Tod auf der Trauminsel

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Die Familie von Greifenbach – und die Firmengeschichte von DBD

Véronique von Greifenbach interessierte ihre Ahnengalerie nicht. Sie konnte mit befreundeten oder verwandten Berner Patrizierfamilien – den von Tscharners, den von Graffenrieds, den von Stockars, den de Meurons, den von Erlachs, den von Diesbachs – nichts anfangen, schon gar nicht mit den Stammbäumen samt ihrer «Kreuzungen», die zum Teil Jahrhunderte zurückreichten.

Véroniques Vater, Rudolphe von Greifenbach, 1920 geboren, ehelichte die zehn Jahre jüngere Henriette Du Roy de Blicquy, eine belgische Adelige, deren Familienname in den Sechzigerjahren in der Sportwelt aufhorchen liess, weil eine Patricia Du Roy de Blicquy als belgische (!) Slalomfahrerin auf sich aufmerksam machte und sogar Weltcuprennen gewann. Rudolphe und Henriette wählten wegen schwerer Krankheiten 2004 gemeinsam den Freitod.

Véronique Juliette von Greifenbach (1957), wie sie mit vollständigem Namen hiess, hatte zwei jüngere Geschwister, Charles (1960) und Antoinette (1970).

Charles, in Weinfelden TG wohnhaft, hatte 1990 die Schwedin Karolina Gustafsson geheiratet, eine Schönheitschirurgin mit eigener Klinik in Islikon, in der Nähe von Frauenfeld. Charles seinerseits arbeitete in der sogenannten Teppichetage einer Privatbank im Herzen von Zürich. Wie seine beiden Schwestern Véronique und Antoinette war auch Charles Mitglied des Verwaltungsrats der DBD Suisse SA, der aus sechs Mitgliedern bestand und von Karl Wegmüller, einem Cousin ersten Grades der von Greifenbachs, präsidiert wurde, sodass im Zweifelsfall die Familie sich mit vier beziehungsweise mit einer Stimme einbringen konnte. Die beiden übrigen Verwaltungsräte waren Franz Grütter, FDP-Nationalrat aus Zürich und Cornelius Weber, Bankier aus Genf.

Antoinette war eine Nachzüglerin, von der man nicht wusste, ob sie nun ein Wunschkind oder eher ein «Betriebsunfall» war. Sicher war indes, dass sie in hervorragender Weise das Enfant terrible der Familie zu spielen wusste, wohnhaft abwechslungsweise in Gstaad, Monte Carlo und Beverly Hills. Ihren Luxus finanzierte sie sich dabei nicht aus der Familienschatulle, sondern – trotz ihrer 47 Jahre – als gefragtes It-Girl, das sich entsprechende Auftritte bei Galas, Premieren oder Firmenfesten fürstlich honorieren liess. Hinter der Hand wurde von gar sechsstelligen Summen gemunkelt. Entsprechend gestaltete sich auch ihr eher kompliziertes Liebesleben, das eng von den Hochglanzheftli und dem Boulevard begleitet wurde: Einmal war sie mit einem ehemaligen Formel-1-Fahrer liiert, kurz darauf mit einem wesentlich älteren Adeligen, um sich nur wenig später auf der Jacht eines russischen Oligarchen ablichten zu lassen. Es hiess, die vielen gespeicherten Telefonnummern von Paparazzi in ihrem Handy seien ihr eigentliches Kapital.

Vater Rudolphe von Greifenbach, ein Bewunderer von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler, eröffnete 1960 seinen ersten Supermarkt in Bern-Bethlehem, im Wissen, dass dieses Quartier später schweizweit bekannt werden würde, mit Hochhäusern im Tscharnergut, im Gäbelbach und im Holenacker. Es gab denn auch Sonntage in den Sechzigerjahren, da man aus der ganzen Schweiz mit der Familie in den Westen von Bern pilgerte, nur um einen persönlichen Augenschein von diesem damals fortschrittlichen Wohnungsbau zu erhaschen.

Lange hatte Rudolphe von Greifenbach am Namen für seinen ersten Laden herumstudiert und war schliesslich auf «Day by Day» gekommen, für den täglichen Einkauf – und das in englischer Sprache. Zwei Generationen später sprachen die Kunden nur noch von «DiBiDi», die Abkürzung DBD indes wurde zum Markenzeichen der Läden, auch das Firmenlogo, das seit 1960 unverändert blieb, sieht man von ein paar kosmetischen Anpassungen an den jeweiligen Zeitgeist ab. Unter den Grossbuchstaben DBD war zu lesen, wofür das Unternehmen stand: «Täglich frisch. Täglich Qualität. Täglich günstig. Täglich Neues.»

Etwas war Rudolphe von Greifenbach von Anfang an wichtig: Er legte Wert auf eine schlanke Struktur in der Verwaltung, von Hochschulabgängern hielt er nicht sehr viel. Er wollte Praktiker am Werk sehen, begeisterte Pragmatiker, «Leute, die den Detailhandel im Blut haben und ihre Entscheide auch aus dem Bauchgefühl heraus treffen, sofort, ohne Arbeitsgruppen. Eigenverantwortung ist das A und O für motivierte Menschen», schrieb er in seinen Memoiren mit dem Titel «Erinnerungen». Dieser Philosophie blieb man bis heute treu, niemand hätte nämlich im modernen, mehrstöckigen Bürohaus auf dem ehemaligen Selve-Areal in Thun einen national tätigen Detailhändler vermutet. Und auch heute noch galt für DBD «Der Mensch als Mittelpunkt», nicht «Der Mensch als Mittel. Punkt». Davon profitierten Kundschaft und Mitarbeitende gleichermassen, Letztere zum Beispiel mit einem erstklassig geführten Personalrestaurant und einem Fitnesszentrum im obersten Stockwerk, also über der Direktionsetage gelegen. Die Firmentreue war entsprechend hoch, die Fluktuationsrate beim Personal im Vergleich zu anderen Grossverteilern und Discountern entsprechend tiefer.

In der Zeit zwischen 1960 und 1995 expandierte DBD in der ganzen Schweiz, praktisch jeden Monat wurde mindestens eine neue Verkaufsstelle eröffnet.


Im Bild links: Das Hochhaus, in dem sich der Konzernsitz von DBD in Thun befindet.

Und trotz vieler Verlockungen zu Sortimentserweiterungen vorab in den Bereichen des sogenannten Nonfood blieb von Greifenbach mit seinem bewusst eingeschränkten Sortiment zum Erstaunen der Konkurrenz konsequent, auch wenn ihn viele Leute als stur bezeichneten. Programme für Effizienzsteigerung oder Kostenreduktion waren unbekannt. Diese Bestrebungen wurden täglich gelebt und vorgelebt. Das Unternehmen hatte zum Beispiel den guten Riecher für frisch gebackenes Brot auf der Verkaufsfläche – lange bevor die Konkurrenz auf den sprichwörtlichen Geschmack kam. Die Firma als Aktiengesellschaft gehörte zu 100 Prozent der Familie, die zwar ihren Mitarbeitenden im Branchenvergleich überdurchschnittliche Löhne bezahlte, aber dennoch anständig vom Gewinn leben konnte. «Ich bezahle meinen Mitarbeitenden lieber zehn Prozent mehr Lohn als andere Arbeitgeber, aber deren überdurchschnittliche Motivation lässt es zu, dass ich mit weniger Leuten auskomme, auf den Verkaufsflächen und in der Verwaltung», schrieb von Greifenbach.

Einer seiner wohl wichtigsten Erfolgsfaktoren: eine straffe Organisation im Bereich der Transporte, die vollständig ausgelagert wurden, von Anfang an, und von Greifenbach somit den grösstmöglichen Spielraum für jeweilige Anpassungen erlaubte: «Ich bin Lebensmittelhändler, kein Garagist», erklärte er in seinen Memoiren. Das grösste Warenlager befand sich Richtung Waffenplatz Thun. Und eigentlich handelte es sich – wie bei weiteren regionalen DBD-Verteilzentren in der Schweiz – nur um einen Warenumschlagplatz, denn die Lieferanten hatten ihre Produkte nach dem «Just in time»-Prinzip anzuliefern, so dass die Frische stets gewährleistet wurde. In der Nähe des Autobahnkreuzes Egerkingen befand sich das nationale DBD-Warenlager mit länger haltbaren Lebensmitteln wie Konserven oder Tiefkühlprodukten, die verschiedene Transportunternehmen mehrmals wöchentlich in die Verkaufsstellen der ganzen Schweiz feinverteilten. Wie gesagt: ein ausgeklügeltes System, von Beginn an.

1995 war für Rudolphe von Greifenbach, inzwischen 75, ein entscheidendes Jahr, ging es doch darum, die längst eingeleitete Nachfolge zu regeln. Antoinette kam aus naheliegenden Gründen nicht in Frage, Charles hatte bereits frühzeitig – fast zehn Jahre zuvor, bei einer ersten Kontaktnahme – Forfait erklärt, zu sehr war er in der Bankenwelt zu Hause. Blieb aus der unmittelbaren Familie also noch Véronique, die ältere der beiden Töchter, damals 38-jährig. Sie – die sie sich auch durch Auslandaufenthalte im Bereich der Betriebswirtschaft im Detailhandel weitergebildet hatte, unter anderem bei der Supermarktkette Publix in den USA – hatte allerdings ziemlich klare Vorstellungen, was DBD betraf, auch wenn diese ihren Vater alles andere als zu begeistern vermochten. Davon zeugte der (hier gekürzte) Dialog zwischen Vater und Tochter, in von Greifenbachs Erinnerungen zu lesen.

«Papa, ich weiss, was dir die Firma bedeutet, ich bin damit aufgewachsen und habe mich in den letzten Jahren als Mitglied der Geschäftsleitung intensiv damit beschäftigt. Aber ich sehe DBD in der Zukunft nicht als Einzelkämpferin gegen die grossen Player, auch wenn wir erfolgreich sind. Die Zeiten werden sich verändern, ‹Handel ist Wandel›, das sagst du selber. Ausländische Discounter werden sich in der Schweiz einnisten, heute noch selbständige Firmen ‹unfriendly› übernommen. Wir brauchen einen Partner. Einen starken Partner, auf den wir uns verlassen können und der uns Selbständigkeit garantiert. Alles andere interessiert mich nicht.»

«Jetzt machst du aber auf Wunschkonzert. Wer wird sich denn um Himmelswillen auf deine Vorgaben einlassen?»

«Wir sind wir. DBD ist DBD. Du hast ein erfolgreiches und einzigartiges Geschäftsmodell aufgebaut, das an Sturheit grenzt. Papa, für einen grossen Partner sind wir ein Juwel, vielleicht der noch fehlende Mosaikstein in seinem Firmenbild. Es gibt genügend Beispiele, dass grosse Unternehmen ihre erfolgreichen Töchter autonom weiterarbeiten lassen, sie am Markt jedoch zusätzlich durch Synergien stärken, ohne ständig auf sie einzuschwatzen. So etwas stelle ich mir vor. Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage.»

«Was sagt die Geschäftsleitung zu deinen Plänen?»

«Papa! Jetzt enttäuscht du mich aber. Ich bin doch kein Plappermaul, nicht einmal Charles oder Antoinette wissen von dieser Idee, ich bitte dich…»

 

«Denkst du an ein Schweizer Unternehmen, willst du DBD gar verkaufen?»

«Der Reihe nach, Papa. Wir haben Erfolg, sind Trendsetterin in vielen Bereichen, dank unseren straffen Sortimenten und unserer Kostenstruktur. Nein, ein Schweizer Unternehmen kommt für mich nicht in Frage, ich mag mich nicht mit Migros & Co. herumschlagen. Aber du stellst Fragen, die ich noch nicht beantworten kann, bis jetzt war das ja kein Thema.»

Der Erfolg von DBD blieb auch im Ausland nicht unbeachtet, was regelmässig dazu führte, dass grössere Unternehmen ihre Fühler nach Thun ausstreckten, wo Rudolphe inzwischen – konsequent wie er schon immer war – die Führung seiner Tochter übergeben hatte.

2007, drei Jahre nach dem Ableben von Henriette und Rudolphe von Greifenbach, kam es nach einstimmiger Zustimmung des Verwaltungsrats zur 51-prozentigen Übernahme von DBD durch die amerikanische Consumer’s Best, die weltweit einen hervorragenden Namen im Detailhandel hatte, weil ihre Tochtergesellschaften in 46 Ländern alle autonom und unter ihrem ursprünglichen Namen am Markt agierten. Das galt auch für die Schweiz, wo DBD ihr erfolgreiches Geschäftsmodell ohne Wenn und Aber weiterführen konnte, als wäre, salopp ausgedrückt, nichts passiert. Einzig Roger P. Newman von Consumer’s Best stiess zusätzlich in den Verwaltungsrat, der somit neu sieben Personen umfasste. DBD Suisse SA wurde weiterhin von Karl Wegmüller präsidiert, Véronique von Greifenbach leitete das Unternehmen als CEO, alle sieben Mitglieder der Geschäftsleitung, vier Frauen, drei Männer, blieben im Amt.

Die Reise nach Mauritius

Die Woche vor der Abreise nach Mauritius erwies sich dank umsichtiger Planung als weniger hektisch wie befürchtet. Auf der Traktandenliste der Geschäftsleitungssitzung vom Montagmorgen waren wie üblich nur jene Punkte aufgeführt, die für alle wichtig waren, alles andere liess sich meist bilateral oder zu dritt besprechen, selbstverständlich mit kurzer Information an die Kolleginnen und Kollegen der Geschäftsleitung. Dies funktionierte nach einem genau festgelegten Raster per Mail, an den sich alle hielten, mit entsprechendem Erfolg. Einzig «wichtig zu wissen» war entscheidend, nicht «nett zu wissen», CCs bei Mails deshalb tabu, Blindkopien ohnehin.

Am Samstag, 27. Juni, liess sich Véronique von Philippe an den Flughafen Kloten fahren und zwar bewusst ohne ihren Laptop mitzunehmen. Auf dem Weg nach Zürich gab es erwartungsgemäss fast nur ein Thema: das Angebot von Jonathan B. Cooks.

«So wie ich meine Frau kenne – und ich kenne sie gut –, hat sie ihre Meinung zur Sache gemacht, die Ferienreise nach Mauritius zur Meinungsbildung ist nur ein Vorwand.»

Véronique musste herzhaft lachen.

«Und hier irrt mein Gatte, mon cher Philippe, ich habe lediglich die Plus- und die Minuspunkte im Kopf, die Meinung ist überhaupt nicht gemacht.» «Wirklich nicht?»

«Nein, wirklich nicht.»

«Hat Jonathan schon etwas zum Finanziellen angedeutet?»

«Chéri, du weisst, dass ich Sachen, die mich interessieren, auch zum Nulltarif mache, Geld steht nicht im Fokus, das weiss Jonathan auch, deshalb vorerst nur das Angebot als Member of The Board.»

«Wegen ‹Bordeaux›, wirst du dich umhören?»

«Ja, klar, ich habe mir die Adresse in Port Louis notiert. Mal sehen …»

Zu reden gaben auch Äusserungen von Véronique, die in letzter Zeit festgestellt hatte, dass ihr Puls aus unerklärlichen Gründen in unregelmässigen Intervallen vorübergehend rasch und heftig anstieg. Der Besuch bei einem Kardiologen, sagte sie nun zu ihrem Mann, habe allerdings «keinen Grund zur Beunruhigung» ergeben, eine genaue Diagnose blieb indes aus.

Wie bei den von Greifenbachs jeweils üblich, traf man zu früh am vereinbarten Ort ein.

«Philippe, fahr du ruhig wieder nach Hause, ich werde in aller Ruhe einchecken und mich dann im Transit umschauen, Dubai ist ja im Bereich Tax-Free inzwischen zum Teil teurer als die Schweiz.»

Philippe fuhr den Maserati von Véronique vor die Abflughalle und besorgte ihr einen Handwagen für die Koffer, worauf sich die Eheleute nach einer langen Umarmung voneinander verabschiedeten. Véronique lief gelangweilt zum mit «Business Class» angeschriebenen Check-In-Schalter von Emirates.

«Möchten Sie die Zeit bis zum Abflug in unserer Emirates Lounge verbringen?», fragte die Mitarbeiterin am Schalter umgehend.

«Nein, danke, ich werde mich in den Geschäften des Transits noch ein bisschen umsehen.»

«Lassen Sie es uns wissen, wenn wir etwas für Sie tun können.»

«Danke, es ist alles arrangiert, der Transfer in Dubai ins Hotel wird vom Burj Al Arab organisiert.»

«Ich werde zur Sicherheit kurz beim Burj Al Arab checken, damit das klappt. Und jetzt wünsche ich einen guten Flug nach Dubai, die Maschine wird pünktlich hier sein und deshalb auch wieder wie vorgesehen abfliegen, um 15.35 Uhr. Geniessen Sie Ihre Zeit in Dubai und dann auf Mauritius.»

Der über sechsstündige Flug nach Dubai kam Véronique gar nicht derart lang vor, vor allem dank der echten Stehbar im hinteren Bereich des Upper Decks, wo sie zweimal für einen Orangensaft vorbeischaute – Alkohol war für sie während einer Flugreise tabu – und wo sie ein längeres Gespräch mit einem etwa 50-jährigen britischen Juristen über die Rolle von Abu Dhabi in Dubai führte.

«Wie gross der Einfluss von Abu Dhabi ist, zeigt sich am heutigen Wahrzeichen von Dubai.»

«Wie ist das zu verstehen?»

«Nun, ursprünglich war vorgesehen, den über 800 Meter hohen Wolkenkratzer Burj Dubai zu nennen, doch jetzt heisst er bekanntlich Burj Khalifa.»

«Und weshalb das?»

«Er ist nach dem Herrscher Abu Dhabis benannt, Scheich Khalifa. Und eben dieser Scheich Khalifa rettete seinerzeit mit einem Kredit von über 25 Milliarden Dollar den benachbarten Staat vor dem finanziellen Kollaps. Scheich Khalifa hat sich den Namen des Turms jedoch nicht mit diesem Geld erkauft – Dubais Herrscher Scheich Mohammad musste den Kredit zurückbezahlen.»

Noch mehr als die Äusserungen des Mannes erstaunte es Véronique von Greifenbach, sonst von Komplimenten verwöhnt, dass der Gutaussehende – ohne Ehering am Finger – absolut keine Anstalten machte, mit ihr zu flirten. Doch ihr konnte das nur recht sein. Sie war mit ihren Gedanken längst anderswo.

Bei der Ankunft in Dubai – und einem 15 Minuten langen Transfer vom Flugzeug zum Terminal, derart gross präsentierte sich der Airport, der im Hinblick auf die Weltausstellung EXPO 2020 zusätzlich ausgebaut wurde (und noch wird) – klappte alles reibungslos, auch der Transfer ins Hotel.


Zwischenhalt in Dubai. Bei Wettbewerben winkt kein VW Golf GTI als Hauptpreis …

Nach einem Kurzaufenthalt in Dubai sass Véronique von Greifenbach keine 30 Stunden später wieder an Bord eines Airbus 380, dieses Mal Richtung Mauritius. Die Reisedauer war praktisch identisch wie jene zwischen Zürich und Dubai. Die Pass- und Zollformalitäten am Internationalen Flughafen – genauer am Sir Seewoosagur Ramgoolam, International Airport of Mauritius – erwiesen sich als effizient und zeitsparend, im Vergleich zu anderen Flughäfen auf dieser Welt, durchaus auch in den USA. Als Véronique von Greifenbach in die Ankunftshalle trat, sah sie schon von weitem einen Herrn mit einer grossen Tafel in der Hand, mit der Aufschrift «Greifenback», was sie jedoch keineswegs störte. Der Chauffeur – er stellte sich als Anthony oder Antoine vor – nahm sich des Gepäcks an und führte sie zu einem schwarzen Mercedes neuerer Bauart.

Unterwegs telefonierte Véronique von Greifenbach, um Philippe ihre Ankunft auf der Insel mitzuteilen, anschliessend führte sie ein zweites Gespräch, wobei Anthony sie regelmässig im Rückspiegel beobachtete. Mit ihren dunkelblonden langen Haaren fiel sie inmitten der Einheimischen, Nachkommen von Einwanderern aus Indien und ehemaligen Sklaven aus Afrika und Madagaskar, auf. Sie hatte sich auf ihren Aufenthalt gut vorbereitet und wunderte sich deshalb, dass Anthony Richtung Hauptstadt fuhr, nach Port Louis, an der Westküste der Insel gelegen.

«Entschuldigung, Anthony, liegt das Crystals Beach Hotel in Belle Mare nicht an der Ostküste?»

«Oui, Madame.»

«Sie aber fahren an die Westküste.»

«Ja, dort liegt das Maritim Hotel.»

«Ich habe aber im Crystals Beach Hotel gebucht, in Belle Mare.»

«Nein, ich muss Sie ins Maritim fahren.»

«Das Crystals Beach ist auch ein Maritim Hotel …»

«Ich denke nicht, dass Sie an die Ostküste wollen, die Zentrale hat mich angewiesen, Sie ins Maritim zu fahren, und das liegt an der Westküste, oberhalb von Port Louis, deshalb fahre ich diesen Weg.»

«So. Anthony, jetzt halten Sie sofort und rufen Ihre Zentrale an.»

Anthony stoppte den Mercedes und tat wie befohlen. Und obwohl des Morisyens, einer vom Französischen abgeleiteten Kreolsprache, unkundig, konnte Véronique aus dem Gespräch unschwer heraushören, dass Anthony eine falsche Spur verfolgte, respektive in die falsche Richtung fuhr. Der Irrtum war aber nicht ihm, sondern der Zentrale anzulasten. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, drehte Anthony sich zu «Madame Greifenback» um, mit vielen entschuldigenden Worten. Sie lächelte versöhnlich. Immerhin kam sie durch das Missverständnis in den Genuss einer kleineren Inselrundfahrt.

Beinahe zwei Stunden nach ihrer Ankunft am Flughafen empfing sie im Crystals Beach Hotel der Resident Manager, Michael Hacker, ein Thurgauer aus Weinfelden, der aber Véroniques Bruder Charles, ebenfalls in Weinfelden wohnhaft, nicht kannte. Er wusste über das Malheur bereits Bescheid und entschuldigte sich seinerseits nochmals in aller Form, obwohl unschuldig im Sinne einer nicht erfolgten Anklage. Er lud Véronique von Greifenbach zu einem Glas Champagner ein und zeigte ihr persönlich die Hotelanlage.

«Wir haben Ihnen ein wirklich schönes Zimmer reserviert, eine Junior-Suite mit fantastischer Aussicht auf Palmen und Meer.»

«Liegt es an ruhiger Lage?»

«An sehr ruhiger Lage, etwas abseits, Privatsphäre garantiert.»

«Das freut mich sehr, danke vielmals.»

«Gerne. In Ihrem Arrangement ist ja auch eine Inselrundreise inbegriffen …»

«… die ich zum Teil bereits hinter mir habe …», antwortete Véronique von Greifenbach belustigt.

«Dem kann man so sagen, wirklich. Für morgen ist schönes Wetter angesagt, wollen Sie nicht …»

«… nur morgen, dann nicht mehr?»

«Doch, doch, ich kann Sie beruhigen, es bleibt schön. Von Gästen weiss ich, dass so eine Rundfahrt zu Beginn der Ferien besser ist als noch schnell zum Schluss. Die ganze Insel zu erkunden liegt zeitlich nicht drin. Ich empfehle Ihnen die Nord-Tour mit Besuch in Port Louis, die Süd-Tour können Sie ja nächste Woche buchen.» «Das tönt sehr gut, das wäre also am Dienstag, 30. Juni, ich bringe im Moment noch die Tage durcheinander …»

«Keine Angst, das passiert vielen Gästen, die neu ankommen», sagte Michael Hacker, nun vor dem Gebäude, wo sich Véroniques Zimmer befand und wohin ihre beiden Koffer bereits gebracht wurden. «Ja, wir sprechen vom Dienstag, 30. Juni, morgen also. Der Chauffeur – er heisst Jaidev – erwartet Sie um neun Uhr in der Lobby. Und jetzt lasse ich Sie das Zimmer beziehen. Falls Sie etwas benötigen, können Sie sich jederzeit an die Réception wenden. Am besten fragen Sie nach Anabelle oder Delphine. Und Sie haben ja ‹all inclusive› gebucht, können Ihr Portemonnaie also gut in den Zimmersafe legen.»

«Danke. Sie werden ja noch anderes zu tun haben als mich zu betreuen.»

Mit diesen Worten verabschiedete man sich. Wenige Augenblicke später konnte sich Véronique von Greifenbach selber ein Bild ihres Zimmers machen. Michael Hacker hatte nicht übertrieben. Die kleine Suite war wirklich vom Feinsten, im zweiten Stock gelegen. Nachdem sie die Koffer ausgepackt und sich umgezogen hatte, schnappte sie sich ihr zweites Handy für sehr Privates und wählte eine Nummer.

«So, Liebster, ich wäre schon mal hier, jetzt warte ich bloss noch auf dich.»

«Ich komme übermorgen Mittwoch, über Paris, mit Air France.»


In diesem Zimmer des Crystals Beach Hotel auf Mauritius wohnte Véronique von Greifenbach.

 

«Das trifft sich gut, ich gehe morgen auf Inseltour, um mir die Wartezeit zu verkürzen.»

«Wie ist das Hotel?»

«Sehr schön, mit einem grooossen Bett. Und innerhalb der Anlage etwas abgelegen, da merkt kein Mensch, dass wir das Zimmer zeitweise zu zweit benutzen. In Dubai habe ich übrigens bei Victoria’s Secret einige sehr reizvolle Dessous gekauft …»

«Oh, là, là … Ich werde versuchen, dich nicht zu enttäuschen.»

«Da habe ich aber überhaupt keine Bedenken …», antwortete sie.

«Ich nehme mir pro forma ein Zimmer im Hotel Ambre, gleich neben dem Crystals Beach gelegen, damit wir uns alle Optionen offenhalten können», sagte er lachend.

«Du bist ein Schlingel, melde dich sofort, wenn du da bist, ich freue mich so …»

«Das geht mir gleich. Also, bis übermorgen, ich bin schon ganz aufgeregt.»

«Und ich erregt, wenn ich nur schon deine Stimme höre. »

Mit anderen Worten: Véronique von Greifenbach hatte ein gut gehütetes Geheimnis, von dem niemand etwas wusste, ja, nicht einmal erahnte. Seit mehr als einem Jahr schon. Dass ihr Puls in diesem Moment plötzlich wieder verrückt spielte, führte sie auf das soeben geführte Gespräch zurück – und in Gedanken lag sie bereits mit ihrem Lover im Bett und liess sich wie immer von ihm verführen, auch mit vulgären Flüstereien ins Ohr, etwas, das sie mit Philippe nie erlebt hatte. Fast hätte man sagen können, dass sich Véronique selber total enthemmt erlebte, wenn sie mit ihrem Geliebten zusammen war. Und dies nicht bloss während einer halben Stunde. Sie konnte es kaum erwarten, bis er am Mittwoch anrufen würde.

Im Einteiler, der ihre noch immer fantastische Figur perfekt zur Geltung brachte, machte sie sich auf an den Beach, um sich im Wasser abzukühlen.

Den Rest des Montags verbrachte Véronique am wunderschön gelegenen Strand. Das Wetter war traumhaft, bei 28 Grad, nur der Wind – zu dieser Jahreszeit an der Ostküste üblich – vermochte ein perfektes Sonnenbaden etwas zu trüben. Beim Strandspaziergang lief sie auch am Hotel Ambre vorbei. Allein der Anblick des Hotels inspirierte sie zu erotischen Fantasien. Und wieder stieg ihr Puls an. Nur gut, hatte sie sich entschieden, bereits morgen eine Inseltour zu unternehmen, zudem mit einem Aufenthalt in Port Louis, wo sie einen Besuch eingeplant hatte.

Vom langen Tag müde geworden – der Abflug in Dubai fand bereits um 3.20 Uhr statt –, suchte sie gleich nach einem reichhaltigen indischen Abendbuffet relativ früh ihr Zimmer auf. Von dort aus telefonierte sie mit Philippe, der seiner Frau eine gute Nacht wünschte. Diese gab sich anschliessend sinnlichen Träumen hin, in denen Philippe allerdings nicht vorkam.

Nach dem Frühstück im offenen Pavillon begab sich Véronique von Greifenbach am Dienstagmorgen zur Réception, wo Jaidev bereits auf sie wartete. «Bonjour Madame. Ich freue mich, Ihnen einen Teil der Insel zeigen zu dürfen. Sagen Sie mir bitte, was Sie genauer sehen wollen.»

«Jaidev, Sie gefallen mir!», lachte sie. «Sie kennen Mauritius, Sie wissen, was sehenswert ist. Ich habe volles Vertrauen, dass Sie mich begeistern werden.»

«Ich habe die Nordküste vorgesehen, den Botanischen Garten und die alte Zuckerfabrik in Pamplemousse, einen Teil der Westküste, und zum Schluss Port Louis.»

«Das passt. Vor allem Port Louis interessiert mich. Können Sie dort in der Nähe des Blue Penny Museums parkieren?»

«Das ist gar kein Problem.»

«Und noch ein Wunsch …»

«Gerne.»

«An der Westküste liegt offenbar ein Maritim Hotel, könnte ich mir das anschauen?»

Jaidev lächelte.

«Weshalb lachen Sie?»

«Anthony arbeitet in unserer Firma, er hat uns gestern von seinem Missgeschick erzählt …»

Augenblicke später fuhr der Lexus ab, um wenige Kilometer später bereits anzuhalten, im Ort Trou d’Eau Douce.

«Madame, von hier aus», der Chauffeur zeigte mit der Hand in Richtung der Bucht, «können Sie eine Bootsfahrt zur Ile aux Cerfs buchen, mit einem der schönsten Strände der Welt.»

«Davon habe ich bereits gelesen, danke für den Hinweis.»

Im Gedanken sah sie sich bereits mit ihrem Geliebten über den Strand laufen.

Sie konnte sich kaum auf den Botanischen Garten mit seinen riesigen Seerosen oder auf die alte Zuckerfabrik in Pamplemousse einlassen. Véronique sehnte nicht nur den Mittwoch herbei, sondern auch den bevorstehenden Besuch in Port Louis. Unterwegs holte sie der Chauffeur aus ihren Träumen heraus.

«Hier sind wir also vor dem Maritim Hotel in Balaclava, Terre Rouge.»

Véronique von Greifenbach hatte nicht einmal bemerkt, wie Jaidev ins Hotelgelände gefahren war.

«Sieht ganz schön aus, hier …»

«Oui, Madame. Ein Luxushotel der Sonderklasse, mit einem Stern mehr als das Crystals Beach. Das Gelände ist 25 Hektar gross. Spielen Sie Golf?»

«Nein, das tue ich nicht.» Am liebsten hätte sie mit «Nein, ich habe noch Sex, und wie!» geantwortet, empfand den Spruch aber dann doch als wenig passend.

«Hier befindet sich auch das beste Restaurant der Insel, das Château Mon Désir.»

«Was für ein passender Name», dachte sie, «ich werde ihn hierher einladen, samt einer Übernachtung in einer sündhaft teuren Suite.» Sie wunderte sich nicht, dass ihr Herz wieder schneller zu schlagen begann.

«Danke, sehr schön. Und jetzt nach Port Louis, bitte.»

«Oui, Madame.»

Eine halbe Stunde später hielt der Lexus vor dem Blue Penny Museum in Port Louis, angrenzend an die Caudan Waterfront, die Einkaufsmeile des Hauptortes, der von der Zitadelle Fort Adelaide überragt wurde.

«Gibt es ein Restaurant, das Sie mir empfehlen können?»

«Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Eines der Restaurants entlang der Waterfront, da essen Sie gut – und auch preisgünstig. Zudem können Sie dem Treiben zuschauen. Aber vor einem muss ich Sie warnen …»

«Nämlich?» Véronique schien auf einmal beunruhigt.

«Um fünf Uhr ist hier – wie sagt man bei Ihnen? – tote Hose. Sobald es dunkel wird, schliessen die Geschäfte. Mit anderen Worten: Wenn Sie die berühmten Märkte an der Rue de la Reine erleben wollen, den Bazaar, sollten Sie zwischen drei und vier Uhr hingehen, sonst herrscht bereits Aufbruchstimmung.»

«Danke, das werde ich mir merken. Können Sie mich also um … sagen wir halb fünf Uhr am Eingang der Champs de Mars abholen, der Pferderennbahn?»

«Oui, Madame, das passt. Viel Vergnügen. Und verpassen Sie auf keinen Fall einen Besuch im Blue Penny Museum. Dort sehen Sie eine der berühmtesten Marken auf der Welt, die Blaue Mauritius, und ihre kleine Schwester, die Rote Mauritius.»

«Oder immerhin Kopien davon», dachte Véronique.

«Merci beaucoup, das werde ich tun.»

Im Grunde genommen hatten beide recht, was die Marken anging. Um die Qualität der Raritäten vor Lichteinfluss zu schützen, wurden die Originale pro Stunde nur gerade zehn Minuten gezeigt, jeweils im Stundentakt ab 10.30 Uhr. Was dazu führte, dass jeweils zur halben Stunde vor der Vitrine im ersten Stock ein grosses Gedränge herrschte. In der übrigen Zeit bekamen die Besucherinnen und Besucher Kopien zu sehen, die von den Originalen allerdings nicht zu unterscheiden waren.

Véronique von Greifenbach hatte im Museum aber ganz etwas anderes im Sinn.

«Bonjour, Chantal de Senarclens. Ich habe eine Verabredung mit dem Direktor. Können Sie ihm mitteilen, dass ich hier bin, bitte?», stellte sie sich nun am Souvenirkiosk im Parterre des Museums vor.

«Monsieur le directeur ist im Moment ausser Haus, er sollte aber in einer Viertelstunde wieder hier sein. Möchten Sie in der Zwischenzeit ins obere Stockwerk, die Marken anschauen?»


Das Blue Penny Museum in Port Louis, zu Ehren der Blauen Mauritius.

«Nein, danke, ich schaue mich hier bei den Souvenirs um», antwortete von Greifenbach, zum grossen Erstaunen der Museumsmitarbeiterin, waren Touristen doch sonst besessen davon, die beiden Marken zu sehen.

Was niemand wusste, und weshalb Véronique sich eines falschen Namens bediente: Philippe war durch einen Onkel zweiten oder dritten Grades und dessen Beziehungen zu einem ehemaligen Bürgermeister von Bordeaux im Besitz einer ungestempelten Blauen Mauritius, von deren Existenz aber ausser Philippe und Véronique seit dem Tod ihrer beider Eltern niemand wusste. Die Marke lag in einem Banksafe bei jener Pariser Grossbank, in deren Dienste Philippe stand. Die Eheleute hatten nicht vor, mit dieser philatelistischen Sensation Kasse zu machen, vielmehr interessierte sie, was die Nachricht von einer fünften ungestempelten Blauen Mauritius auslösen könnte. Denn heute, dies hatte Philippe hatte am Abend vor Véroniques Abreise im Internetlexikon Wikipedia kurz nachgeprüft, gab es noch vier ungebrauchte Blaue-Mauritius-Marken, die sich im Privatbesitz von Queen Elisabeth II, im Museum voor Coommunicatie in Den Haag, in der British Library in London und eben im Blue Penny Museum in Port Louis befanden.