, die den Muskelumfang schnell erhöht. Durch Anapolon wird auch Wasser in den Gelenke eingelagert, was ein nicht unerheblicher Faktor für die enorme Kraftzunahme ist und zum anderen auch ein schmerzfreies Training trotz Gelenkproblemen ermöglicht. Anapolon vermehrt die Zahl der roten Blutkörperchen, wodurch der Muskel mehr Sauerstoff aufnehmen kann. Dadurch wird dieser ausdauernder und leistungsfähiger. Der Steroid-Pump tritt durch Anapolon schnell ein und vermittelt während des Trainings ein gutes und angenehmes Gefühl. Eine ausreichende Dosierung liegt bei ein bis zwei Milligramm pro Kilo Körpergewicht täglich. Da Anapolon sehr schnell einem Anpassungseffekt unterliegt, empfiehlt es sich, die Einnahmedauer von fünf bis sechs Wochen nicht zu überschreiten. Anapolon ist kein Steroid für Anfänger und sollte erst von Athleten mit einem gewissen Entwicklungsstand genommen werden.

Anapolon ist auch eines der schädlichsten Steroide. Nebenwirkungen: Schlaflosigkeit, Nierenfunktionsstörungen, Magenschmerzen, erhöhte Leberwerte, Durchfall, Gelbsucht, Erhöhung des Blutdruckes, starke Akne, Haarausfall, Kopfschmerzen, Potenzstörungen, Übelkeit, Erbrechen, sehr toxisch für die Leber», schloss Schuler und fuhr gleich fort: «Erschossen wurde er mit einer 9-mm-Pistole, der KTD hat das Geschoss zur Untersuchung erhalten. Schöre, habt ihr bereits ein Ergebnis?»

«Ja, aber wir fassen erst nach deinen Erkenntnissen zusammen.»

«Der Schusskanal, schräg von unten nach oben, und Schmauchspuren an der Leiche lassen den Schluss zu, dass der Mörder weiter unten in der Böschung stand als das Opfer. Verschiedene Kratzspuren deuten darauf hin, dass der Ermordete danach die Böschung hinuntergefallen ist.»

«Was ist mir den Narben, die du gestern erwähnt hast?»

«Nur nicht so hastig, J. R., alles schön der Reihe nach. Also ja, Guseinow hatte verschiedene medizinische Eingriffe nach Verletzungen. Gut möglich, dass er in frühen Jahren Sportler war, seinen Körper hat er aber vernichtet. Guseinow war 189 Zentimeter gross und 138 Kilo schwer. Sein Gesicht dürfte zu Lebzeiten nicht viel anders als gestern ausgesehen haben. Einige Narben stammen übrigens nicht von Skalpellen. Sie wurden auch nicht medizinisch behandelt, stammten vermutlich von einem Pfuscher nach handgreiflichen Auseinandersetzungen. Das gilt auch für die eine oder andere Stümperei bei den Tattoos. Ich habe noch selten einen derart malträtierten Körper gesehen. Überhaupt und man verzeihe mir jetzt den unprofessionellen Ausdruck: Dieser Typ ist für mich der Inbegriff eines Kotzbrockens.»

Beim konkreten Todeszeitpunkt musste die Pathologin passen, zu sehr hatten ihr die meteorologischen Umstände ins Handwerk gepfuscht.

«Veronika, wir haben berechtigten Grund zur Annahme, dass der KB…» «Sorry, wenn ich dich unterbreche, J. R., der KB?»

«KB, Abkürzung von Kotzbrocken…», entgegnete Ritter, worauf allenthalben Gelächter ausbrach, «… dass der KB am Sonntagabend, 21. Januar zu Tode gekommen ist. Würdest du da widersprechen?»

«Nein, J. R., das ist sehr gut möglich. Wie kommt ihr darauf?», fragte Schuler und wurde umgehend kurz mit den Aussagen der Herren Kim und Rindlisbacher aufdatiert.

«Ich erspare euch weitere Details, die kriminaltechnisch nicht von Belang sind, sie stehen dann in meinem schriftlichen Bericht. Eine Überraschung habe ich für euch aber noch parat…»

«Nun mach es nicht so spannend, Frau Rechtsmedizinerin.»

«J. R., auf der linken Handinnenfläche konnte ich eine Telefonnummer entziffern, die von blossem Auge nicht mehr als solche zu erkennen ist. Und hiermit verabschiede ich mich von euch», sagte Veronika Schuler mit Schalk in den Augen. Doch die Pathologin beliebte nicht zu scherzen, im Gegenteil, sie stand auf und verliess ohne weiteren Kommentar – aber mit der rechten Hand ein V-Zeichen zeigend und einem breiten Grinsen den Raum –, während Ritter nach Luft schnappte.

«Das kannst du jetzt aber mit uns nicht machen! Was hat es mit dieser Telefonnummer auf sich? Verooonika!», schrie er ihr förmlich nach, durch die inzwischen bereits geschlossene Türe. Die übrigen Anwesenden schienen den Oscar-würdigen Auftritt des Chefs sichtlich zu geniessen, denn letztmals hatte man ihn vor drei Jahren ähnlich aufgewühlt erlebt, als er sich ebenfalls während einer Sitzung bewusst wurde, dass seine Eselsbrücke für Familiennamen nicht funktionierte und er Imobersteg mit Aufdermauer verwechselt hatte.

Kellerhals bereitete dem laufenden Spektakel ein Ende. «J. R., cool down. Alles Weitere kommt von uns, auch wem die Telefonnummer gehört.» Damit gab sich Ritter zufrieden, nicht ohne mit einem süffisanten Lächeln darauf hinzuweisen, dass Frau Schuler eine nette Retourkutsche zugute hatte.

«Also denn, Schöre. Vorher noch eine Frage: Wie kann eine Kugel, wenn aus kurzer Distanz abgefeuert, im Körper stecken bleiben?»

«Das versucht Veronika herauszufinden, das kann mit Schalldämpfer durchaus vorkommen. Es gäbe aber noch die Möglichkeit der vollen PET-Wasserflasche, die man sozusagen vor den Lauf steckt und die sowohl den Schall dämpft als auch das Projektil abbremst.»

«Jaja, habe ich auch schon gehört, ein bisschen sehr theoretisch, findest du nicht?»

«Da gebe ich dir recht, J. R.. Weil weder Herr Kim noch dieser Lukas Rindlisbacher einen Schuss gehört haben, gehen wir von einem ganz normalen Schalldämpfer aus. Jetzt aber zur Vergangenheit des Herrn Guseinow aus Uralistan. Da gab es doch vor einigen Jahren diesen gigantischen Dopingskandal, von dem Sportlerinnen und Sportler aus Russland und aus Uralistan betroffen waren.»

«Oh ja, ich erinnere mich», erklärte Ritter, der sich beruhigt hatte und sich im Stuhl zurücklehnte, «Guseinow war als Sportminister doch der eigentliche Drahtzieher dieses Staatsdopings in Uralistan. Im Gegensatz zu seinem russischen Kollegen hielt aber kein Präsident die schützende Hand über ihn, er verbrachte einige Zeit im Zuchthaus. Wie aber kommt dieser KB nach Bern?»

 

Eigentlich wäre jetzt vorgesehen gewesen, eine kurze Pause einzulegen, die aber aufgrund der «Telefonnummer-Bombe» verschoben wurde. Es war Eugen Binggeli vergönnt, der Runde das Geheimnis zu verraten. Die Nummer gehörte zu einer Wohnung am Kappelenring 7, in der laut der verantwortlichen Liegenschaftsverwaltung ein Karl-Heinz Becker gemeldet war, deutscher Staatsangehöriger, mit der Berufsbezeichnung «Spitzensportler» vermerkt. Erste Erkundigungen bei der Einwohnerkontrolle Wohlen – Hinterkappelen war Teil dieser flächenmässig grossen Gemeinde mit knapp 10 000 Einwohnern – hatten zu Beginn allerdings zu Unklarheiten geführt, weil der Wohlener Beamte weder Namen noch Adresse bestätigen mochte. Die beiden KTD-Leute hatten jedoch in der kurzen Zeit, die ihnen am frühen Morgen zur Verfügung stand, herausgefunden, dass die Bundespolizei Fedpol in die Niederlassung des Karl-Heinz Becker involviert war.

«Und was heisst das, Iutschiin?»

«Dass Herr Becker vielleicht gar nicht Herr Becker heisst.» «Zeugenschutzprogramm?»

«J. R., genau das ging Schöre und mir auch durch den Kopf.»

«Wie auch immer, ich weiss nichts davon, checke das aber mit Fedpol. Moser und Brunner, ab nach Hinterkappelen, subito! Stephan, in welcher Nummer wohnst du eigentlich?»

«8, das heisst aber nicht, dass ich Tür an Tür zu 7 wohne, die Nummerierung im Kappelenring ist das grösste Chaos, das man sich vorstellen kann. Viele ältere Bewohner sind froh, überhaupt wieder nach Hause zu finden. Hausnummer 52 befindet sich beispielsweise vor der 38 und so weiter. Keine Sau kommt draus, wie hier nummeriert wurde… Gäste, die erstmals zu mir finden, fluchen zuerst eine Runde. Aber das war ja nicht dein Anliegen. Elias, komm, wir machen uns auf den Weg. Wir melden uns.»

«Notfalls direkt in die Inforunde.»

«Deal.»

«Moment noch, ihr beiden!», schaltete sich Kellerhals dazwischen, «die ballistischen Untersuchungen haben ergeben, dass KB mit einer Walther P99 erschossen wurde, Und haltet euch fest: Mit dieser Waffe wurde bereits einmal ein Mord begangen, in Tomlija, der Hauptstadt Uralistans, Täter bis heute unbekannt.»

Kellerhals erzählte auch davon, dass man im untersten Teil der Böschung an einem Ast Faserspuren sichergestellt habe, die genauer untersucht würden, sie hätten jedoch die gleiche blaue Farbe wie die Daunenjacke des Toten.

Mit dieser Enthüllung hatte der KTD definitiv sein Pulver verschossen. Die Kollegen Moser und Brunner machten sich deshalb auf den Weg an den Wohlensee, Ursula Meister in Richtung Polizeikaserne Waisenhausplatz, Binggeli und Kellerhals zogen sich vorerst in ihr Reich zurück, sodass Ritter und Wälchli allein im Sitzungszimmer zurückblieben.

«J. R., Idee: Weil dieser Karl-Heinz Becker angeblich Spitzensportler ist – Magglingen ist ja nicht weit entfernt. Ich habe eine Kollegin dort oben beim Bundesamt für Sport, ich könnte mich vor Ort einmal umhören, ob dieser Karl-Heinz Becker beim Baspo bekannt ist.»

«Guter Vorschlag, Regula. Nun, ich könnte jetzt jammern, dass ihr mich für die Sitzung um 14.00 Uhr allein zurücklasst, aber damit kann ich umgehen. Nein, Spass beiseite, mach dich auf den Weg, vielleicht erfährst du ja Neuigkeiten, die du mir umgehend in die Sitzung telefonieren kannst.» «Mache ich. Vorher hätte ich aber noch einen Wunsch, weil du in Sachen Doping auf dem Laufenden bist und wir möglicherweise in diesem Dunstkreis ermitteln müssen, ich aber keine grosse Ahnung habe. Seit wann spricht man eigentlich in einer breiten Öffentlichkeit von Doping?»

«Mal sehen, ob ich das in geraffter Form sagen kann. Dann aber ab nach Magglingen, verstanden?»

«Verstanden.»

Ritter erzählte, dass es in den sechziger Jahren die Schwestern Tamara und Irina Press aus der Sowjetunion gab, höchst erfolgreiche Leichtathletinnen – nicht nur in den Kraftdisziplinen Kugelstossen und Diskus –, denen nachgesagt wurde, sie würden sich jeden Morgen rasieren (Rufname «The Press-Brothers»), weil sie für Frauen derart monströse Muskeln hatten. Ähnliches habe auch für Jarmila Kratochvilova aus der ehemaligen CSSR gegolten, seit 1983 (!) noch immer Inhaberin des 800-Meter-Weltrekords und, in der neueren Zeit, für Caster Semenya aus Südafrika. Zumindest bei den drei Erstgenannten sei klar: Da sei der oftmals launischen Natur zusätzlich nachgeholfen worden.

«Überhaupt stand die Leichtathletik im Fokus, nicht bloss der Radsport, wenn auch meist erst Jahre nach Veranstaltungen», fuhr Ritter fort. So soll laut einem Bericht der ARD das Internationale Olympische Komitee IOK und die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada auffällige Nachkontrollen der Sommerspiele von 2008 bei jamaikanischen Sprintern auf Clenbuterol nicht weiterverfolgt haben. Dieses Präparat – mit Verwendung in der Tierzucht – sei bereits der bildhübschen DDR-Sprinterin Kathrin Krabbe zum Verhängnis geworden.

Erstmals sei Doping im Sport vermutlich 1967 ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt, als der Engländer Tom Simpson bei der Tour de France in der Sommerhitze auf dem Weg zur Spitze des Mont Ventoux tot vom Rad fiel. In seinem Blut fanden die Ärzte später einen verhängnisvollen Drogenmix. Seither, so Ritter, habe der Radsport nie aufgehört, Doping-Schlagzeilen zu liefern. Namen wie Jan Ullrich, Lance Armstrong, Marco Pantani oder Floyd Landis hätten die zweifelhafte Ehre, das Doping-Tableau zu zieren. Nicht zu vergessen das gesamte Festina-Team, welches 1998 von der Grande Boucle, der Tour de France, ausgeschlossen wurde. Ganz abgesehen davon seien auch mehrere bekannte Schweizer Radrennfahrer wegen Dopingmissbrauchs im Laufe der Jahre vom Sattel geholt worden.

«Aber ich schätze, dass bereits zu Zeiten von Kübler und Kobelt mehr als nur Bschüssig-Teigwaren am Vorabend oder Gly-Coramin während des Rennens zur Stärkung eingenommen wurden, denn es gab bereits damals wundersame Chügeli, die den Fahrern zusätzlichen Schub gaben.»

Unglaublich, aber wahr: Zu jener Zeit sei es nicht unüblich gewesen, dass der eine oder andere Fahrer vor Beginn eines Aufstiegs zur Etappenankunft kurz vom Rad stieg und ein Bistro aufsuchte, wo bereits Rotwein und Cognac bereitgestanden hätten, von Teamverantwortlichen organisiert oder weil die Beizer aus den Vorjahren wussten, was bei den Pédaleurs de la Route gefragt war.

«Ein ehemaliger Tour-de-France-Profi hat mir einmal erzählt, wie das zumindest noch vor ein paar Jahren ging. Er fragte mich, ob ich denn so naiv sei, zu glauben, man könne in der Gluthitze nacheinander und in einer einzigen Etappe die drei Pässe Tourmalet, Aspin und Aubisque lediglich mit Reiskuchen, Bananen und isotonischen Getränken bewältigen…»

«Wie wurde nachgeholfen? Mit versteckten elektrischen Trethilfen, wie auch schon entdeckt?»

«Regula, der Mann erklärte mir, auch bei Spitzenathleten würden die Muskeln einmal zu übersäuern beginnen und Krämpfe hervorrufen. Und das einen Tag nach dem anderen. Also pumpt man sich mit Schmerzmitteln voll, um den Körper zu überlisten, was durchaus auch beim Bieler 100-Kilometer-Lauf und beim Jungfrau-Marathon vorkommt, wie ich von einem Bekannten weiss, der das heute noch selber praktiziert, um Schmerzen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Im Boxsport kam es schon mal vor, dass man sich Schlangengift spritzte, um gegen schmerzhafte Schläge unempfindlich zu werden.» Ritter zählte auf: «Genotropin, DHEA, Clenbuterol, Stanozolol, Meldonium, Nandrolon, Oxandrolon, Primobolan, Hexarelin oder Dianabol heissen nur einige wenige jener Präparate, mit denen einem aufnahmebereiten Körper nachgeholfen wurde, auch mit Ephedrin, EPO, HGH, Cortison, Testosteron, Insulin, Kokain, THC oder Morphin. Alle Anwendungsbereiche wurden damit anvisiert: Vermehrung der roten Blutkörperchen, Wachstumsbeschleunigung oder -hemmung, Muskelzuwachs, kürzere Regenerationszeiten, Maximierung der Schmerzgrenze, Entzündungshemmer, Erhöhung der Risikobereitschaft. Das gesamte Programm. Mit Hydrochlorothiazid liessen sich Dopingsubstanzen zudem verschleiern, vorausgesetzt, das Medikament wurde so eingesetzt, dass es selber nicht nachweisbar war.»