Tod auf der Trauminsel

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Exakt nach der von der Angestellten vorausgesagten Viertelstunde traf der Direktor des Museums ein. Nach einem kurzen Gespräch mit seiner Mitarbeiterin kam er auf Véronique von Greifenbach zu.

«Madame de Senarclens?»

«Oui, Monsieur, danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.»

«Ich bitte Sie … Gerne. Sie klangen gestern am Telefon sehr geheimnisvoll. Ich bin deshalb sehr gespannt, was Sie mir zu sagen haben. Kommen Sie doch mit in mein Büro, da sind wir ungestört.»

Von Greifenbach alias Chantal de Senarclens sprach zuerst von ihrem Interesse an der Philatelie, was den Direktor aber wenig zu interessieren schien. Nach einigen Minuten kam sie auf die berühmten Marken zu sprechen.

«Was halten Sie von der Möglichkeit, dass es eine fünfte ungestempelte Blaue Mauritius gibt?»

«Madame, da kann ich mich kurz halten: Das ist unmöglich.»

«Nichts im Leben ist unmöglich, Herr Direktor.»

«Doch, das gibt es – oder können Sie sich Olympische Winterspiele auf Mauritius vorstellen? Wissen Sie, es gibt keine Marke auf der Welt, die öfter hinterfragt wurde und über die man mehr geforscht hat als die Blaue Mauritius. Da gibt es keinen Interpretationsspielraum. Ich wiederhole: keinen.»

«Mir ist jedoch bekannt, dass vor Jahrzehnten in Bordeaux …»

Beim Wort «Bordeaux» schluckte ihr Gesprächspartner leer.

Die französische Stadt Bordeaux spielte im Zusammenhang mit der Blauen und Roten Mauritius eine wichtige Rolle: «Zwischen 1864 und 1869», hatte ihr Philippe vorgelesen, «hatte Madame Jeanne Borchard 13 Marken entdeckt, die sie mit Sammlern tauschte oder an die Händlerin Marie Desbois aus Bordeaux verkaufte.» Der Ehemann von Borchard war ein Kaufmann mit geschäftlichen Kontakten nach Mauritius. Alle Marken stammten aus dem Briefverkehr mit Kunden auf der Insel. Untrennbar verbunden mit diesen Raritäten war auch der sogenannte Bordeaux-Brief, frankiert mit einer Roten und einer Blauen Mauritius und im Laufe der Zeit mehrfach versteigert, für mehrere Millionen Franken.

Véronique fuhr nun unbeirrt fort: «… dass vor Jahrzehnten in Bordeaux eine weitere Blaue Mauritius entdeckt wurde, von deren Existenz bis heute niemand weiss.»

Was in dieser Sekunde geschah, beliebte man beim Boxen als «Technischen K.o.» zu bezeichnen. Monsieur le directeur wurde blass im Gesicht, und hätte er sich nicht an den Armlehnen seines Stuhls festgehalten, er wäre glatt vom Stuhl gekippt.

«Mon Dieu, soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?»

«Nein, danke vielmals. Aber das ist doch nicht möglich …»

«Nehmen wir einmal an, das stimme – was würde das bedeuten?»

«Es wäre eine Sensation», stammelte der Direktor.

«Ja, das nehme ich an. Wie aber wäre der Wert dieser Marke einzuschätzen?»

«Woher sollte diese fünfte Marke aber stammen?»

«Sagen wir, aus bisher unbekannter Quelle.»

«Was heisst, dass sie von Fachleuten geprüft werden müsste.»

«Auch das ist mir klar. Nochmals aber die Frage: Welchen Wert hätte sie?»

«Unschätzbar.»

Mit dieser Einschätzung konnte Véronique allerdings herzlich wenig anfangen, sie hatte auch das Gefühl, dass es keinen Sinn hatte, das Gespräch in diesem Rahmen fortzuführen.

«Monsieur le directeur, ich schlage vor, dass ich mich wieder bei Ihnen melde und ein Bild der Marke mitbringe. Sind Sie damit einverstanden? Ich würde Ihnen bei jener Gelegenheit etwas mehr über die Geschichte erzählen. Sind Sie einverstanden?»

«Oui, Madame de Senarclens, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.»

Nach diesen Worten verabschiedete der Direktor die geheimnisvolle Frau und begleitete sie zum Ausgang.

«Herr Direktor, geht es Ihnen nicht gut? Sie sind so blass, haben Sie einen Geist gesehen?», wollte die Mitarbeitende von ihrem Chef wissen, der Madame de Senarclens nachschaute, wie sie in der Menschenmenge verschwand.

Jaidev hatte Véronique zwei gute Tipps gegeben: Sie hatte wirklich in einem Restaurant an der Waterfront sehr gut – und preiswert – gegessen, vor allem aber lohnte sich der Besuch auf dem Bazaar, wo sie, als gross gewachsene Europäerin mit hellbraunen Haaren, im Bereich der Kleider und Accessoires nonstop angegangen wurde, ganz unter der Motto «Madame, schauen! Heute billig, morgen teuer!» Den Fleischmarkt, den hätte sie sich hingegen lieber erspart: In der Halle wurden zum Beispiel bei brütender Hitze Innereien feilgeboten, unmittelbar daneben standen die dreckigen Mopeds der Fleischhauer. «Das wäre jetzt aber etwas für unsere Schweizer Lebensmittelinspektoren und Kantonschemiker, die ständig das ohnehin nicht vorhandene Haar in der Suppe suchen, hier wirklich eine Nase voll zu nehmen», dachte sie. Und auf einmal waren ihre Gedanken wieder beim Angebot von Jonathan B. Crooks. Annehmen, mit der Aussicht auf einen Posten im Aufsichtsrat in Palo Alto? Ablehnen, und dafür die Übersicht über die beschauliche Schweiz behalten? Nein, sie war sich überhaupt nicht im Klaren darüber, in welche Richtung ihr Entscheid gehen würde. «Kommt Zeit, kommt Rat, ich habe ja noch zehn Tage Zeit.»

Véronique von Greifenbach war bereits eine halbe Stunde vor der abgemachten Zeit vor der Pferderennbahn – obwohl sie zwischendurch noch die Aussicht von der Zitadelle genossen hatte –, der Wagen samt Chauffeur ebenso.

«Sind Sie mit Ihrem Aufenthalt in Port Louis zufrieden, Madame?»

«Ja, danke, Jaidev, es war wirklich sehr interessant, auch der Besuch im Blue Penny Museum.»

«Das freut mich sehr. Wir fahren zurück zum Hotel, quer durch die Insel. Ich fürchte aber, Sie haben diese Landschaft bereits gesehen», sagte Jaidev zu Véronique und beide lachten vergnügt.

Gegen 17 Uhr fuhr der Wagen im Hotel Crystals Beach vor, nachdem er die Sicherheitskontrollen beim Hotel passiert hatte. Es war bereits dunkel, dennoch beschloss Véronique, noch einen Strandspaziergang zu unternehmen, wenn auch nur einen kurzen. Mit dem gleichen Badekleid wie gestern lief sie an den Sicherheitsbeamten beim hoteleigenen Strand und am Hotel Amber vorbei, in Gedanken bereits bei ihm. «Und das in meinem Alter, verrückt, absolut verrückt», dachte sie, «aber eben einmalig schön, ich bin ihm ganz schön verfallen. Vielleicht sogar hörig, aber das ist mir wirklich egal.»

«Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag», begrüsste Michael Hacker Véronique an der Bar, einige Minuten vor dem Abendessen.

«Ja, danke für die Vermittlung des Fahrers, er hat seine Arbeit sehr gut gemacht.»

«Waren Sie auch im Blue Penny Museum?» Die Frage irritierte Véronique von Greifenbach, aber vermutlich hatte sie keinen tieferen Sinn.

«Ja, eindrücklich, die beiden Marken.»

«Wann waren Sie dort?»

«Herr Hacker, ich habe meine Hausaufgaben gemacht, genau zur halben Stunde, ich habe die Originale gesehen.»

«Ich bin beeindruckt. Und nun wünsche ich Ihnen ‹en Guete› zum Znacht.»

Zehn Stunden später, Mittwoch, 1. Juli. Obwohl sie mitten in der Nacht aufgewacht war, weil ihr Puls wieder verrückt spielte, hatte Véronique von Greifenbach erstaunlich gut geschlafen, Aufregung und Vorfreude auf den erwarteten Besuch hin oder her. Sie warf einen Blick auf ihr Handy: «Eine neue Nachricht.» Und tatsächlich: Er hatte unmittelbar vor dem Abflug in Paris geschrieben und mitgeteilt, dass die Air France vermutlich eine halbe Stunde früher auf Mauritius landen werde. Und das bedeutete: um 5.30 Uhr. Mit anderen Worten: Er konnte bereits hier sein, denn ihre Uhr zeigte 7.03 Uhr. «liebster, schreib sofort, wenn du im hotel bist, ich warte am strand. kann es kaum erwarten!» Fünf Minuten später bereits kam die Antwort, «bin da, wo bist du?» – «ich koooomme, in 15 minuten am strand vom ambre.»

Noch selten – wenn überhaupt – hatte sich Véronique innert weniger Minuten von einer Schlafmütze in eine Strandschönheit verwandelt. Sie war bereits zehn Meter von ihrem Zimmer entfernt, als sie die Türe ins Schloss fallen hörte. In ihrer Eile übersah sie die beiden Sicherheitsbeamten am Strand, die ihr ein «Good morning M’dam» nachriefen. Nach wenigen Minuten sah sie ihn. Er sass am Strand, liess den feinen Sand durch seine Hände rieseln. Ungeachtet dessen, was «die Welt» über sie denken mochte, stürzte sie sich auf ihn, küsste ihn, bevor er überhaupt etwas sagen konnte. Erst nach dem zweiten Räuspern eines Sicherheitsbeamten am Strand des Ambre schaute sie auf. «I’m sorry!», schrie sie geradezu, und lachte. Und endlich kam auch er dazu, Luft zu holen und einige Worte zu sagen.

«Véronique, Véronique … Willst du uns wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses hinter Schloss und Riegel bringen?»

«Liebster, ‹Erregung› ist schon mal ein sehr treffender Ausdruck und zu zweit mit dir in einer Zelle – sofort! Wollen wir den Beamten fragen, ob eine frei ist?» «Provozieren wir mal nichts. Komm, die Sonne geht gleich auf.»

Eine halbe Stunde spazierten die beiden Verliebten den Strand entlang, um schliesslich einen Weg ins Städtchen Belle Mare zu nehmen. Sie liefen weiter, zum Dorfausgang, wo rechterhand in nicht allzu weiter Ferne ein alter Bau zu sehen war. Zehn Minuten später standen sie inmitten einer Ruine, einer ehemaligen Zuckerfabrik, 1820 erbaut, 1920 geschlossen. Es war aber nicht eine wirkliche Ruine, man hatte sie gut erhalten und mit Bäumen, Gebüschen, Rasen und farbenprächtigen Pflanzen verschönert. Die Stimmung im morgendlichen Sonnenlicht war eigenartig und knisternd zugleich.

«Was meinst du, wenn wir …»

Er musste gar nicht weitersprechen, Véronique gab ihm mit einem Kuss und Zärtlichkeiten zu verstehen, dass sie genau erahnt hatte, was er sagen wollte. Minuten später lagen die beiden auf dem Rasen, mit Sichtschutz durch alte Mauern. Er hatte Schweissperlen auf der Stirn, ihr Herz raste wie noch nie.

 

«Sei mir nicht böse, Liebster, ich benötige jetzt eine Pause, mein Puls spielt wieder verrückt», flüsterte sie ihm zehn Minuten und einen Orgasmus später ins Ohr, als sie sich zu ihm hinunter beugte, «heute abend ist Vollmond, wir kommen wieder hierher …» – «We’ve got the night, who needs tomorrow?», antwortete er, in Anlehnung an einen Song von Bob Seeger und Sheena Easton.

«Herr Hacker, ich habe vorhin per Zufall einen Bekannten getroffen, am Strand. Ist es möglich, dass ich ihn zum Frühstück einlade? Selbstverständlich auf meine Rechnung.» Wie es sich gehörte, hatte Véronique von Greifenbach ihren Geliebten nicht mit ins Hotelareal genommen, sondern wollte zuerst die Bewilligung des Resident Managers einholen.

«Das ist zwar nicht die Regel, aber im Sinne einer Ausnahme, ja, das geht in Ordnung. Ich stelle ihm schnell eine Bewilligung aus, damit er den ganzen Tag in unserer Anlage als Gast verbringen kann», antwortete Hacker und nahm eine Visitenkarte aus seiner Tasche.

«Wie heisst ihr Bekannter?»

«Franz Grütter», antwortete sie sofort. Ohne zu überlegen, hatte sie einen falschen Namen angegeben. Jener eines Verwaltungsrats von DBD war der einzige, der ihr im Augenblick in den Sinn gekommen war.

«Voilà», sagte Hacker und überreichte Véronique die auf der Rückseite beschriebene Visitenkarte, «dieser Persilschein gilt für den ganzen Tag, im Sinne der erwähnten Ausnahme.»

Sie bedankte sich und lief kontrollierten Schrittes mit der erfreulichen Nachricht zum Strand zurück.

«Herr Grütter, hier ist Ihr Tagespass für das Hotel», sagte sie lächelnd zu ihrem Geliebten. Doch als er sie küssen wollte, wehrte sie ihn resolut ab: «Nicht hier und jetzt. Sie sind nur ein Bekannter von mir, Herr Grütter, ich habe Sie nur ganz per Zufall getroffen. Aber mein Zimmer darf ich Ihnen zeigen.» Er hatte die Botschaft verstanden. Entsprechend artig liefen die beiden ins Restaurant, setzten sich zum Frühstück, benahmen sich wirklich nur wie Bekannte, wobei es durchaus von Vorteil war, dass ihre Gespräche nicht von einem Lautsprecher übertragen wurden.

Den Mittwoch verbrachte Véronique von Greifenbach mit ihrem Gast abwechslungsweise im Zimmer des Crystals Beach, am Strand und im Dörfchen. Nach dem Abendessen in einem für die Region typischen Restaurant spazierte sie mit ihrem Geliebten gegen 22 Uhr in der Dunkelheit erneut in Richtung alte Zuckerfabrik, dieses Mal ohne Badeanzug. Unter ihren Bermudashorts und dem Spaghettiträger-Top trug sie eines der in Dubai besorgten Dessous von Victoria’s Secret. Im hellen Licht des vollen Mondes wirkte die Ruine geheimnisvoll.

«So, Véronique, und jetzt machen wir dort weiter, wo wir heute Morgen aufgehört haben …», flüsterte er ihr ins Ohr, während sie sich ins Gras legten, wiederum mit Sichtschutz durch alte Mauern und viele Palmen. Wieder nahmen sich beide gar nicht die Zeit, sich vollständig zu entkleiden.

Nach wenigen Minuten stöhnte Véronique laut, so intensiv, wie er es noch nie mit ihr erlebt hatte.

«Lass dich gehen, entspanne dich …»

Als hätte sie einen gewaltigen Orgasmus, wurde seine Geliebte plötzlich ganz passiv, ihr Körper baute die ganze aufgebaute Verkrampfung mit einem Mal ab, sackte regelrecht in sich zusammen.

«Ganz ruhig, Liebling, gaaanz ruhig, entspann dich, geniess es, we’ve got the night …»

Véronique von Greifenbach sagte nichts. Er war nicht beunruhigt, wusste er doch, dass sie jeweils einige Augenblicke benötigte, um wieder in der realen Welt anzukommen. Diese Mal jedoch dauerte ihre Erholungsphase ungewöhnlich lange. Jetzt erst begann er sich zu sorgen.

«Liebling, was ist los? Sag doch etwas! Liebling! Bitte!»

Nach einigen Augenblicken legte er den rechten Mittel- und Zeigefinger seitlich an ihren Hals. Kein Puls, auch kein schwacher, ihr Herz hatte zu schlagen aufgehört. Innert Sekundenbruchteilen geriet er in Panik.

In dieser Situation funktionierte er nur noch ohne zu überlegen, versuchte, sie mit Mund-zu-Nase-Beatmung zu reanimieren. Erfolglos. Dann versuchte er es mit professioneller Herzmassage, so wie er es in einem Ausbildungskurs erst vor kurzem gelernt hatte, während fast zehn Minuten, bis er keine Kraft mehr hatte. Wiederum ohne Erfolg. Véronique von Greifenbach war tot.

Instinktiv schaute er sich um. Niemand war zu sehen, auch keine Geräusche waren zu hören, dazu war die ehemalige Zuckerfabrik zu abgelegen. Was tun? Auf den Polizeiposten gehen und den Vorfall melden? Undenkbar. Nicht nur, dass man sich in der Schweiz das Maul zerreissen würde, auch die Boulevard-Presse würde die Sache in grossen Lettern auf der Titelseite abhandeln, im Stil von «Tod beim Sex auf Trauminsel». Das war keine Option. Die Leiche hier tel quel liegenlassen, als wäre (fast) nichts passiert? Unmöglich, weil man womöglich nach einem Vergewaltiger suchen würde, der er ja nicht war. Ins Meer tragen? Nein, erstens wäre dies einer regelrechten Entsorgung gleichgekommen und zweitens wäre bei der Obduktion sofort aufgefallen, dass Véronique kein Wasser in der Lunge hatte.


Die alte Zuckerfabrik nahe Belle-Mare, wo Véronique von Greifenbach den Tod fand.

Also beschloss er, die Leiche wieder vollständig zu bekleiden und an einen anderen Ort der Zuckerfabrik zu tragen, ohne verräterische Schleifspuren zu hinterlassen. Gedacht, getan, wobei alles ein bisschen länger als erwartet dauerte, denn mehrmals musste er, mittlerweile tropfnass vor Schweiss, einen kurzen Halt einlegen und sich erholen. Einmal schulterte er seine Geliebte wie ein totes Reh, aber auf diesen Gedanken mochte er in dieser Situation keine Rücksicht nehmen. Nach längerem Suchen legte er die Tote an einen Platz, der nicht auf Anhieb wie der Ort für ein Schäferstündchen ausschaute, und brachte sie in eine sitzende Position, an eine niedrige Wand gelehnt. Was er in diesem Moment empfand, hätte er in Worten nicht beschreiben können. Er war wie von Sinnen, hatte gar nicht realisiert, was wirklich geschehen war, wusste nicht, was er gerade tat.

Danach machte er sich mit Véroniques Handtasche, in welcher auch ihr Handy lag, auf den Weg in sein Hotel und erklärte an der Réception, dass er am nächsten Tag wegen eines Todesfalls in der Familie bereits wieder abreisen müsse. Er fragte, ob noch in der Nacht Flugzeuge die Insel Richtung Europa verlassen würden.

«Am frühen Morgen gehen ausschliesslich Flüge nach Réunion, der erste Interkontinentalflug startet knapp nach neun Uhr Richtung Johannesburg, Emirates fliegt um vier Uhr nachmittags Richtung Dubai, wo Sie dann Anschlüsse nach Europa haben. Air France geht morgen erst gegen neun Uhr abends», sagte der Mann an der Réception, nachdem er den Flugplan des nächsten Tages im PC konsultiert hatte.

Er schaute auf seine Uhr. Es war knapp nach 23.30 Uhr und er versuchte, gegenüber dem Mitarbeitenden weiterhin ruhig zu wirken, wobei seine völlig verschwitzten Kleider nicht recht ins Bild passen mochten.

«Danke vielmals. Nun, dann werde ich wohl bis zum Nachmittag warten müssen, aber das macht ja eigentlich nichts, denn wegen ein paar Stunden wird mein Bruder auch nicht mehr lebendig.» Und er war froh, hatte er sich am Morgen problemlos unter falschem Namen einschreiben können, mit einem scheinbar echten Schweizer Führerausweis, den ohnehin niemand gross zu interessieren schien.

«Wie machen wir es mit der Rückerstattung, Monsieur Meyer? Sie haben schliesslich für sechs Tage gebucht und auch bezahlt. Aber drei Nächte Stornierungsgebühr muss ich Ihnen belasten.»

«Da ich heute hier übernachte, verbleiben demnach noch zwei Nächte. Wissen Sie was? Ich komme im Winter wieder und Sie rechnen mir die beiden Tage an. Geht das für Sie in Ordnung?»

«Très bien, das geht sehr gut, ich werde aber noch mit dem Manager sprechen.» Er indes war sich bewusst, dass er niemals mehr nach Mauritius kommen würde. Um aber nicht aufzufallen, hatte er sich auf dieses unverfängliche Gespräch eingelassen.

«Das wäre grossartig, ich freue mich schon», sagte er. Sie wünschten sich eine gute Nacht.

Ohne auch nur eine Minute geschlafen zu haben, stand er um 7 Uhr noch allein und ohne Appetit beim Frühstücksbuffet, reiste eine halbe Stunde später nach drei Tassen Kaffee mit dem Taxi in Richtung Flughafen ab, um genügend Zeit für das Umschreiben des Flugtickets zu haben. Ohnehin war es für ihn nicht ratsam, sich in Belle Mare aufzuhalten.

Die Ermittlungen auf Mauritius

Donnerstag, 2. Juli. Die Crew der Mauritius Advertising Company MAC war gegen 10.30 Uhr auf dem Weg zur alten Zuckerfabrik in Belle Mare, wo sie die Ruine als Kulisse für einen TV-Spot zu benutzen gedachte. Auftraggeber war ein bekannter Markenartikelhersteller für Sportbekleidung, der seine Produkte zum Teil auf der Insel herstellen liess. Die ganze Truppe, die in drei kleinen Transportern anreiste, umfasste insgesamt elf Personen: Regie, Kamera, Maske, Drehbuch, Darsteller, Tontechnik, Film, Licht, Vertreter des Auftraggebers. Vorgestern hatten zwei Scouts die Location als «optimal» für den Dreh befunden, entsprechend gelöst war auch die Stimmung unter den Anwesenden an diesem wolkenlosen Tag. Es wurde gescherzt und gelacht.

Die drei Fahrzeuge hielten vor den Überresten der Fabrik nebeneinander an, alle halfen mit, das umfangreiche Material auszuladen und zum Ausgangspunkt zu tragen, eingangs der ehemaligen Zuckerfabrik.

Während die meisten Mitarbeitenden mit dem Aufbau der Geräte auf dem eigentlichen Set beschäftigt waren, lief der Drehbuchautor umher. Die Ruine der vor beinahe hundert Jahren stillgelegten Zuckerfabrik faszinierte ihn. Seine Begeisterung fand einige Minuten später allerdings ein abruptes Ende. Er stand fassungslos da, sprachlos. Erst nach einigen Augenblicken schrie er seinen Schreck heraus.

«Au secours!! Kommt sofort hierher, vite!!»

«Unser aller François … Hat vermutlich eine Schatzkiste entdeckt», frotzelte der Tontechniker zur Truppe, «wird wohl nicht so heftig sein …»

«Hilfe! Hilfe! Hier liegt eine Tote!»

«François, heute ist der 2. Juli, nicht der 1. April, komm jetzt hierher, wir wollen etwas besprechen, damit wir mit den Aufnahmen beginnen können», hörte der Drehbuchautor einen Kollegen rufen. Sekunden später stolperte er wie ein Betrunkener zu seinen Leuten zurück, kreidebleich, stotternd.

«Da hinten liegt eine Frau, nein, sie sitzt, sie ist wahrscheinlich tot.»

Auf einmal war man sich nicht mehr so sicher, ob François sich einen dummen Scherz erlaubt hatte. Zwei Kollegen begleiteten ihn zum Ort seines angeblichen Fundes. «Alarmiert sofort die Polizei!», schrie der eine nur wenige Sekunden später, «hier ist wirklich eine Tote!».

«Ich fahre sofort auf den Posten, der liegt ganz in der Nähe!», rief die Regisseurin, derweil alle anderen Richtung Fundort rannten.

Der Polizeiposten Belle Mare lag ungefähr 800 Meter von der Zuckerfabrik entfernt, gleich neben dem Sportplatz und ganz in der Nähe eines bekannten europäischen Kleiderherstellers, der eine ultramoderne Verkaufsstelle gebaut hatte, die gar nicht in die ärmliche Umgebung passen wollte und in gewisser Weise an den Monolithen im Murtensee erinnerte, den der französische Stararchitekt Jean Nouvel einst für die Landesausstellung Expo.02 errichtet hatte. Auch die Verkaufspreise des Labels, das zum Teil zu Billiglöhnen auf Mauritius produzieren liess, hatten zu den örtlichen Verhältnissen keinen Bezug. Luxus musste offenbar ganz einfach teuer sein, wo auch immer produziert und verkauft.


Eine Hauptstrasse im Belle Mare. Der Klotz einer Modefirma wirkt dabei eher als Fremdkörper.

Für etwas Abwechslung waren die Beamten auf dem Posten, in der touristischen Nebensaison derzeit mit administrativen Routinearbeiten beschäftigt, zwar durchaus dankbar. Aber gleich eine Tote mit ausländischem Aussehen? Non, merci. Dennoch setzten sich drei Beamte in ein bereitstehendes Polizeiauto ein und folgten dem Auto der Regisseurin. Keine zwei Minuten war man sur place.

«Alle zurücktreten!», rief einer der Beamten. «Oder wollen Sie mögliche Spuren vernichten?» Was der Mann noch nicht wissen konnte: Das Filmteam hatte, so gesehen, bereits ganze Arbeit geleistet und die Umgebung des Fundorts niedergetrampelt.

Die Beamten sperrten den Fundort der Leiche einem Umkreis von ungefähr 30 Meter mit rotweiss gestreiftem Band ab und verlangten telefonisch auf dem Posten nach Verstärkung durch die Kollegen der Kriminaltechnik. Diese Spezialisten trafen nach ungefähr 45 Minuten ein. Sie waren von Candos her angereist, wo sich ihr Arbeitsplatz – und jener der Rechtsmedizin – befand. In der Zwischenzeit hatten die lokalen Polizeibeamten die Mitglieder des Filmteams befragt. Sie alle konnten keine tatrelevanten Angaben machen. Ihnen wurde aber gestattet, ihrer Arbeit nachzugehen, weil das Set am anderen Ende der Zuckerfabrik lag. Das ganze Areal wurde grossräumig abgeriegelt, um Schaulustige abzuhalten.

 

Sehr rasch war dem zwischenzeitlich eingetroffenen Rechtsmediziner Alain de Dieuleveut klar, dass es sich um eine ungefähr 50- bis 55-jährige Ausländerin handeln und dass der Tod «plus/minus vor ungefähr zwölf Stunden» eingetreten sein musste. Und: «Es sind keine Spuren äusserer Gewalt festzustellen.» Es folgte die übliche Feststellung aus der Rechtsmedizin: «Weitere Angaben erst nach der genauen Untersuchung.» Um die unbekannte Tote identifizieren zu können, hatte de Dieuleveut unmittelbar vor dem Abtransport nach Candos Porträtfotos von ihr gemacht und zur Polizeistation übermittelt, wo Chief Inspector Samuel Ramnauth ein paar Exemplare ausdruckte und sie zwei Beamtinnen aushändigte. Die Polizistinnen Emilie und Aurélie begannen ihre Nachforschungen in den wenigen Pensionen in Belle Mare, um schliesslich die Strandhotels anzufahren, da die Befragungen in den Bed & Breakfast-Häusern zu keinem Erfolg geführten hatten.

Zur gleichen Zeit hielt sich er etwas abseits des Flughafens auf, um im übersichtlichen Terminal nicht gross aufzufallen. Das Air-France-Rückflugticket hatte er sich bei Emirates umschreiben lassen, was allerdings eine Zeit lang dauerte und mit Mehrkosten verbunden war, die er cash mit Euro bezahlt hatte, da bei Air France zuerst der Rückflug annulliert und danach neu gebucht werden musste. Die Leute bei Emirates zeigten sich glücklicherweise sehr kooperativ. Immer wieder schaute er auf seine Big Bang von Hublot am linken Handgelenk, wo inzwischen beide Zeiger senkrecht standen. «Noch vier Stunden, wenn ich nur bald ausreisen kann, ohne dass die Polizei hier auftaucht …», ging ihm durch den Kopf. Eine Wohlfühloase sah definitiv anders aus.

Die Befragungen in den bisher drei besuchten Strandhotels hatten keine konkreten Ergebnisse ergeben. Zwar glaubte sich der Tagesportier des Hotels Ambre daran erinnern zu können, «die auf dem Foto abgebildete Frau beim Vorbeilaufen am Strand in Begleitung eines Herrn gesehen zu haben», sicher war er sich indes nicht. «Ich frage aber in ein paar Stunden meinen Kollegen, der Nachtdienst hatte, er schläft jetzt noch. Rufen Sie mich gegen Abend an.»

Emilie und Aurélie unterbrachen ihre Recherchen in Bezug auf die unbekannte Tote, um kurz etwas zu essen. Gegen 14 Uhr betraten sie das Crystals Beach Hotel, wo Anabelle an der Réception Dienst hatte. Die beiden Polizistinnen stellten sich vor und zeigten Anabelle die Aufnahme der Toten.

«Kennen Sie diese Frau?»

«Ich bin mir nicht sicher, wer ist das?»

«Sie wurde heute Morgen tot aufgefunden. Wir kennen ihre Identität nicht. Können Sie uns helfen?»

«Ich glaube, dass das Madame von Greifenbach sein könnte …»

«Sie glauben?»

«Ich werde den Resident Manager rufen, er wird Ihnen mehr sagen können. Einen Moment, bitte.»

Zwei Minuten später stand Michael Hacker am Empfang und musste sich das Foto nur kurz anschauen.

«Das ist Frau vom Greifenbach, Véronique von Greifenbach, sie ist erst seit Montag hier. Vorgestern war sie auf einer Inselrundfahrt. Was ist denn passiert?»

«Das wissen wir selber noch nicht», sagte Emilie kurz und knapp.

«Ausser wohl, dass sie tot zu sein scheint», mischte sich Anabelle in die Diskussion ein, was ihr prompt böse Blicke der übrigen drei Anwesenden bescherte. Kommentare blieben indes aus.

«Wir werden jetzt sofort die Kollegen von Kriminaltechnischen Dienst informieren, damit sie sich das Zimmer anschauen. Herr Hacker, bitte stellen Sie sicher, dass ab sofort niemand mehr ihr Zimmer betritt, obwohl es um diese Zeit vermutlich bereits gereinigt worden ist. Übrigens: Hatte Frau von Greifenbach Kontakte hier?»

«Ja, soviel ich weiss, hat sie gestern angeblich einen Bekannten getroffen, einen gewissen Franz Grütter, wenn ich mich an den Namen richtig erinnere. Ich selber habe ihn aber nicht gesehen.»

«Und wo hat er gewohnt, auch bei Ihnen?»

«Nein, er war kein Gast unseres Hotels, ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.»

Die beiden Beamtinnen verabschiedeten sich, Michael Hacker bestellte Anabelle umgehend zu sich ins Büro, ein mittleres Donnerwetter wegen ihres deplatzierten Kommentars von vorhin war ihr sicher.

Eine halbe Stunde später standen zwei Beamte der Spurensicherung im aufgeräumten Zimmer von Véronique von Greifenbach. So wie es schien, gab es keine verwertbaren Spuren rund um das Ableben der Bernerin, deren Pass ebenso wie Bargeld und ein Handy im Zimmersafe lag, den der Leiter des Technischen Dienstes des Hotels auf Verlangen der Polizisten zuvor geöffnet hatte. Genauso erfolglos erkundigten sich Emilie und Aurélie in den verschiedenen Strandhotels nach einem gewissen Franz Grütter, währenddessen er zur gleichen Zeit langsam und unauffällig zum Gate des Emirate-Fluges spazierte.

Gegen 17 Uhr, als der Emirates-Kurs bereits seit einer Stunde nach Dubai unterwegs war, versammelte Chief Inspector Ramnauth in Belle Mare seine Crew samt den Spezialisten der Kriminaltechnik auf dem Polizeiposten zu einer Informationsrunde, die aber ausser den inzwischen bekannten Fakten vorerst keine neuen Erkenntnisse brachte, da sich Alain de Dieuleveut von der Rechtsmedizin noch nicht gemeldet hatte.

«Ich habe Lucas Dural, den Schweizer Honorarkonsul auf Mauritius, in Absprache mit der Kriminaltechnik, über den Tod von Frau von Greifenbach informiert. Die Schweizer Botschaft in Südafrika, die auch für Mauritius zuständig ist, hat bereits die notwendigen Kontakte in die Schweiz hergestellt, zum Aussenministerium und vor allem zur Polizei in Bern», berichtete Samuel Ramnauth dem Team.

Um 18.30 Uhr traf Alain de Dieuleveut von der Rechtsmedizin endlich aus dem Princess Margaret Orthopaedic Center PMOC aus Candos ein. Demnach hatte Véronique von Greifenbach einen akuten Herzinfarkt erlitten, der zum sofortigen Tod führte. Bei der Untersuchung der Leiche waren keine Anzeichen von äusserer Gewalt festzustellen, zudem hatte die Tote noch unmittelbar zuvor sexuellen Kontakt, «einvernehmlichen», betonte de Dieuleveut. Interessant waren postmortale Druckstellen auf dem Brustkasten, unter den Oberschenkeln und auf dem Rücken der Toten, die darauf schliessen liessen, dass die Leiche getragen wurde und der Fundort somit nicht mit dem Tatort – sofern man überhaupt von einem Tatort sprechen konnte – identisch war.

Der Schweizer Honorarkonsul auf Mauritius, Lucas Dural, hatte inzwischen einen Anruf von Jonathan Smith, Chief Officer der Pretoria Central Police, erhalten. Die beiden Herren hatten in der Vergangenheit mehrmals miteinander zu tun, da die Schweiz nicht das einzige Land war, das sich in Mauritius «nur» durch einen Honorarkonsul vertreten liess. Dural arbeitete im Mandatsverhältnis auch für andere europäische Staaten. Die Schweizer Botschaft in Südafrika hatte ihn informiert.

«Lucas, wir hatten bereits Kontakt mit den Schweizer Kollegen in Bern», sagte der Südafrikaner. «Frau von Greifenbach ist – entschuldige, war – verheiratet, ihr Mann, ein Philippe de Lattre de Tassigny, nimmt die nächste Maschine nach Mauritius, vermutlich morgen, sodass er übermorgen Samstag, 4. Juli, in Mauritius eintreffen wird. Er hat seine Frau übrigens anhand des übermittelten Fotos bereits inoffiziell identifiziert. So wie es aussieht, wird er von einem Kriminalkommissar der Berner Polizei begleitet, der mit euch kooperieren wird. Offenbar war diese von Greifenbach eine grosse Nummer. Die Schweizer wollen sich keinen Lapsus leisten.»

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